Als Erik die Waschmaschine ausräumte und ihm ein gutes Dutzend Stoffdreiecke, die er als Stringtangas identifizierte, in die Hände fielen, wurde ihm klar, wie wenig er über seine Tochter wusste. Er fragte sich, ob sie diese Dinger aus sexuellen Gründen trug, und erkannte, dass er von Elisabeths sogenanntem Liebesleben gar nichts wusste. Schwach erinnerte er sich an drei, vier Jungs, die sie in der Pubertät gelegentlich mit nachhause gebracht hatte, und dass einer von denen ein paar Mal in ihrem Kinderzimmer übernachten durfte als sie schon siebzehn war. Und er dachte natürlich auch an Paul, diesen gutaussehenden Langweiler, ihren Ehemann, den sie vor ein paar Monaten verlassen hatte. Selbstverständlich nahm er sie wieder im Haus auf, fragte aber nicht nach den Gründen. [Lesezeit ca. 17 min] „Der Essigbaum“ weiterlesen
Edgar und das kleine Wasser
Am frühen Morgen hat sich Edgar an die Grenzen seines Grundstücks begeben. Jetzt steht er am Zaun und blickt auf das Wasser am Feldrand gegenüber, das er seinen Weiher nennt. Dabei handelt es sich bloß um eine ungewöhnlich große und tiefe Pfütze, die an den Starkregentagen im April entstanden und dank des dauernden Niederschlags im Mai nicht weggetrocknet ist. Die Sonne ist rechts von Edgar aufgegangen, und der junge Himmel spiegelt sich im Wasser. Er hat sich vorgenommen, nach dem Frühstück den alten Schuppen am anderen Ende seiner Parzelle abzureißen, um dort einen Baum zu pflanzen. [Lesezeit ca. 4 min] „Edgar und das kleine Wasser“ weiterlesen
Sag einfach nichts
Von Anfang an hab ich Ivo total vertraut. Wenn der gesagt hat, das machen wir so und so, dann hab ich genickt, und dann haben wir das so gemacht wie er gesagt hat. Denken Sie aber nicht, ich wäre so eine naive, dumme Nuss, die macht, was so’n Typ befiehlt, weil der stärker ist, schlauer und älter. Mein Vertrauen kommt aus Erfahrung. Hab ganz schön viel Erfahrung mit Menschen, weiß praktisch immer sofort, ob man einem vertrauen kann oder nicht. Mein Vertrauen in Ivo hat sich auch immer ausgezahlt in den zweieinhalb Jahren. Wir sind uns in einem leerstehenden Haus in R. begegnet, wo ich Platte machen wollte. War so ein Geheimtipp bei den Mädels. Da kommt nie jemand hin, schon gar kein Mann, da bist du safe, hatte Pinky gesagt. [Lesezeit ca. 5 min] „Sag einfach nichts“ weiterlesen
Wandelbar
Weit nach Mitternacht verließ Kaltenburg den Gasthof, um den Hang zu besteigen, der sich westwärts erhob. Hinterm Haus überquerte er den Bergbach. Die Neumondnacht war sternenklar und windstill. Er trug eine Stirnlampe, die beunruhigende Schatten im Rhythmus seiner Schritte warf. Im Unterholz hörte er das Raunen und Wispern verschiedener Tiere. Zunächst wand sich der Pfad durch Buschland, dann durch ein lichtes Gehölz mit niedrigen Bäumen. Unter den hohen Tannen und Fichten begann ein schnurgerader Weg aufwärts zum Kamm. [Lesezeit ca. 2 min] „Wandelbar“ weiterlesen
Ein pinkes Plastikpony
Gerade habe ich Wasser nachgefüllt. Keyla steht in der verbeulten Zinkwanne, während ich die Gießkanne halte. Ich sehe Leissa in ihr. Als ich meine Frau kennenlernte, war sie kaum drei Jahre älter als meine Tochter jetzt. Ein Jahr später habe ich sie zum ersten Mal geschwängert. Sie sind sich ähnlich. Ich kann erkennen, wie Keyla als Erwachsene aussehen wird. Jetzt sitzt sie wieder im Wasser und wäscht ihre Spielfiguren, die sie nachts auf einem Brett neben ihrem Bett abstellt: ein Playmobil- und ein Lego-Männchen, eine He-Man-Figur, eine Barbie und das Wunderpony, das ich ihr neulich mitgebracht habe. [Lesezeit ca. 3 min] „Ein pinkes Plastikpony“ weiterlesen
Noch im Winter
Es war das letzte Haus in der äußersten Siedlung im Vorort der Kleinstadt, unmittelbar angrenzend an die Felder und Weiden der Großbauern, deren Höfe jenseits des Waldstücks lagen, auf das wir aus dem Küchenfenster und dem Bad blickten. Die Straße war bis zur Garagenauffahrt asphaltiert und ging dann zunächst in eine Schotterstrecke und zwanzig, dreißig Meter weiter in einen Feldweg über, der in sanften Bögen zwischen den Äckern zum Busch führte und dort ohne besonderen Grund endete. Gästen, die mit dem Auto anreisten, sagte der Vater immer, sie sollten bedenken, dass man vor unserem Haus nicht wenden könne. Den Garten hatte er mit einem außergewöhnlich hohen Zaun umgeben lassen, und es kam mir immer so vor, als habe er das nicht getan, um unser Grundstück zu schützen, sondern um eine deutliche Grenze zwischen der Zivilisation und der aus seiner Sicht rauen Wildnis zu markieren, denn er war Zeit seines Lebens ein sehr urbaner Mensch. „Noch im Winter“ weiterlesen
Seine Freundin
Stell dir einen Typ am Biertisch vor. Anfang Fünfzig, eine ordentliche Wampe über ziemlich dünnen Beinen, imposanter Schädel, dichter, schwarzer Vollbart und eine dicke Brille mit dunklem Gestell. Nennen wir ihn Matthias. Wie er da so am Stehtisch draußen vor der Hausbrauerei steht und sein Bier trinkt. Er war mein Freund, und ungefähr einmal im Monat trafen wir uns da, um miteinander zu reden. Selten oder nie ging es um persönliche, um private Dinge. Meistens erzählten wir uns Geschichten über Ereignisse, die wir miterlebt oder beobachtet hatten, oder über die politische Situation oder was uns sonst aufgefallen war. Eigentlich sind wir erst sehr spät Freunde geworden. Über Jahre waren wir Kollegen, im Beruf auch Kontrahenten, aber im Streit lagen wir nie miteinander. Matthias hatte seine berufliche Laufbahn unter meiner Leitung begonnen. Später war er bei einem großen Unternehmen angestellt, während ich freiberuflich wirkte. Einige Male, eine Zeit lag sogar regelmäßig, schob er mir Aufträge zu. „Seine Freundin“ weiterlesen
Nicht mein Typ
Es war von Anfang an klar, dass wir Sex miteinander haben würden. Dabei war sie nicht mein Typ, und ich – wie ich später erfuhr – auch nicht ihrer. Im Gegenteil. Wir begegneten uns im Rahmen einer ziemlich großen Familienfeier, von der wir den größten Teil verpassten. Ich war der Einladung gefolgt, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, ob und wie ich mit den Gastgebern verwandtschaftlich verbunden war. So war ich auch gar nicht erst zu dem Teil der Feier gegangen, die am Morgen stattgefunden hatte, irgendeine Taufe, Trauung oder Beerdigung. Das Fest am Nachmittag, das man irgendwo auf einem idyllischen Gutshof organisiert hatte, den man für so etwas mieten konnte, hatte ich mir auch geschenkt; es wären mir vermutlich zu viele Kinder dort gewesen. Also fand ich mich erst zur Party ein, so gegen elf. „Nicht mein Typ“ weiterlesen
Hahnenkampf
Es war eine dieser Gruppen, bei denen zwei Kerle das Wort führen und immer darauf schielen, ob die Frauen am Tisch sie toll finden. Leider hatten sich die fünf Männer und vier Frauen an dem langen Stehtisch in der Schwemme angesiedelt, an dessen Kopfende ich meinen Stammplatz habe. Und weil sonst nichts Besseres frei war, hatte ich mich dort niedergelassen. Die Herren redeten ständig ein bisschen zu laut und lachten zu heftig, und der eine versuchte ständig besonders witzig zu sein. Drei der Damen hockten nebeneinander auf der Bank wie die Hühner auf der Stange und gackerten kollektiv, wenn einer der Jungs einen lustigen Satz in die Runde geworfen hatte. Dann gingen zwei Frauen zusammen aufs Klo, die Sitzordnung veränderte sich, und plötzlich saß sie neben mir – wir beide übereck am Tischende. „Hahnenkampf“ weiterlesen
Fremdes Geld
Schein zählte die Banknoten umständlich auf den Küchentisch. Ingola griff sich eine und betrachtete das fremde Geld sorgfältig. Echt? fragte sie, aber Schein zuckte nur kurz mit den Schultern. Im Licht der Leuchte im Dunstabzug stand Kilian mit den Rücken zu ihnen und rauchte. Wo wir das ausgeben, ist egal, sagte er. Ein Auto fuhr vor, der Motor wurde abgestellt. Kilian trat auf den Küchenbalkon, kam zurück und sagte: Keiner von uns. Die Katze tigerte durch den Raum und sprang aufs Fensterbrett. Wann geht’s los? fragte Schein nachdem er fertig war. Übermorgen, antwortete Kilian. Noch jemand Wein? Ingola hatte die Flasche schon in der Hand. Beide Männer nickten. „Fremdes Geld“ weiterlesen
Lebensunterhalt
Es ist möglicherweise die einsamste Bushaltestelle des Landes. Gilda sitzt im schmalen Wartehäuschen und liest in einem ziemlich dicken Buch. Aus der einzigen Straßenlaterne in weitem Umkreis sickert weiches Licht durch die trübe Luft. Die Landstraße kommt aus einer Senke und führt rechterhand in einer flachen Linkskurve den Hügel hinauf. Unterhalb verschicken einzelne Häuser Licht aus ihren Fenstern. Jemand kommt und setzt sich neben sie. Sagt Hi, und sie grüßt mit einem schwachen Nicken zurück. Wann kommt er denn, der nächste Bus? fragt der Mann. Sie legt sorgfältig das Lesezeichen zwischen die Seiten und klappt das Buch zu. Holt das Handy aus der Manteltasche, entsperrt es und zeigt auf das Display: Noch siebenundzwanzig. „Lebensunterhalt“ weiterlesen
Jelles Tränen
Wer weiß, was den Furzknoten dazu getrieben hatte, mich in den Glaskasten zu verbannen. Offiziell begründete der große Inhaber die Maßnahme damit, ich sei jetzt Führungskraft und müsse zu meinen Untergebenen Distanz wahren. So dürfe ich die Kollegen, denen ich nun vorgesetzt war, nicht mehr duzen, sondern müsse sie siezen. Das ist so ungefähr der Psychoquark meines Chefs, der sich für klug und gewitzt hält. Mich aber zwang es dazu, nicht mehr an der Nahtstelle zwischen Konzeption und Grafik zu sitzen, sondern am anderen Ende des verwinkelten Großraumbüros in einer Kabine. „Jelles Tränen“ weiterlesen
Hautfarben
Vor ein paar Jahren hatte Silke einen Aquarellierkurs belegt. Die Dozentin war eine ältere Dame mit grauen Haarschnecken über den Ohren. Im dritten Semester ging es um das Porträtieren, und die Kursleiterin sagte in jeder Stunde mindestens einmal das Wort hautfarben. Silke konnte damit nichts anfangen. Als ob die Haut eine Farbe habe. Wann immer sie Leute nackt oder nur in Badebekleidung gesehen hatte, wat ihr aufgefallen, wie viele verschiedene Farben die Oberfläche eines Menschen aufwies. Aber die Lehrerin hatte eine bestimmte Vorstellung von Hautfarbe und wollte sie ihren Schülern aufzwingen. Das gefiel Silke nicht, und sie nahm sich vor, nur noch dunkelhäutige Personen zu malen und begann mit einem Selbstporträt. „Hautfarben“ weiterlesen
Rache im Konjunktiv
Stell dir einen Bären im blauen Monteursoverall vor. Nur ohne niedliche Knopfaugen, ohne Lacknäschen und ohne pelzige Puschelohren. Stattdessen setz einen gewaltigen Schädel drauf. Mit meerblauen Seeschlitzen, einem Wust rotblonder Haare und einem Mund, bei dem die Lippen nie ganz stillstehen. Wie auch seine Hände. Großflächig und wulstig und immer in Bewegung. Wenn er spricht, knetet er die Finger oder wedelt wie ein Dirigent. Laut seiner Musterungsakte exakt zwei Meter und acht Zentimeter groß. Damals wog er um die einhundertfünfzig Kilo, vorwiegend Muskelmasse, weil er seine Tage im Sportstudio verbrachte, während er nachts am Schlachthof arbeitete. Ich denke, Ewald hat seine Elise wirklich geliebt. „Rache im Konjunktiv“ weiterlesen
Weite Ebene
Möth befindet sich in der Mitte einer weiten, kargen Ebene und schaut sich um. Er war schon einmal in einer ähnlichen Situation, auf einer leeren, staubigen Fläche. Das war der Betondeckel einer Giftmülldeponie in Brandenburg. Jetzt aber sieht es aus wie auf einem trockenen Salzsee in Utah, wo Weltrekordfahrten stattfinden. Er weiß nicht, wie er an diesen Ort geraten ist, er weiß nur, aus welchem Grund: Er ist mit Anna verabredet. Und dann spricht eine Stimme aus großer Höhe: Hartmut, wartest du? Sie kommt gleichzeitig aus der Luft und aus seinem Kopf. Er nickt. „Weite Ebene“ weiterlesen