Der Wecker schellt um 5 Uhr 35. Ester erwacht und steht ohne Zögern auf. Sie trägt ein übergroßes T-Shirt mit Hello Kitty auf der Vorderseite. Die Morgenroutine: Duschen, Kaffee und Müsli. Dann rüber ins Werksschwimmbad, zehn Bahnen. Sie wohnt im Verwaltungsgebäude und fährt nur am Wochenende nach Hause. Anziehen und Make-up. Pünktlich um sieben landet der Helikopter auf dem Parkdeck. Meeting mit dem Vorstand um acht. Als Betriebsratsvorsitzende nimmt Ester Castaño-Kröner regelmäßig an diesen Sitzungen teil. Gerade jetzt in der Krise ist das wichtig. Das Management hat die Schließung von drei Fabriken und die Entlassung von mehr als 5000 Mitarbeitenden angekündigt. [Lesezeit ca. 17 min] „Familienleben und Arbeitskampf“ weiterlesen
Die bunte Frau
Wir sehen einen Rücken, der aus schmalen Hüften wächst und in einem delikaten Nacken auslüft. Darüber ein Helm Haare in der Farbe geschälter Karotten. Die Wirbelknochen und die Schulterblätter sind gut erkennbar. Die helle Haut ist übersät mit ockerfarbigen Flecken. In der Schule wurde Elisabeth nicht wegen ihrer roten Haare gehänselt, sondern weil sie lang und dürr war. Das in einer Zeit als Kinder noch das Wort Bohnenstange benutzten. In den heißen Sommern ihrer Kinder- und Jugendjahre erblühten ab Mai die Sommersprossen. Immer mehr wurden es bis im September kaum noch die weiße Haut, die sich durch das Sonnenlicht kein bisschen bräunte, zu sehen war. [Lesezeit ca. 4 min] „Die bunte Frau“ weiterlesen
Der Furz des Lebens
Wir sehen Onkel Gerd wie er lässig und leicht zurückgelehnt in einem windschiefen Campingstuhl in der Sonne sitzt. Er trägt ein beinahe weißes Unterhemd und eine verwaschene, dunkelgrüne Turnhose, von der er sagt, die sei ein Teil seiner Wehrmachtsausrüstung. Rund um den Tisch stehen und sitzen seine Brüder mit ihren Frauen, sein bester Freund und Bekannte, die ihn sonntags im Schrebergarten besuchen. Kinder spielen zu seinen Füßen. Er hat eine Zigarette in der Hand und grinst in die Kamera. [Lesezeit ca. 9 min] „Der Furz des Lebens“ weiterlesen
Nicht länger als
Auf dem Boden liegen. Atmen. Die Arme neben dem Körper, die Handflächen nach oben. Auf einem Teppich. Träumen. Nie länger als eine halbe Stunde. Langsamer Übergang in eine sitzende Position. Mit den Händen über das Gesicht streichen. Die Gerüche wahrnehmen. Sich erinnern. Alles, was du bist, bist du seit gestern. [Lesezeit ca. 5 min] „Nicht länger als“ weiterlesen
Ein aufrechter Deserteur
Von seiner Vergangenheit erfuhren wir erst lange nach seinem Tod. Onkel Paul war nach dem Tod seiner Frau nach Holstein gezogen, in einen Ort, der zu groß war für ein Dorf und zu klein für eine Stadt. Dort galt er als der Kommunist. Mit dem evangelischen Pfarrer hatte er sich angefreundet und einige Nächte hindurch diskutiert, über Gott und die Welt. Der Pastor war es auch, der mir die Geschichte von Onkel Paul erzählte als ich nach Jahren zufällig in diesem Ort strandete. Mir fiel die bewegende Grabrede, die der Geistliche bei der Beerdigung gehalten hatte. „Ein aufrechter Deserteur“ weiterlesen
Randfigur
Jemand hat dieses Zeitungsbild abfotografiert. Man erkennt die Rasterpunkte. Außerdem ist das Foto verwackelt und in weiten Teilen unscharf. Mit Mühe lässt sich erkennen, dass es am J.-Platz aufgenommen wurde, lange vor dem Umbau. Damals gab es hier einen Straßenbahn- und Busknotenpunkt. Der Blick geht aus mittlerer Entfernung Richtung Fußgängerzone. Der Bereich davor öffnet sich auf den Betrachter hin zu einem Platz. An der linken Ecke, unmittelbar vor dem Eingang zu einem modernen Gebäude, steigt schwarzer Rauch auf. Zwei Personen laufen dicht hintereinander von links nach rechts durchs Bild. Sie sind allein schon durch die Bewegungsunschärfe nicht identifizierbar. Genau im Zentrum aber, ein wenig im Hintergrund, neben einem schwächlichen Baum, steht eine Person. Sie trägt vermutlich einen damals üblichen Parka. Die Kapuze ist über den Kopf gezogen, durch ihren Schatten bleibt das Gesicht unsichtbar. Dieser Mensch hat beide Hände in den Taschen und scheint den Flüchtenden mit dem Blick zu folgen. Tatsächlich gab damals im Februar 1977 nur eine Tageszeitung in der Stadt, die von diesem versuchten Anschlag berichtete und dieses Foto veröffentlichte. „Randfigur“ weiterlesen
Mann mit Hunden
Nicht immer, wenn ein Mensch auf einem Foto zu sehen ist und dabei in die Kamera schaut, posiert er. Wir haben hier ein Hochformat. Der Mann steht auf dem Weg, der aus dem Park ins freie Feld führt. Man sieht ihn von vorne, und er schaut an der Linse vorbei. Das Kinn leicht angehoben, den Kopf ein wenig schief, mit neutralem Gesichtsausdruck. Die Hunde sitzen zu seinen Füßen und blicken in entgegengesetzte Richtungen. Es dürfte später Herbst oder früher Winter sein, denn der Mann trägt einen Dufflecoat, einen Schal und eine Mütze. „Mann mit Hunden“ weiterlesen
Geschichte von einem frühen Tod
Wir sehen einen noch nicht ganz Zehnjährigen zwischen seinen Brüdern. Sie sitzen in kurzen Hemden und Hosen auf einer Bank an der Oder und lächeln schief in die Kamera: Paul, Gerhardt und Hans. Das Bild hat ein Fotograf aufgenommen, der den Abzug mit dem Namen seines Geschäfts abgestempelt hat. Es war an einem der wenigen wirklich sommerlichen Sonntage im Juli des Jahres 1933. Da sind die Jungen schon vaterlos, wissen aber nicht wie und weshalb der Vater verschwunden ist. In Stettin war im Mai den Gauleiter Karpenstein entmachtet worden. Gegen dessen Willen hatte die SS zuvor ein Internierungslager auf dem Gelände der Vulkanwerft eingerichtet und ab Ostern damit begonnen, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten zu verhaften und dorthin zu bringen – unter ihnen der Maurer Max Roggisch, Mitglied der KPD und Vertrauensmann der Baufirma Schlieske. Später würden Historiker dieses Lager als erstes KZ des Naziregimes bezeichnen. „Geschichte von einem frühen Tod“ weiterlesen
Manuela fährt Rad
Bist du jüdisch? fragt Hamza. Die Gruppe hat sich vor dem Ferienheim aufgebaut. Hinten stehen die Großen, davor die Kleineren, fünf Kinder liegen im Gras. Dazu die Fahrräder. Manuela ist die dritte von links in der mittleren Reihe. Und wenn? antwortet sie. Na, sagt Hamza, dann bist du ein schlechter Mensch, weil alle Jüdischen schlechte Menschen sind. Der Fotograf ruft: Jetzt alle mal Spaghettisoße sagen! Die Teilnehmer an der Radtour lächeln oder grinsen oder auch nicht, nur Manuela und Hamza gucken nicht in die Kamera. „Manuela fährt Rad“ weiterlesen