Die Familie J. (3)

Man muss es einen Wutanfall nennen. Jens lässt den Wagen einfach auf die Fläche hinter der Tankstelle rollen, trommelt mit den Händen auf dem Lenkrad und brüllt Unverständliches. Da bremst er abrupt, reist die Fahrertür auf und springt hinaus. Mitten auf einer Fahrspur quer durch den vollen Parkplatz steht der Kombi nun mit laufendem Motor. Jenny reißt die Handbremse hoch und versucht auf den Fahrersitz zu klettern. Hinter ihr hat sich eine Schlange gebildet. Die Hupen dröhnen, die Fahrer schimpfen. Also steigt sie aus und renn um die Motorhaube herum. Dabei sieht sie aus den Augenwinkeln Jens, der eine leicht abschüssige Wiese am Ende des Parkplatzes hinab läuft und dabei gestikuliert. Die Kinder weinen laut, als sie den Wagen endlich auf einen freien Platz bewegt hat. Sie schaltet den Motor aus und lässt den Kopf auf das Lenkrad sinken.

Dann haben sich auch Jara und Jona beruhigt. Jenny steigt langsam aus und atmet tief durch. Der Gestank im Inneren ist fürchterlich. Vermutlich hat sich nicht nur der Kleine in die Hosen gemacht, sondern seine große Schwester heimlich und leise in den Fußraum gekotzt. Um sie herum entsteht Bewegung. Hektisch rennen die Leute zu ihren Autos, Hunderte Motoren werden gestartet und langsam setzt sich alles in Bewegung. Der Stau auf der Autobahn hat sich aufgelöst, der Verkehr fließt wieder. Aber Jens ist verschwunden. Also nimmt Jenny die Kinder und geht langsam den kleinen Hügel zur Raststätte hinauf. Leise Fahrstuhlmusik im Verkaufsraum; zwei ältere Herren am Stehtisch trinken Bier aus großen Gläsern. Auch auf der Damentoilette ist niemand mehr. Sie kann Jona in aller Ruhe saubermachen und ihm saubere Kleidung anziehen. Auch für Jara hat sie frische Sachen mitgebracht. Dann bringt sie die Beiden an einem Tisch am Fenster unter und sucht im Selbstbedienungsbereich nach geeigneten Getränken und passender Nahrung.

Anderthalb Jahre später hatte Jens seine Ausbildung erfolgreich beendet und wurde zum Verwaltungsinspektor z.A. ernannt. Noch am selben Tag fragte er Jenny, ob sie ihn heiraten wolle. Da waren sie beide noch nicht einmal einundzwanzig Jahre alt. Sie sah ihn verständnislos an und fragte: Warum? Na, antwortete er, damit wir zusammen Kinder haben und eine Familie werden können. Sie nickte langsam und sagte nur: Darüber muss ich nachdenken. Damals war aus ihnen schon ein Liebespaar geworden. Ende November hatten sie zum ersten Mal miteinander geschlafen. Beide hatten keinerlei Erfahrung, und trotzdem war es schön und gut und in Ordnung wie sie da in seinem Bett im hinteren Zimmer nackt auf dem Laken lagen, sich berührten und dann instinktiv das Richtige taten. Gleich nach diesem Ereignis besprach sich Jenny mit der Tante, die ihr empfahl, die Pille zu nehmen. Nun schliefen sie regelmäßig miteinander, und manchmal blieb sie das ganze Wochenende über bei ihm.

Es war immer wieder Wolfram, der Motorradrocker und Kollege, der Jens animierte, etwas zu unternehmen. Von sich aus hätte er weder Konzerte besucht, noch Wochenendtrips unternommen oder sich Abende in Kneipen angetan. Jenny war meistens dabei. Aber alle Versuche Wolframs, ihn zu Kauf eines Motorrads zu überreden, scheiterten. Jens fuhr im grauen 12m, daran gab es nichts zu rütteln. Und weil er mit dem Auto unterwegs war, trank er keinen Alkohol. Das tat auch Jenny nicht, die ihn aber auf den Geschmack brachte, sodass er ab dem Frühjahr regelmäßig mit rauchte, wenn sie einen Joint gebaut hatte. Das Gefühl, ganz leicht bekifft zu sein, gefiel ihm, und er hatte nicht den Eindruck, es könnte seine Fahrtauglichkeit beeinflussen. Im September erneuerte er seinen Antrag, und Jenny sagte: Pass auf. Wir wollen doch im nächsten Sommer zusammen in Urlaub fahren. Machen wir doch Flitterwochen daraus. Heiraten wir vorher. Jens war glücklich und fand den Vorschlag äußerst gelungen.

Jens sieht seine Familie in der Raststätte. Bevor er an den Tisch kommt, holt er sich ein belegtes Baguette und einen großen Kaffee. Entschuldige, bitte, sagt er noch im Stehen und küsst seine Gattin leicht auf die Wange. Schon okay, sagt Jenny. Wird alles gut. Kinder sauber, kein Stau mehr. Er setzt sich und isst. Gibst du mir mal das Smartphone? Seine Frau reicht ihm das Telefon. Er schaltet es ein und wischt und tippt ein bisschen. Dann scheint er eine längere Botschaft zu verfassen. Wem schreibst du? Jens grinst und schüttelt den Kopf. Trinkt den Kaffee aus und geht mit dem Handy vor die Tür, wo er anscheinend ein längeres Gespräch führt. Jara und Jona sind satt und zufrieden. Komm, sagt Jenny, wir gehen noch ein bisschen auf den Spielplatz. Der Parkplatz liegt fast leer da, im Sandkasten eine Mutter mit ihrem Kind. Sie hat Eis besorgt, und die Kinder schlecken an ihren Portionen, während sie langsam ums Klettergerüst kreisen.

Die Hochzeit fand im kleinstmöglichen Kreis statt. Nur Wolfram und Golnaz begleiten sie als Trauzeugen aufs Standesamt in Aachen. Natürlich hatte sein Vater es rundheraus abgelehnt, an dieser – wie er es nannte – sinnlosen Zeremonie teilzunehmen. Tante Maria hatte nach Absprache mit Jennys Mutter ebenfalls abgesagt. Hinterher gingen sie um die Ecke in den Karlshof. Es gab Schnitzel Wiener Art mit lauwarmem Kartoffelsalat. Dann verabschiedeten sich die Trauzeugen, und Jens brachte Jenny nachhause, weil sie noch für die Reise zu packen hatte. Es wurde der perfekte Sommer. Die Fahrt nach Livorno verlief ruhig, die Autobahnen waren nicht allzu voll. Das Wetter war vom Tag der Abreise an durchgehend schön und mild. Die Insel begrüßte sie mit dem Duft der Macchia, den sie schon einige Meilen vor der Küste auf der Fähre schnupperten. Der erste Campingplatz an der Ostküste war schmutzig und laut, sodass sie nur eine Nacht blieben, um dann nach Calvi überzusiedeln.

Dort zelteten sie unter Pinien. Auch wenn ihre Luftmatratzen gleich in der ersten Nacht beide undicht wurden und sie über Woche auf Isomatten schlafen mussten, waren sie glücklich. Sie fanden eine Strandbude namens „U Pinu“, wo man sie schon am dritten Tag herzlich empfing, lagerten von morgens bis abends dort, holten sich Getränke bei Marie, der Tochter es Patron, oder ihrem Bruder Christophe. Mittags aßen sie Salada Nicoise oder Spaghetti oder Omelette. Alles war reichlich, lecker und erschwinglich. Jens hatte die winzigen Flaschen mit Kronenbourg-Bier für sich entdeckt, die kaum ein Glas füllten. Es wurde sein Lieblingsgetränk, und als Jahre später der Getränkemarkt in Würselen dieses französische Gebräu ins Sortiment nahm, begann er auch zuhause Bier zu trinken. Jenny bevorzugte den Rosé, den sie mit Wasser verdünnte. Nachdem ihnen auch der Gaskocher um die Ohren geflogen war, kamen sie schon zum Frühstück an den Strand, nahmen Café au lait und Croissants oder Brioches. Nach einer Woche fühlten sie sich sehr einheimisch.

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