Handke

Keiner von uns glaubte damals, dass Walter schwul sein könnte. Wir nahmen nur die besondere Beziehung zum gemeinsamen Klassenkamerad Dieter wahr. In jenen Jahren kannten wir keine Schwulen. Wir wussten nur so ungefähr, was Wörter wie schwul und homosexuell bedeuteten. Mein Vater sagte über einen Kollegen, der sei vom anderen Ufer, und grinste leicht verschämt. Onkel Eberhard sprach von warmen Brüdern, die mit der flachen Hand bügeln könnte. Mein großer Bruder erklärte mir seinerzeit, es handele sich um Männer, die nur auf Männer scharf seien – für mich vollkommen unvorstellbar. Wie könnte man sich nicht in diesen wunderbaren Wesen mit Rundungen und Mündern und Augen verknallen, zum Beispiel in Gisela, Monika, Christel oder Yvonne? Aber insgesamt war Schwulsein kein Thema für uns. „Handke“ weiterlesen

21 Knöpfe

Wir waren beide nicht passend zum Anlass gekleidet. Die Bildungsbürger hatten sich feingemacht, und die betroffenen Künstler waren entsprechend ihres jeweiligen Markenkerns kostümiert. Man hatte eine viel zu große Location gewählt, sodass sich die vielleicht zweihundert Gäste im Saal verloren. Da hatte ich es vorgezogen, die Fotos von der Empore aus per Tele zu schießen. Ich lehnte gerade an einer der tragenden Säulen und wartete auf den nächsten Redner. Da sah ich sie fünf Säulen weiter stehen. Halbverdeckt vom Stützwerk, nur das Profil und die Linie ihrer Figur war sichtbar. Ein besonders auffällig kostümierter Künstler betrat das Podium, Beifall brauste auf, und sie trat vor. Sah mich aus den Augenwinkeln, erstarrte kurz, drehte sich dann zu mir um und musterte mich. Ihr Blick traf mich voll auf die Zwölf. „21 Knöpfe“ weiterlesen

Stabile Seitenlage

Zwei Drittel meines Blickfelds nimmt ein schillerndes Grau ein. Etwas wie ein rissiger Estrich. Ich liege auf der Seite, der Kopf auf der linken Wange. Oben bewegen sich unscharfe Menschen. Hören kann ich nichts, weil da ein stetiger Pfeifton in meinen Ohren ist. Versuche die Leute zur Hilfe zu rufen. Strenge mich an, aber aus meinem Mund kommt nur ein verschwommenes Raunen. Dann mein linker Arm, steckt unter meinem Körper fest. Ich spüre nichts unterhalb des Ellenbogens. Versuche ihn trotzdem hervorzuziehen. Bin ich gelähmt? Was ist gebrochen? Es riecht nach frischem Blut. Meine Erinnerung: Wie ich unter dem Hallendach über die Streben klettere. „Stabile Seitenlage“ weiterlesen

Höller blickt zurück

Nun sitzt er da und denkt über sein Leben nach. Das Familienfest ist in vollem Gange, aber das blendet er aus, wenn ihm Verwandte auf deprimierend tröstliche Art die Hand auf die Schulter oder den Unterarm legen. Oder wenn ihn junge Frauen auf die Wange küssen. Das müssen Enkelinnen sein, denn seine Töchter sind auch schon alt. Aus der Höhe des Alters sieht man vor allem Enttäuschungen und Niederlagen, denkt Höller. Wobei er das Alter auch nicht als Gipfel sieht, sondern eher als Schacht, der tief in die Erde führt, in dem man langsam versinkt und unsichtbar wird. Die Jugend dagegen, denkt er, ist bestimmt von Hoffnungen, Erwartungen und Plänen. Er kann sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal einen Plan gemacht hat in der Hoffnung, er können aufgehen. An Elisabeth kann er sich erinnern, sehr gut erinnern. Ihr Gesicht kann er sich jederzeit an jedem Ort vor Augen holen. Und ihr jugendlicher Körper aus den guten Jahren ist ihm so vertraut, dass er ihre Haut spüren und riechen kann. „Höller blickt zurück“ weiterlesen

Katarakt

Eines Tages kletterte Moritz dann doch die Leiter an der Rutsche auf dem Spielplatz hinauf, vierzehn Sprossen. Als er oben angekommen war und auf dem Absatz stand, begann es seinen Waden zu kribbeln und sein Skrotum zog sich zusammen. Da war er vier Jahre alt. Ihm wurde schwindlig, und er bekam keine Luft mehr. Beim Sturz in die Sandgrube brach er sich den rechten Fuß, und es dauerte acht Wochen bis er wieder richtig gehen konnte. Zweiundzwanzig Jahre später lernte er Sara kennen und verliebte sich sofort in sie. Für dich würde ich alles tun, sagte er eines Tages. Ihr gefiel der schüchterne Mann mit den langen dunklen Haaren und den kleinen zärtliche Händen sehr, also wurden sie ein Paar. Dann wurden beide berufstätig, und ihr gemeinsames Leben verlief in ruhigen Bahnen. „Katarakt“ weiterlesen

Vater, mein Vater

Wer mich kennt, weiß, dass ich ein ausgeglichener, entspannter Mensch bin. Es braucht schon einiges, damit ich mich aufrege. Okay, wenn ich im Stress bin, können mich auch schon einmal kleinere Dinge aus der Fassung bringen. Besonders, wenn meine Sachen nicht da sind, wo sie hingehören. Oder wenn mir jemand dazwischen quatscht. Nicht liegt mir außerdem ferner, als die Schuld immer bei anderen zu suchen. Deshalb soll das hier auch keine Rechtfertigung sein, keine Entschuldigung oder so etwas. Dass ich Ulrike rausgeschmissen habe, ist Fakt. Aber auch Schnee von gestern. Kann man nicht mehr ändern. Ist einfach so. „Vater, mein Vater“ weiterlesen

Vielleicht ein Hund

Manchmal steht Ester nachts auf, tritt hinaus auf die Veranda und weint ein bisschen. Eckart bekommt davon nichts mit; der liegt da wie ein Baumstamm am Fluss und schläft. Wenn der Mond scheint oder wenn bereits der Morgen dämmert, holt sie sich bisweilen ein kleine Glas Wein aus der Küche und raucht eine Zigarette, während sie in den Garten schaut. Eigentlich könnte sie sehr glücklich sein im Holzhaus am See, das ihr Geliebter für die nach ihren Vorstellungen erbaut hat. So wie er in all den Jahren schon so viel für sie getan hat. Doch nichts davon konnte ihre Trauer ganz besänftigen. Vielleicht, denkt sie manchmal, fehlt mir ein Hund. Katzen gibt es genug auf dem Grundstück. Verwilderte Tiere ohne Moral, die sich nur an sie heranmachen, weil sie hoffen, Fressen zu ergattern. Und der alte Esel, den Eckart einem Wanderzirkus abgekauft hat, hasst sie, versucht sie zu beißen und zu treten. „Vielleicht ein Hund“ weiterlesen

Zimmer ohne Türen

„Weißt du was eine Tapetentür ist?“ Sie hat sich im Bett aufgesetzt, das Kissen zurechtgeboxt und es hinter den Rücken gesteckt. „Stell dir einen Raum vor mit einer gemusterten Tapete. Sitzt du drin, kannst du keine Tür erkennen.“ Rouven knurrt. Wie er immer knurrt, wenn Susanne etwas erzählt, wenn er beinahe schläft. Wie sie immer etwas erzählt nach dem Beischlaf, wenn er kurz vor dem Einschlafen ist. Sie hat das aufgeschlagene Buch auf dem Schoß und nimmt die Brille ab. „Ich stell mir das schrecklich vor.“ Er dreht sich um und schaut aus dem Kissen zu ihr auf: „Steht das in deinem Buch?“ Susanne schüttelt den Kopf. „Wie kommst du denn jetzt auf sowas?“ „Zimmer ohne Türen“ weiterlesen

Gleise

„Steh endlich auf!“ Neven liegt im Schotterbett auf dem Bauch, ein Ohr an der Schiene. „Hier fährt seit Jahren kein Zug mehr,“ sagt Eva. Im verwaisten Hafen bläst eine Sirene zur Mittagspause. Keine Arbeiter, die ihr folgen könnten. „Sie kommen, sie kommen,“ murmelt Neven. Sie kann es nicht hören, weiß aber, dass er diesen Satz immer zweimal nacheinander sagt. Der lange, dünne Kerl im dunkelblauen Overall. Eine Wolke zieht an der Sonne vorbei und wirft einen Schattenkegel auf das Paar. Sie liebt ihn sehr. Er scheint sie auch sehr zu lieben, aber genau weiß sie es nicht, weil er darüber nie mit ihr spricht. Überhaupt redet er eigentlich nur von der Vergangenheit und dass alles in der Zukunft wiederkehren wird. Manche sagen, Neven sei geistig nicht gesund. Eva weiß es besser. „Gleise“ weiterlesen

Almas Bilder

Sie will ihn malen, will ihn zeichnen, will ihn in Ton formen. Oder: bemalen, schminken, tätowieren. Denn fotografiert hat sie ihn schon. Als er beim Shooting der neuen Kollektion von Daniell alle Stücke vorführte, die Männerkleidung und die Sachen für Frauen. Was Alma nicht gefällt: sein Name. Pim… Ist das eine Abkürzung? Oder ein Spitzname? Tatsächlich heißt er Willem Erasmus Steernema-Stückinger, das hat sie mit ein wenig Recherche herausgefunden. Sohn einer deutschen Mutter und eines niederländischen Vaters mit molukkischen Wurzeln. Jetzt sitzt er ihr schräg gegenüber in der Lounge. Man sagt über Pim, er sei nicht besonders helle, und tatsächlich scheint sein Blick hohl, abwesend. Sein Mund ist ein wenig geöffnet. Könnte sein, dass ein wenig Spucke in den Lippenwinkeln hängt. Sie beobachtet ihn genau und ahnt, dass er das mitbekommt. Nun zieht der die ausgebeulte, knielange Jacke aus grobem Strick eng um sich herum zusammen und hebt auch das zweite Bein auf die Sitzfläche. Er trägt hellblaue Ballerinas an den Füßen, in der rechten Sohle klafft ein Loch. „Almas Bilder“ weiterlesen

Liebe Dreizehn

Als meine Tochter am frühen Abend weinend heimkam, war sie dreizehn Jahre, drei Monate und elf Tage alt. Ich habe das später nachgerechnet. Und ich ahnte, was geschehen war. Dass es mit diesem großgewachsenen, hübschen Burschen zu tun hatte, war mir auch klar. Denn nicht nur Leonie war verliebt in ihn, ich, wenn auch auf eine andere Art, auch. Wie kann auch ein junger Mann von knapp siebzehn Jahren auch so attraktiv sein und so viel Charisma haben? Singah war Teil dieser Hippie-Familie, wie sie in der Nachbarschaft genannt wurde, eine reine Frauen-WG mit seiner Mutter, dem kleinen Bruder Asim, der Oma, zwei Tanten und drei mittelalten Damen, die vermutlich nicht mit dem Rest verwandt waren. Sie lebten in einer riesigen, verwinkelten Wohnung über zwei Etagen mit zwei separaten Mansarden oben unter dem Dach einen Häuserblock weiter. Ich weiß es, weil ich Leonie ein paar Tage später dort herausholte. „Liebe Dreizehn“ weiterlesen

Letztes Wiedersehen

Sie liegt da wie früher. Halb auf der Seite, halb auf dem Bauch. Das rechte Bein gestreckt, die linke Fußsohle fest an die rechte Wade gepresst. Der Gesicht liegt auf dem einen Arm, der andere umschließt den Kopf. Die Brise, die durch den offenen Spalt der Terrassentür weht, bewegt den Vorhang. Sonnenstrahlen fallen auf ihren Körper und das Muster im Stoff malt Flecken auf ihre Haut. Dann dreht sie sich um. Immer noch diese sehr helle Haut, immer noch die Pigmentflecken. Er sieht die dritte Zitze in der Falte unter ihrer rechte Brust. Das Schamhaar nicht mehr dicht wie damals, nicht mehr so strahlend rot. Der Spalt scheint durch, aber am oberen Rand immer noch die kecke Locke. Sie hatten sich über dreißig Jahre aus den Augen verloren. Dann schrieb sie ihm eines Tages eine Mail: Ich komme in die Stadt, treffen wir uns? Beide nervös im Café. Dann den großen Spaziergang mit dem Hund durch den Park. Und dann waren sie wieder wie das Paar, das sich mit dreizehn, vierzehn Jahren jeden Tag gesehen hat, jeden Tag miteinander geredet hat, alles gemeinsam, blindes Verständnis. Und natürlich gingen sie dann zusammen, so nannte man das damals. „Letztes Wiedersehen“ weiterlesen

Nichts davon (3)

Und, Karl, was machen wir jetzt? Er hat ein besonderes Bett für sie angeschafft mit elektrischer Verstellung und es im Wintergarten aufstellen lassen. Die Türen sind geöffnet, und der warme Junihauch zieht hinein, wo er bei ihr sitzt und ihre Hand hält. Die Verletzung ist deutlich schlimmer als gehofft. Zwei Wirbel sind betroffen. Bea hat Lähmungserscheinungen und starke Schmerzen am Rückgrat. Schlafen kann sie nur auf der rechten Seite, also so wie sie noch nie in ihrem Leben im Bett gelegen hat. Die Prognosen sind nicht klar. Wissen Sie, Frau Dardai, in vielen ähnlich gelagerten Fällen erheilt alles, hatte Professor Langner gesagt, dann werden Sie wieder ganz die Alte. Aber manchmal… Sie hatte abgewunken: Will ich gar nicht wissen. Sag mir, Karl, wie soll’s weitergehen? Ihr Mann hat sich ein Zigarillo angezündet, etwas, was er früher nie in ihrer Nähe getan hat. Aber sie hat es ihm erlaubt, damit er bei ihr sein kann, auch während er raucht. „Nichts davon (3)“ weiterlesen

Die geheime Stadt

Hinterm Dorf stieg die Wiese zum Wald zunächst sanft an hinter der Senke, durch der Fasanbach floß, dann steiler bis zu den erste Tannen. In dem Sommer, in dem Alfons neun Jahre alt wurde, waren er und seine Freunde jeden Nachmittag nach der Schule und in den Ferien jeden Tag mehrmals mit den Räder aufwärts gefahren und hatten einen Steg angelegt, um einfacher über das Gewässer zu gelangen, das in der warmen Jahreszeit nicht mehr war als ein Rinnsal, im Frühjahr aber durch das Schmelzwasser zu einem rauschenden Bach anschwoll. Auf den Gepäckträgern und ihren Rucksäcken transportierten die Jungen Baumaterial und Werkzeug, weil sie weit oben im Gehölz etwas errichten wollten. „Die geheime Stadt“ weiterlesen

Traumtänzer

Er rutschte in einen schwachen Schlaf. Weite Regionen seines Hirns blieben aktiv. Er erzählte sich stumme Geschichten, memorierte Kochrezepte und stellte passende Einkaufslisten auf. In einem weiteren Teil seines Bewusstsein aber rang er darum, endlich richtig einschlafen zu können. Dabei wurde ihm schleichend klar, dass er in diesem Halbwachzustand mindestens zwei Persönlichkeiten hatte; eine hyperaktive und eine träge. Er verfiel darauf, Schafe zu zahlen, rückwärts ab zehntausend. Aber während er Nummer achttausendneunhundertachtundsiebzig erreichte, lachte ihn das wachte Hirn einfach aus. Malena atmete gleichmäßig neben ihm. Das musste nicht bedeuten, dass sie im Gegensatz zu ihm in Tiefschlaf gefallen war. Ohne dass sie es je zugegeben hatte, wusste Tadé, dass sie nicht selten markierte, schlafend und nicht mehr ansprechbar zu sein. Tat er ja auch, um zu verhindern, dass sie das Bett verließ, um auf der Couch zu übernachten. „Traumtänzer“ weiterlesen