Die Familie J. (2)

Die Mutter hatte Jennifer bei ihrer Schwester in Stolberg untergebracht. Tante Maria hatte eine Schneiderei mit drei Angestellten und fertigte vor allem Hochzeitskleider für das Landvolk in der Umgebung. Ihr Ruf reichte bis rüber nach Belgien. Und obwohl Jenny keine formale Schulausbildung hatte, nahm Maria sie als Lehrling an und ermöglichte es ihr, neben bei den Hauptschulabschluss nachzuholen. Für die Sechzehnjährige war das Leben in der kleinen Stadt unter diesen Bedingungen sehr anstrengend, aber immer noch besser als die letzten Jahre in der Kommune. Sie lernte Normalität kennen. Aber bald eckte sie regelmäßig mit ihrem Verhalten an, das durch eine Kindheit in der Sekte, die völlig außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft existiert hatte, geprägt war. Freiheit war der zentrale Begriff, den sie gelernt hatte, obwohl es unter dem Regime des Gurus individuelle Freiheiten nicht gegeben hatte. Aber mit allem, was man so tat, wie man sich benahm und kleidete, hatte sie Probleme. Hippie-Schlampe war noch die netteste Bezeichnung, die Gleichaltrige für sie hatten. Nur die Kolleginnen, lauter Frauen, deren Familien aus dem mittleren Osten stammten, nahmen keinen Anstoß an Jennys ungewöhnlichen Tun.

Plötzlich scheint sich der Stau aufzulösen. Die Raucher hasten vom Seitenstreifen zu ihren Wagen, die Kolonne auf der rechten Spur setzt sich in Bewegung. Auf dem Standstreifen rauschen vier, fünf Polizeimotorräder mit Blaulicht vorbei. Jona klingt dringend: Ich muss mal! Geht jetzt nicht, brüllt Jens nach hinten. Er zieht am Riesemobil vorbei und sieht das Hinweisschild auf die nächste Raststätte; fünf Kilometer sollen es sein. Hinter ihm bricht ein Auto aus und schwenkt auf die Standspur. Jens macht es dem Fahrer nach, und im Fahrradtempo ziehen sie an den anderen Fahrzeugen vorbei. Bis sich vor ihnen der Verkehr staut. Drei Wagen vor ihm sieht er einen englischen Oldtimer schräg über den Fahrstreifen ragen.

Musst du hören, hatte Wolfram ihm gesagt, klasse Truppe. Also fuhr er an einem schwülen Septembersamstag mit dem Bus nach Langerwehe, wo eine paar durchgeknallte Typen einen Landgasthof in einen Treffpunkt für Rockfans umgewandelt hatten. Am späten Nachmittag spielte sich noch alles draußen ab. Man hatte ein paar Boxen im Biergarten aufgehängt, und ein Diskjockey legte alle Hits auf, die gerade angesagt waren, und natürlich Oldies aus den Sechzigerjahren. Man trank helles Bier aus Glaskrügen oder Whiskey-Cola, nur die Mädchen blieben bei Limo oder Mineralwasser. Jens hatte sich ein Bier besorgt und stand am Rand der Menge. Da stieß ihn jemand von hinten, sodass der halbe Inhalt aus dem Krug schwappte. Mensch, da biste ja! Wolfram klopfte ihm auf die Schultern, dass er beinahe hinfiel. Hier, nimm n Zug. Hielt ihm einen dicken Joint hin, den Jens ablehnte. Dann drängte alles in den Festsaal. Die holländische Band spielte vor allem Coverversionen von Songs von Deep Purple und Black Sabbath. Es war stickig und heiß drinnen. Jens hielt sich im Hintergrund und holte sich irgendwann draußen an der Biergartentheke noch ein Bier. Niemanden hatte es im Freien gehalten. Ganz hinten am Zaun aber stand sie.

Nein, Liebe auf den ersten Blick war es nicht. Aber sie erkannten sich rasch als diejenigen, die zur falschen Zeit am falschen Ort waren. Vermutlich trug Jens als einziger an diesem Tag eine Stoffhose und ein kariertes Oberhemd. Noch am Dienstag hatte er sich die Haare kurz schneiden lassen. Und dann diese junge Frau mit einer weiten Hose, die aussah, als habe man altmodische Vorhänge in Streifen geschnitten und zusammengenäht. Dazu ein viel zu großes, hellblaues Herrenhemd, auf dem Filzsterne und -monde befestigt waren. Sie kam direkt auf ihn zu, sah in ganz direkt an. Er konnte nicht mehr ausweichen. Hi, sagt sie, ich bin die Jennifer.

Der hat sich vollgepisst, verkündet Jara. Und Jenny langt durch die Lücke zwischen den Vordersitzen, um Jonas Hose zu befühlen. Iiiiiih, schreit Jara. Fahr raus, schreit Jenny ihren Mann an. Geht doch nicht. Müssen bis zur Raststätte. Sind nur noch ein, zwei Kilometer. Ein Polizist schreitet den Stau auf der Standspur ab und spricht jeden Fahrer durchs Fenster an. Als er bei Jens ist, verlangt er Führerschein und Fahrzeugpapiere. Hören Sie, sagt Jens, wir haben zwei kleine Kinder dabei. Da sind sie nicht die Einzigen, antwortet der Beamte. Sind Sie mit einer gebührenpflichtigen Verwarnung in Höhe von 90 Mark einverstanden? Er ist so wütend, dass er nur noch starr nach vorne schauen kann. Jenny nimmt die Papiere und den Strafzettel an und fischt das Geld aus der Seitentasche. Jetzt schleusen die anderen Polizisten die Autos vom Seitenstreifen auf die rechte Spur, wo es i Schritttempo weitergeht. Jara trommelt auf dem Tisch ihres Kindersitzes herum und singt: Jona ist ein Pissschwein, Jona ist ein Pisschwein. Ihr kleiner Bruder weint still vor sich hin.

Jens war sechzehn als seine Mutter starb. Der Vater nahm den Verlust der Gattin scheinbar nicht schwer. Seine erste Maßnahme nach der Beerdigung bestand darin, eine Haushälterin einzustellen. Eine Frau mittleren Alters vom Bauernhof, deren Dialekt kaum zu verstehen war, die aber hervorragend kochen konnte. Immerhin gestattete es ihm der Vater, aus dem alten Kinderzimmer im ersten Stock in den Anbau umzuziehen. Jens renovierte beide Zimmer und auch das Bad und kam sich sehr erwachsen vor mit der eigenen Wohnung, der eigenen Haustür und dem eigenen Schlüssel. Die wichtigste Person in seinem Leben, auch schon vor dem Tod der Mutter, war die Oma, die nur wenige Kilometer entfernt in Niederzier in einem winzign Haus aus den ersten Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts wohnte, in dem sein Vater geboren und aufgewachsen war. Seine Großmutter galt den Nachbarn als moderne Frau, weil sie nach dem Tod ihres Mannes nicht auf schwarze Kleidung umgestellt und sich zuhause verkrochen hatte. Im Gegenteil: Sie begann zu reisen, machte mit fast sechzig den Führerschein und kaufte sich ein Auto.

Weil Jens sich weigerte, neben der Ausbildung im Betrieb des Vaters auszuhelfen, bekam er kein Taschengeld mehr. Da half die Oma aus, die das Erbe ihres Gatten in den Sechzigerjahren klug angelegt und so ein kleines Vermögen erreicht hatte. Mit ihr konnte Jens offen reden. Ich verstehe, dass du Beamter werden willst, hatte sie gesagt nachdem die Eltern von seiner Berufswahl auf unterschiedliche Weise entsetzt und enttäuscht reagierten. Sicherheit, hatte Oma gemeint, ist auch ein starker Wert. Für viele Menschen stärker als Freiheit und Abenteuer. Jens fühlte sich verstanden und liebte Oma Niederzier umso mehr. Vernünftig wie die alte Dame war, gab sie am Tag nach ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag den Führerschein bei der Kreisverwaltung ab. Sie sei nun genug rumgegurkt, gab sie an. Und ließ das Auto auf Jens überschrieben, der kurz vor seiner Führerscheinprüfung stand. Der Ford vom Typ 12 m aus dem Baujahr 1968 war hässlich, aber zuverlässig. Ein steingrauer Zweitürer mit nur 50 PS, aber einem riesigen Kofferraum. Oma hatte ihn über fünfundzwanzig Jahre vom Joseph warten lassen, dem Treckermechaniker und Tankwart, der seinen Laden eigentlich schon 1982 aufgegeben hatte. Weil der alle Verschleissteile immer regelmäßig ausgetauscht hatte und sorgfältig gegen den Rost gekämpft hatte, stand der Wagen prächtig dar, als Jens ihn übernahm.

Ein Schild signalisiert die Einfahrt zur Raststätte. Es gibt einen Rückstau bis auf die rechte Fahrspur. Jens schlägt mit den Händen aufs Lenkrad und gibt einen Laut von sich, der seine Familie erstarren lässt. Jenny weiß, dass es jeden Moment aus ihm herausbrechen kann, dass er jederzeit zu einer brüllenden Tirade ansetzen könnte, in der er die ganze Welt beschuldigt und zuletzt Jenny und die Kinder. Und vor allem, dass es Jennys Idee war, nach Korsika zu reisen, und dass sie die Kinder nicht im Griff hat. Jetzt hat er sich vollgeschissen, kräht Jara, ich riech das! Jenny hat das Seitenfenster geöffnet, aber der Gestank von Kleinkinddurchfall zieht nicht so einfach aus dem Wagen. Schnall dich wieder an, brüllt Jens seine Frau an die den Gurt gelöst und sich weit aus dem Fenster gelehnt hat. Nun mach mich mal nicht für diese Scheißsituation verantwortlich, sagt sie aus Versehen. Und damit löst sie genau das aus, was sie befürchtet hat und vermeiden wollte.

Bist du oft hier? fragte er sie, weil ihm nichts Besseres einfiel. Nein, zum ersten Mal. Ich geh nicht viel weg. Die Golnaz hat mich mitgenommen, die ist mit ihren Brüdern hier. Aha, sagte Jens. Und du? Auch zum ersten Mal. War mit einem Kollegen verabredet. Jenny stand nun einen Meter vor ihm, und er spürte, dass er zitterte und dass sie es merkte. Magst du die Musik? fragte sie. Nicht besonders. Und du? – Auch nicht. Willst du was trinken? Jenny nickte. Cola? Sie nickte erneut. Endlich konnte er sich aus der Ecke lösen, in der sie ihn gestellt hatte. Später saßen sie am Tisch unter der Linde ganz hinten. Drinnen gab die Band eine Zugabe nach der anderen, während sich Jenny und Jens aneinander gewöhnten. Ab Oktober trafen sie sich jedes Wochenende mindestens einmal. Meistens in Aachen, wohin sie beide gut mit dem Bus kamen. Gingen ins Kino, saßen in Eiscafés oder gingen bei schönem Wetter im Westpark spazieren.

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