In einer nasskalten Novembernacht erwachte Bronn gegen fünf Uhr und fand sich auf dem Rücken liegend vor. Er erschrak, denn üblicherweise schlief er bäuchlings auf der rechten Körperseite. Den rechten Arm unter dem Kopfkissen hindurch ausgestreckt, die linke Hand an seiner rechten Wange. Irgendwo hatte er vor vielen Jahren gelesen, dass eine spontane Änderung der Schlafhaltung auf den nahenden Tod hinweist. [Lesezeit ca. 2 min] „Wird gestorben sein“ weiterlesen
Vom Fliegen
Im Traum fliege ich wie ein Drachen durch Straßenschluchten. Ich ziehe ein Seil mit eingeknoteten schwarzen Schleifen hinter mir her. Zwischen fünf- oder sechsgeschossigen Häusern mit kleinen Fenstern und ockerfarbenen Fassaden. Manche haben Dachterrassen. [Lesezeit ca. 2 min] „Vom Fliegen“ weiterlesen
Vom Pferd
Die Kastanien der Allee haben sich dezent und leise von ihren Blättern getrennt. Klett steht frühmorgens mit der Kaffeetasse auf dem Balkon. Ein alter Mann fegt das Laub vor dem Haus gegenüber zusammen. Genau bis zur Grenze zum jeweiligen Nachbarhaus. Er hofft auf ein bisschen Bodennebel am Rhein beim Hundegang. Aber er hat beim Frühstück getrödelt, und als sie auf den Wiesen am Fluss ankommen, hat die Herbstsonne für klare Verhältnisse gesorgt. Klett sieht drei Reiter in einiger Entfernung unterm Deich entgegenkommen. [Lesezeit ca. 5 min] „Vom Pferd“ weiterlesen
Hunde und Hände
Das Beste am Menschen sind seine Hände, denkt der Hund. Damit kann er die unglaublichsten Sachen machen: Türen aufschließen, Dosen öffnen, schwere Taschen mit Futter schleppen, Autofahren, Bälle werfen. Und vor allem und kraulen und streicheln. [Lesezeit ca. < 1 min] „Hunde und Hände“ weiterlesen
Der Schuttig
Auf Kunst hatte Hauptkommissar Greiper überhaupt keine Lust. Mangels Tötungsdelikten hatte ihn die Vorgesetzte an die Kollegen von der Wirtschaftskriminalität ausgeliehen. Und die hatten ihn auf eine Kunstmesse nach Basel geschickt. Immerhin eine Stadt, die er mochte, nachdem er vor vielen Jahren dort einmal den Morgestraich miterlebt hatte. [Lesezeit ca. 8 min] „Der Schuttig“ weiterlesen
Von einem meiner Tode
Ob ich tot bin? Keine Ahnung. Kann auch nicht sicher sagen, ob ich gestorben bin. Mein Zustand: nicht bewusstlos, aber ohnmächtig. Ich bin im selben Maß bei Bewusstsein, wie ich es im wachen Zustand bin. Vielleicht handelt es sich um ein Wachkoma. Wobei die Personen, die aus einer solchen Lage zurückgekehrt sind, keine Erinnerung an diese Zeit haben. Natürlich kann ich nicht beurteilen, wie ich momentan auf andere Menschen wirke, also ob die mich als wach wahrnehmen. Denn meine Sinnesorgane sind lahmgelegt. [Lesezeit ca. 2 min] „Von einem meiner Tode“ weiterlesen
Der Essigbaum
Als Erik die Waschmaschine ausräumte und ihm ein gutes Dutzend Stoffdreiecke, die er als Stringtangas identifizierte, in die Hände fielen, wurde ihm klar, wie wenig er über seine Tochter wusste. Er fragte sich, ob sie diese Dinger aus sexuellen Gründen trug, und erkannte, dass er von Elisabeths sogenanntem Liebesleben gar nichts wusste. Schwach erinnerte er sich an drei, vier Jungs, die sie in der Pubertät gelegentlich mit nachhause gebracht hatte, und dass einer von denen ein paar Mal in ihrem Kinderzimmer übernachten durfte als sie schon siebzehn war. Und er dachte natürlich auch an Paul, diesen gutaussehenden Langweiler, ihren Ehemann, den sie vor ein paar Monaten verlassen hatte. Selbstverständlich nahm er sie wieder im Haus auf, fragte aber nicht nach den Gründen. [Lesezeit ca. 17 min] „Der Essigbaum“ weiterlesen
Edgar und das kleine Wasser
Am frühen Morgen hat sich Edgar an die Grenzen seines Grundstücks begeben. Jetzt steht er am Zaun und blickt auf das Wasser am Feldrand gegenüber, das er seinen Weiher nennt. Dabei handelt es sich bloß um eine ungewöhnlich große und tiefe Pfütze, die an den Starkregentagen im April entstanden und dank des dauernden Niederschlags im Mai nicht weggetrocknet ist. Die Sonne ist rechts von Edgar aufgegangen, und der junge Himmel spiegelt sich im Wasser. Er hat sich vorgenommen, nach dem Frühstück den alten Schuppen am anderen Ende seiner Parzelle abzureißen, um dort einen Baum zu pflanzen. [Lesezeit ca. 4 min] „Edgar und das kleine Wasser“ weiterlesen
Kein Grün
Peilemeier saß ziemlich breitbeinig auf der roten Polsterbank in der hinteren Ecke der Bar. Ich hockte mit einigem Abstand auf einem Stuhl ihm gegenüber. „Heißt du wirklich Pan mit zweitem Vornamen?“ Er lehnte sich noch weiter zurück. „Jan Pan Peilemeier, so heiße ich; kein Künstername, kein Pseudonym.“ – „Wer nennt seinen Sohn denn Pan?“ – „Idee meiner Mutter, die war Flötistin. Du verstehst: Pan, der Hirtengott mit der Flöte.“ JPP, so ließ er sich gern nennen, grinste. „Du sagst ‚war‘. Ist sie tot?“ – „Nein, nein, quicklebendig, nur keine Flötistin mehr. Hat es nach der Geburt meiner Schwester drangegeben.“ – „Und die heißt wohl Tuba mit zweitem Vornamen?“ Er lachte ein bisschen, und es klang als habe er einen Krümel in der Luftröhre. „Die hat keinen zweiten Vornamen. Jedenfalls so weit ich weiß.“ – „Und war dein Vater auch Musiker?“ Peilemeier kippte kontrolliert vornüber und stützte die Ellenbogen auf den Knie ab: „Nein, der ist Schlagzeuger.“ [Lesezeit ca. 11 min] „Kein Grün“ weiterlesen
Hören und gesehen werden
Eddy war der erste im ganzen Viertel, der einen Walkman besaß. Den hatten ihm die Eltern geschenkt, den unterwegs Musik zu hören, lag in der Familie. So war Charly, Eddys Vater, in den Sechzigerjahren derart fasziniert von diesen handlichen Transistorempfänger mit Ohrhörer, dass er zum Radiobastler wurde. Unter anderem erfand er ein wasserdichtes Radio, indem er die nötigen Bauteile in einer Seifendose montierte, die er hermetisch abdichtet. Selten sah man Charly ohne sein handflächengroßes Transistorradio am Ohr. Wir waren alle sehr neidisch auf Eddy, der auf seinen Rollerskates durch die stillen Straßen des Vororts kurvte und sich zu Klängen bewegte, die nur er hören konnte. [Lesezeit ca. 4 min] „Hören und gesehen werden“ weiterlesen
Jeder kriegt, was er verdient
Mein Freund Börnie ist ein Hallodri, Bruder Leichtfuß hätte man ihn früher vielleicht genannt. Und weil er irgendwie immer durchkommt, ist er für mich der Protoytp eines Lebenskünstlers. Wir kennen uns schon seit fast dreißig Jahren. Damals hatte einer seiner Frauen, mit der eine Tochter hatte, das Kind in derselben Kita wie ich meinen Sohn. Da sah man sich häufiger, denn Börnie ließ es sich nicht nehmen, Linda, so der Name des Kindes, öfters abzuholen, obwohl er mit der Mutter längst nicht mehr zusammen war. Außerdem war da noch der wöchentliche Elternabend, schließlich handelt es sich um einen selbstverwalteten Kindergarten. [Lesezeit ca. 9 min] „Jeder kriegt, was er verdient“ weiterlesen
Unterwegs mit dem Örtzel
Damals als wir noch in der Nähe des F.-Parks wohnten, gab es in der Nachbarschaft einen kleinen, dicken Mann, der Tag für Tag auf den Straßen unterwegs war. Weil er mit lauter Stimme jeden ansprach, der ihm begegnete, konnte man ihn schon von Weitem hören. Zumal er mit hoher Kinderstimme redete und mit einer regionalen Färbung, die ich nie so ganz zuordnen konnte. Offensichtlich wusste der Kerl, den Alteingesessene den Örtzel nannten, viel über die Leute in seiner Gegend, denn er stellte bei den Begegnungen ziemlich spezifische Fragen nach ihrem Tun und Treiben. Dabei blieb er immer einigermaßen ernst, ich habe ihn in all den Jahren nie lachen hören oder grinsen sehen. Selbst Lächeln gehörte wohl nicht zu seiner Mimik. [Lesezeit ca. 4 min] „Unterwegs mit dem Örtzel“ weiterlesen
Hans, der Mathematiker
Hans, der Mathematiker, lebte und arbeitete in einer ehemaligen Garage in einem Hinterhof an der H.-Straße. Wer war wohl seit vielen Semester für das Lehramt eingeschrieben, verdiente seinen Unterhalt aber mit Fahrradreparaturen. Im hinteren Teil gab es Tisch, Bett und Stuhl, vorne, abgetrennt durch ein raumhohes Stahlregal betrieb er seine Werkstatt. Seine Freundin hieß vermutlich Ella und räkelte sich meistens nackt oder leicht bekleidet auf der Pritsche im Wohnbereich. Hans war nicht nur ein Meister seines Faches, sondern ein Magier. [Lesezeit ca. 4 min] „Hans, der Mathematiker“ weiterlesen
Die bunte Frau
Wir sehen einen Rücken, der aus schmalen Hüften wächst und in einem delikaten Nacken auslüft. Darüber ein Helm Haare in der Farbe geschälter Karotten. Die Wirbelknochen und die Schulterblätter sind gut erkennbar. Die helle Haut ist übersät mit ockerfarbigen Flecken. In der Schule wurde Elisabeth nicht wegen ihrer roten Haare gehänselt, sondern weil sie lang und dürr war. Das in einer Zeit als Kinder noch das Wort Bohnenstange benutzten. In den heißen Sommern ihrer Kinder- und Jugendjahre erblühten ab Mai die Sommersprossen. Immer mehr wurden es bis im September kaum noch die weiße Haut, die sich durch das Sonnenlicht kein bisschen bräunte, zu sehen war. [Lesezeit ca. 4 min] „Die bunte Frau“ weiterlesen
Sag einfach nichts
Von Anfang an hab ich Ivo total vertraut. Wenn der gesagt hat, das machen wir so und so, dann hab ich genickt, und dann haben wir das so gemacht wie er gesagt hat. Denken Sie aber nicht, ich wäre so eine naive, dumme Nuss, die macht, was so’n Typ befiehlt, weil der stärker ist, schlauer und älter. Mein Vertrauen kommt aus Erfahrung. Hab ganz schön viel Erfahrung mit Menschen, weiß praktisch immer sofort, ob man einem vertrauen kann oder nicht. Mein Vertrauen in Ivo hat sich auch immer ausgezahlt in den zweieinhalb Jahren. Wir sind uns in einem leerstehenden Haus in R. begegnet, wo ich Platte machen wollte. War so ein Geheimtipp bei den Mädels. Da kommt nie jemand hin, schon gar kein Mann, da bist du safe, hatte Pinky gesagt. [Lesezeit ca. 5 min] „Sag einfach nichts“ weiterlesen