Hören und gesehen werden

Eddy war der erste im ganzen Viertel, der einen Walkman besaß. Den hatten ihm die Eltern geschenkt, den unterwegs Musik zu hören, lag in der Familie. So war Charly, Eddys Vater, in den Sechzigerjahren derart fasziniert von diesen handlichen Transistorempfänger mit Ohrhörer, dass er zum Radiobastler wurde. Unter anderem erfand er ein wasserdichtes Radio, indem er die nötigen Bauteile in einer Seifendose montierte, die er hermetisch abdichtet. Selten sah man Charly ohne sein handflächengroßes Transistorradio am Ohr. Wir waren alle sehr neidisch auf Eddy, der auf seinen Rollerskates durch die stillen Straßen des Vororts kurvte und sich zu Klängen bewegte, die nur er hören konnte. [Lesezeit ca. 4 min] „Hören und gesehen werden“ weiterlesen

Jeder kriegt, was er verdient

Mein Freund Börnie ist ein Hallodri, Bruder Leichtfuß hätte man ihn früher vielleicht genannt. Und weil er irgendwie immer durchkommt, ist er für mich der Protoytp eines Lebenskünstlers. Wir kennen uns schon seit fast dreißig Jahren. Damals hatte einer seiner Frauen, mit der eine Tochter hatte, das Kind in derselben Kita wie ich meinen Sohn. Da sah man sich häufiger, denn Börnie ließ es sich nicht nehmen, Linda, so der Name des Kindes, öfters abzuholen, obwohl er mit der Mutter längst nicht mehr zusammen war. Außerdem war da noch der wöchentliche Elternabend, schließlich handelt es sich um einen selbstverwalteten Kindergarten. [Lesezeit ca. 9 min] „Jeder kriegt, was er verdient“ weiterlesen

Unterwegs mit dem Örtzel

Damals als wir noch in der Nähe des F.-Parks wohnten, gab es in der Nachbarschaft einen kleinen, dicken Mann, der Tag für Tag auf den Straßen unterwegs war. Weil er mit lauter Stimme jeden ansprach, der ihm begegnete, konnte man ihn schon von Weitem hören. Zumal er mit hoher Kinderstimme redete und mit einer regionalen Färbung, die ich nie so ganz zuordnen konnte. Offensichtlich wusste der Kerl, den Alteingesessene den Örtzel nannten, viel über die Leute in seiner Gegend, denn er stellte bei den Begegnungen ziemlich spezifische Fragen nach ihrem Tun und Treiben. Dabei blieb er immer einigermaßen ernst, ich habe ihn in all den Jahren nie lachen hören oder grinsen sehen. Selbst Lächeln gehörte wohl nicht zu seiner Mimik. [Lesezeit ca. 4 min] „Unterwegs mit dem Örtzel“ weiterlesen

Hans, der Mathematiker

Hans, der Mathematiker, lebte und arbeitete in einer ehemaligen Garage in einem Hinterhof an der H.-Straße. Wer war wohl seit vielen Semester für das Lehramt eingeschrieben, verdiente seinen Unterhalt aber mit Fahrradreparaturen. Im hinteren Teil gab es Tisch, Bett und Stuhl, vorne, abgetrennt durch ein raumhohes Stahlregal betrieb er seine Werkstatt. Seine Freundin hieß vermutlich Ella und räkelte sich meistens nackt oder leicht bekleidet auf der Pritsche im Wohnbereich. Hans war nicht nur ein Meister seines Faches, sondern ein Magier. [Lesezeit ca. 4 min] „Hans, der Mathematiker“ weiterlesen

Die bunte Frau

Wir sehen einen Rücken, der aus schmalen Hüften wächst und in einem delikaten Nacken auslüft. Darüber ein Helm Haare in der Farbe geschälter Karotten. Die Wirbelknochen und die Schulterblätter sind gut erkennbar. Die helle Haut ist übersät mit ockerfarbigen Flecken. In der Schule wurde Elisabeth nicht wegen ihrer roten Haare gehänselt, sondern weil sie lang und dürr war. Das in einer Zeit als Kinder noch das Wort Bohnenstange benutzten. In den heißen Sommern ihrer Kinder- und Jugendjahre erblühten ab Mai die Sommersprossen. Immer mehr wurden es bis im September kaum noch die weiße Haut, die sich durch das Sonnenlicht kein bisschen bräunte, zu sehen war. [Lesezeit ca. 4 min] „Die bunte Frau“ weiterlesen

Sag einfach nichts

Von Anfang an hab ich Ivo total vertraut. Wenn der gesagt hat, das machen wir so und so, dann hab ich genickt, und dann haben wir das so gemacht wie er gesagt hat. Denken Sie aber nicht, ich wäre so eine naive, dumme Nuss, die macht, was so’n Typ befiehlt, weil der stärker ist, schlauer und älter. Mein Vertrauen kommt aus Erfahrung. Hab ganz schön viel Erfahrung mit Menschen, weiß praktisch immer sofort, ob man einem vertrauen kann oder nicht. Mein Vertrauen in Ivo hat sich auch immer ausgezahlt in den zweieinhalb Jahren. Wir sind uns in einem leerstehenden Haus in R. begegnet, wo ich Platte machen wollte. War so ein Geheimtipp bei den Mädels. Da kommt nie jemand hin, schon gar kein Mann, da bist du safe, hatte Pinky gesagt. [Lesezeit ca. 5 min] „Sag einfach nichts“ weiterlesen

Wandelbar

Weit nach Mitternacht verließ Kaltenburg den Gasthof, um den Hang zu besteigen, der sich westwärts erhob. Hinterm Haus überquerte er den Bergbach. Die Neumondnacht war sternenklar und windstill. Er trug eine Stirnlampe, die beunruhigende Schatten im Rhythmus seiner Schritte warf. Im Unterholz hörte er das Raunen und Wispern verschiedener Tiere. Zunächst wand sich der Pfad durch Buschland, dann durch ein lichtes Gehölz mit niedrigen Bäumen. Unter den hohen Tannen und Fichten begann ein schnurgerader Weg aufwärts zum Kamm. [Lesezeit ca. 2 min] „Wandelbar“ weiterlesen

Der Furz des Lebens

Wir sehen Onkel Gerd wie er lässig und leicht zurückgelehnt in einem windschiefen Campingstuhl in der Sonne sitzt. Er trägt ein beinahe weißes Unterhemd und eine verwaschene, dunkelgrüne Turnhose, von der er sagt, die sei ein Teil seiner Wehrmachtsausrüstung. Rund um den Tisch stehen und sitzen seine Brüder mit ihren Frauen, sein bester Freund und Bekannte, die ihn sonntags im Schrebergarten besuchen. Kinder spielen zu seinen Füßen. Er hat eine Zigarette in der Hand und grinst in die Kamera. [Lesezeit ca. 9 min] „Der Furz des Lebens“ weiterlesen

Nicht länger als

Auf dem Boden liegen. Atmen. Die Arme neben dem Körper, die Handflächen nach oben. Auf einem Teppich. Träumen. Nie länger als eine halbe Stunde. Langsamer Übergang in eine sitzende Position. Mit den Händen über das Gesicht streichen. Die Gerüche wahrnehmen. Sich erinnern. Alles, was du bist, bist du seit gestern. [Lesezeit ca. 5 min] „Nicht länger als“ weiterlesen

Die Nadel

Keine Ahnung, wie ich hier hochgekommen bin. Wundert mich auch, dass hier an der Spitze dieses eigenartigen Bauwerks ein Sitz angebracht ist. Man hat mich zum Glück angeschnallt. Und gut, dass ich keine Höhenangst habe, denn in gut fünfundsiebzig, achtzig Metern auf der Spitze einer Nadel zu hocken, ist nichts für furchtsame Gemüter. So überblicke ich die Stadt, die selbst aus dieser Höhe bis über den Horizont hinausreicht. Es geht ein leichter Wind, und die Nadel bewegt sich erstaunlicherweise nicht ein bisschen. Muss an der Konstruktion liegen, wozu immer die gut sein mag. Nur daran, wie ich wieder herunterkommen, darf ich nicht denken. „Die Nadel“ weiterlesen

Ein pinkes Plastikpony

Gerade habe ich Wasser nachgefüllt. Keyla steht in der verbeulten Zinkwanne, während ich die Gießkanne halte. Ich sehe Leissa in ihr. Als ich meine Frau kennenlernte, war sie kaum drei Jahre älter als meine Tochter jetzt. Ein Jahr später habe ich sie zum ersten Mal geschwängert. Sie sind sich ähnlich. Ich kann erkennen, wie Keyla als Erwachsene aussehen wird. Jetzt sitzt sie wieder im Wasser und wäscht ihre Spielfiguren, die sie nachts auf einem Brett neben ihrem Bett abstellt: ein Playmobil- und ein Lego-Männchen, eine He-Man-Figur, eine Barbie und das Wunderpony, das ich ihr neulich mitgebracht habe. [Lesezeit ca. 3 min] „Ein pinkes Plastikpony“ weiterlesen

Nicht leichtgemacht

„Ich habe es mir im Leben nicht leichtgemacht,“ sagte Spinks, senkte den Kopf ein wenig und schloss die Augen als sei er erschöpft. „Das sagt er immer,“ merkte Thibaud an und verzog das Gesicht. Wir kannten die Geschichte der beiden, zumindest Thibauds Sicht der Dinge, denn er hatte uns vor Längerem von Spinks erzählt. Sie hatten sich damals in einer dieser Szenekneipen kennengelernt und beschlossen, sich beim Pipeline-Bau in Alaska zu verdingen. Es hieß, hatte Thibaud erklärt, da könne man in ein paar Monaten ein Vermögen verdienen; zwar sei der Job hart, aber für 3000 Dollar die Woche müsse man eben mal etwas aushalten. Viele Kerle redeten in jenen Jahren von dieser Sache, ohne dass wirklich eine nennenswerte Anzahl tatsächlich in den Norden Amerikas zog. Bei Spinks und Thibaud gab es aber einen gewichtigen Grund: Sie wollten einen Verlag gründen, ein Medienhaus für sozialistische Zeitungen, für linke Bücher, die sonst niemand druckte. Sie wollten aktiv an der Revolution mitarbeiten. Sie rechneten damit, mehr als 100000 Dollar zu verdienen und spätestens nach einem halben Jahr zurückzukehren. „Nicht leichtgemacht“ weiterlesen

Noch im Winter

Es war das letzte Haus in der äußersten Siedlung im Vorort der Kleinstadt, unmittelbar angrenzend an die Felder und Weiden der Großbauern, deren Höfe jenseits des Waldstücks lagen, auf das wir aus dem Küchenfenster und dem Bad blickten. Die Straße war bis zur Garagenauffahrt asphaltiert und ging dann zunächst in eine Schotterstrecke und zwanzig, dreißig Meter weiter in einen Feldweg über, der in sanften Bögen zwischen den Äckern zum Busch führte und dort ohne besonderen Grund endete. Gästen, die mit dem Auto anreisten, sagte der Vater immer, sie sollten bedenken, dass man vor unserem Haus nicht wenden könne. Den Garten hatte er mit einem außergewöhnlich hohen Zaun umgeben lassen, und es kam mir immer so vor, als habe er das nicht getan, um unser Grundstück zu schützen, sondern um eine deutliche Grenze zwischen der Zivilisation und der aus seiner Sicht rauen Wildnis zu markieren, denn er war Zeit seines Lebens ein sehr urbaner Mensch. „Noch im Winter“ weiterlesen

Seine Freundin

Stell dir einen Typ am Biertisch vor. Anfang Fünfzig, eine ordentliche Wampe über ziemlich dünnen Beinen, imposanter Schädel, dichter, schwarzer Vollbart und eine dicke Brille mit dunklem Gestell. Nennen wir ihn Matthias. Wie er da so am Stehtisch draußen vor der Hausbrauerei steht und sein Bier trinkt. Er war mein Freund, und ungefähr einmal im Monat trafen wir uns da, um miteinander zu reden. Selten oder nie ging es um persönliche, um private Dinge. Meistens erzählten wir uns Geschichten über Ereignisse, die wir miterlebt oder beobachtet hatten, oder über die politische Situation oder was uns sonst aufgefallen war. Eigentlich sind wir erst sehr spät Freunde geworden. Über Jahre waren wir Kollegen, im Beruf auch Kontrahenten, aber im Streit lagen wir nie miteinander. Matthias hatte seine berufliche Laufbahn unter meiner Leitung begonnen. Später war er bei einem großen Unternehmen angestellt, während ich freiberuflich wirkte. Einige Male, eine Zeit lag sogar regelmäßig, schob er mir Aufträge zu. „Seine Freundin“ weiterlesen

Nicht mein Typ

Es war von Anfang an klar, dass wir Sex miteinander haben würden. Dabei war sie nicht mein Typ, und ich – wie ich später erfuhr – auch nicht ihrer. Im Gegenteil. Wir begegneten uns im Rahmen einer ziemlich großen Familienfeier, von der wir den größten Teil verpassten. Ich war der Einladung gefolgt, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, ob und wie ich mit den Gastgebern verwandtschaftlich verbunden war. So war ich auch gar nicht erst zu dem Teil der Feier gegangen, die am Morgen stattgefunden hatte, irgendeine Taufe, Trauung oder Beerdigung. Das Fest am Nachmittag, das man irgendwo auf einem idyllischen Gutshof organisiert hatte, den man für so etwas mieten konnte, hatte ich mir auch geschenkt; es wären mir vermutlich zu viele Kinder dort gewesen. Also fand ich mich erst zur Party ein, so gegen elf. „Nicht mein Typ“ weiterlesen