Charlene und ich (4)

Ab dem dritten Advent wurde das Wetter ungemütlich. Das sei hier um Weihnachten herum meistens so, sagte Herr Sosna, der Inhaber des Platzes, der in einem Steinhäuschen knapp außerhalb des Geländes wohnte. Charlene hatte sich Schnee gewünscht, deutsche Gemütlichkeit, Romantik und dergleichen. Statt dessen bekamen wir Dauerregen, milde Temperaturen und ab und an ein bisschen Sturm. Aber davon bekam sie nicht mehr viel mit. Über einen Bekannten von einem Bekannten von einem Freund von Herrn Sosna war ich an eine nie versiegende Quelle für Morphine gekommen. Alle vier Stunden spritzte ich Charlene eine Dosis, sodass sie einigermaßen schmerzfrei vor sich hin dämmern konnte. Wenn sie dann eingeschlafen war, drehte ich die Runden mit Dunja; meistens gleich in der Nähe vom Platz unten am Rhein. Manchmal fuhren wir in den Wald östlich der Stadt, das hatte mir Herr Sosna empfohlen. Der Hündin gefiel beides, wobei sie im Wald immer viel näher bei mir blieb, als müsste sie mich vor bösen Geistern beschützen. Mein Deutsch wurde immer besser, und ich unterhielt mich gern mit anderen Hundehaltern, fragte sie aus über die Stadt, über Land und Leute, über Deutschland und die Deutschen.

Je näher das Christfest kam, desto deutlicher wurde der deutsche Anteil in mir. Abends, wenn nur noch die Petroleumlaternen draußen und die Kerzen drinnen leuchteten, wurde ich das, was die Leute hier „besinnlich“ nannten. Genau in dieser – wie man sagt – blauen Stunde hatte Charlene ihre hellsten Momente, und an manchen Abenden konnten wir uns regelrecht miteinander unterhalten. Ihr Gewicht hatte sich stabilisiert seitdem sie gar nicht mehr vor die Tür ging und sie endlich auch akzeptiert hatte, von mir gefüttert zu werden. Wir sprachen über den Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet waren, über die Zei bei Bills Truppe und die vielen Erlebnisse auf unserer Europareise. Eines Abends begann sie vom „Tier in mir“ zu erzählen, also vom Krebs in ihrem Körper, den sie mittlerweile betrachtete wie ein böses Haustier, das man aber nicht so einfach fortschicken kann. Sie konnte genau beschreiben, wo es hauste und wie es zubiss. Noch einmal versuchte ich sie zu überreden, einen Arzt zu konsultieren. „Lohnt nicht mehr“, antwortete sie bloß und lächelte.

Bill landete am Heiligabend in aller Frühe. Ich erwartete ihn am Ausgang der Gepäckausgabe, sah ihn durch die Automatiktür treten, bewaffnet mit einem gelben Rollköfferchen und einer altmodischen Ledertasche, gekleidet wie ein Dandy, er trug sogar eine karierte Golfmütze mit Bommel. Wir fielen uns lachend in die Arme und er sagte immer nur: „Oh, boy, oh, boy…“ Auf dem Weg zum Campingplatz berichtete er, dass sein alter Freund Ulf, ein pensionierter Hochseilartist begleiten würde. Der sei schon seit über dreißig Jahren wieder in Deutschland und kenne sich überall in Europa bestens aus. Ich versuchte ihn schonend auf Charlenes Zustand vorzubereiten, aber er hörte mir nicht richtig zu, sondern redete unentwegt auf Dunja ein, die bei ihm im Fußraum hockte und sich breit machte. Dann drehte er sich plötzlich um, wir überquerten gerade den Rhein auf der Brücke im Norden, und fragte: „Wird sie sterben?“ Ich nickte, und er fragte nun: „Wann?“ Immer wenn ich Charlene in unserem Wohnmobil alleine ließ, überkam ich unterwegs die Furcht, sie könne in meiner Abwesenheit sterben. So auch jetzt. Ich zuckte mit den Schultern: Weiß keiner.“ Ob sie ärztlich gut versorgt sei, wollte Bill dann wissen, und mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu berichten wie Charlene mit der Krankheit umging.

Sie lag in ihrem bequemen Sessel, der Fernseher lief ohne Ton, und dämmerte noch immer nach der ziemlich hohen Dosis, die ich ihr am frühen Morgen verabreicht hatte. Ich berührte sie leicht am Arm und sagte: „Schau wer da ist!“ Langsam schlug sie die Augen auf, ihr Blick irrte durch den Raum bis sie die kleine, breite Gestalt in der Tür entdeckte und flüsterte: „Bill? Bist du’s?“ Unser ehemaliger Chef konnte seinen Schock kaum verbergen, ging zu ihr, küsste sie sanft auf die Stirn und sagte nur: „Ja, ich bin’s.“ Und ein bisschen später: „Was machst du für Sachen?“ Kurz nach Sonnenuntergang schlug das Wetter um. Ein leichter Sturm rüttelte Homer II durch, und als ich rüberging zu Herrn Sosna um Bier zu holen, spürte ich, dass der Wind sehr mild war, beinahe frühlingshaft warm. Ich ließ dann die Tür vom Mobil offen, und als die Luft ruhig wurde, hörte wir die Vögel in den Bäumen singen.

Gegen Mitternacht brachte ich Bill in sein Hotel. Der Jetlag machte ihm zu schaffen, und er war vom ungewohnt gehaltvollen Bier einigermaßen angetrunken. Überall hinter den erleuchteten Fenstern sah ich das Licht echter und elektrischer Kerzen. Kaum ein Mensch auf der Straße, nur wenige Autos unterwegs, hauptsächlich Taxen. An den beiden Pfosten vom Eingangstor zum Platz hatte Herr Sosna Tannenzweige befestigt und elektrische Lichterketten. Außer uns waren auf dem Gelände nur noch zwei Trailer bewohnt, aber deren Besitzer waren am Heiligabend nicht da. Charlene war wach als ich hereinkam, hatte die Augen geöffnet, saß beinahe aufrecht in ihrem Sessel, die Hände auf den Lehnen zu Fäusten geballt. „Ist soweit“, sagte sie und begann leise zu singen: „Heja, heja, hoja, heja…“ Einen einfachen Indianergesang. Dann klopfte sie den Rhythmus mit den Händen und begann den Oberkörper im Takt vor und zurück zu wippen. Was blieb mir, als in ihren Abschiedsgesang einzustimmen. Und als wir laut genug geworden waren, begann Dunja zu heulen. Wie ein Wolf bei Vollmond.

Als Todeszeitpunkt wurde der 25. Dezember eingetragen, null Uhr achtundzwanzig. Ich war zu Herrn Sosna rübergelaufen und unter Tränen gerufen „Sie ist tot!“ Und unser Wirt rief den Notarzt herbei, deren ihren Tod offiziell feststellte. Um halb sieben am Morgen kam ein Bestatter, den ebenfalls Herr Sosna gerufen hatte, und holte ihren Körper ab. Fünf Tage später wurde sie verbrannt. Ich ließ mir die Urne aushändigen. Bill war bei mir, sonst niemand. „Und nun?“ fragte er. „Alaska“, sagte ich, „sie muss nach Alaska.“ – „Warum?“ Wir standen vor dem Camper und blickten durch das schüttere Gebüsch auf den Fluss. „Ihr letztes Wort war: Home. Fünf oder sechs Mal sagte sie: Home.“

Es dauerte fast drei Monate bis ich das Mobil verkaufen konnte und ich die nötigen Papiere für den Transport der Urne in die USA zusammenhatte. Außerdem sollte Dunja mit mir kommen, aber es war nicht möglich, sie in die Vereinigten Staaten zu bringen. Also bat ich Bill, der inzwischen von seiner Reise quer durch den alten Kontinent heimgekehrt war, sie in Toronto in Empfang zu nehmen. Denn die Einfuhr eines Hundes in Kanada ging viel einfacher vonstatten, und dank der diversen Impfungen und Gesundheitszeugnisse musste sie dort nicht einmal in Quarantäne. Bill und Dunja holten mich als am Flughafen von Montreal ab. Da ich in Deutschland nicht nur Homer II verkauft hatte, sondern das ganze Inventar und fast all unsere Sachen, reiste ich mit sehr kleinem Gepäck. So nutzte ich den folgenden Tag, Bill betreute den Hund, dazu, mich für den kalten Norden einzukleiden. Und dann ging ich auf die Suche nach einem neuen Mobilhome. Homer III fiel wesentlich kleiner aus als seine Vorgänger, hatte aber Allradantrieb und eine besonders leistungsfähige Heizung. Am 6. April brachen wir auf. Bill weinte wie ein Trauerweib: „Wir werden uns nie wiedersehen!“ Er sollte Recht behalten.

Wir fuhren einmal quer durchs Land, immer zu dritt, denn Charlenes Geist war natürlich bei uns. Das war auch der Hündin bewusst, die sich oft so verhielt, als sei die Herrin dabei, also auch im Bett Platz für sie ließ. Manchmal wedelte sie grundlos mit dem Schwanz und starrte die unsichtbare Gestalt freudig hechelnd an. Ich gewöhnte mir an, Charlene zu berichten, wohin die nächste Etappe führte und redete dabei laut als säße sie neben mir. Wir überquerten die Grenze bei Beaver Creek und fanden ein paar Hundert Meilen weiter nördlich einen wunderschönen einsamen Platz am Ufer des Tanana. Noch herrschte tiefster Winter im Südosten Alaskas, aber wenn die Sonne aufgegangen war, lag schon ein Hauch Frühling in der Luft. Es war der 11. Mai, ein sonniger Tag, an dem wir ihre Asche in den Fluss streuten. Dunja sah dem feinen Pulver lange nach, das vom Wind getrieben über die gleichmäßige Strömung zog und sich dann auf dem Wasser absetzte und schließlich eins damit wurde. Von diesem Augenblick an hatte uns Charlene für immer verlassen.

Dunja und ich fanden ein neues Zuhause in Bancroft, gut 100 Meilen südwestlich von Ottawa, und dort ein winziges Häuschen direkt am Clark Lake. Wir hatten einen eigenen Bootssteg, und ich schaffte ein kleines Boot mit Außenborder an. Dann nahm ich einen Job bei Jean-Pierre in dessen Harley-Werkstatt an. Und weil mein Chef ein guter Kerl ist und man sich da nicht kaputtschuftet und ich Dunja immer mit nehmen konnte zur Arbeit, blieb es dabei. Die Hündin ist inzwischen neun Jahre alt und immer noch topfit. Am liebsten geht sie schwimmen und versucht Fische zu fangen, was ihr nie gelingt. Vor zwei Wochen ist Michelle zu mir gezogen. Eine Frau meines Alters, die in ihrem Leben eine Menge durchgemacht hat. Sie ist sehr schön, sehr sensibel und klug. Wir sind ein gutes Team, und an manchen Tagen ist sie nicht nur meine Gefährtin, sondern auch meine Geliebte.

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