Wietten und die Tilde (1)

Sie lag auf der Liege und er daneben im warmen Sand. Hob den Kopf, drehte sich seitwärts und stützte sich mit dem Ellenbogen ab. Ihr Körper wie die Landschaft. Sanfte Hügel mit einem delikaten Gebüsch in dem einen Tal. Vielleicht, dachte Wietten, lieben die Menschen ja deshalb solche Landschaften, weil sie an den nackten Leib einer schönen Frau erinnern. Später standen sie nebeneinander auf dem Steg in der Abendsonne. Sie lehnte sich an ihn, den Kopf schräg an seine Schulter. Er hatte seinen linken Arm um ihre Hüfte geschlungen. Zuvor waren sie ruhige Bahnen geschwommen und miteinander zu reden. Sie ließen die Liege am winzigen Sandstrand stehen. Dann fuhren sie los.

Der Geländewagen zog sich mühsam die Böschung hinauf, rutschte auf dem langen Gras seitlich weg bevor die Vorderräder den Rand des Schotterwegs zu fassen bekamen. Wietten bewegte das schwere, alte Auto vorsichtig auf dem steilen Pfad. Mehr als Schritttempo war nicht möglich bis zum asphaltierten Weg jenseits der Kuppe. Davor lag irgendwo die Baumgrenze. Sie umkurvten den nächsten Gipfel und fuhren dann die lange, lange, gerade Straße hinab ins Hochtal. Frisch geteert und mit frischen Markierungen versehen, als sei dies eine Fernverbindung. Sie sprachen nicht. Vermutlich, so sah Wietten es, hatten sie sich alles Wesentliche schon erzählt. Und weil sie seit acht Wochen alles gemeinsam erlebten, gab es auch nichts Neues, was sie zu besprechen hätten.

Sie sprach ohnehin nicht viel. Du bist ganz schön wortkarg, hatte er schon am zweiten Tag bemerkt. Sie nickte nur schwach und sah ihn ruhig an. So wie sie ihn meistens ruhig ansah. Mit einem Gesichtsausdruck, der mild spöttisch wirkte. Sie hatte verneint, dass sie immer belustigt ausschaue, wenn sie ihn sähe. Es sei nun mal ihre Physiognomie. Unterwegs trug sie eine altmodische Sonnenbrille und einen Hippie-Hut. Wolken zogen schnell über die Ebene und malten Muster auf den Grund. Im Wald wechselten sie erneut auf eine Schotterpiste. Fast eine Stunde lang ging es durch dichtes Holz und bergan.

Pie-Peter stand in der Tür der Hütte und wartete. Er nutzte die Schrotflinte als Stütze und schlug mit der anderen Hand nach den Moskitos. Als Wietten den Motor abstellte, hörte man nur noch das Sirren der Insekten und das Brummen des Generators. Sie blieb sitzen. Die Männer gaben sich die Hand. Peter zeigte mit dem Kinn auf den Jeep: Wer ist das? In diesem Moment öffnete sie die Tür und stieg ebenfalls aus. Der Einsiedler ließ die Atemluft durch seine Zahnlücken pfeifen und musterte sie interessiert. Sein Blick bewegte sich von ihren Füßen hoch zu ihrem Kopf wie die Fotozellen in einem Kopierer. Ist das deine? Wietten reichte ihr die Hand und zog sie sanft in seine Richtung: Das ist Pie-Peter, der Waldwart. Er heißt Pie-Peter, weil er von sich behauptet, er könne aus jeder Zutat eine Pie backen. Sie sah Peter freundlich an und nickte.

Während Wietten am Computer saß und versuchte, die Störung zu finden und zu beheben, redete Peter ohne Pause auf ihn ein. Wie sie heiße, woher er sie kenne, seit wann er sie kenne, ob er mit ihr schliefe, was er mit ihr vorhabe und dass sie eine sehr attraktive Frau sie. Er, fügte der Waldwächter an, habe ja nun schon lange keine Frau mehr gehabt. Also, jedenfalls nicht, so lange er hier auf Posten sei. Und vorher auch für einige Zeit nicht. Im Display des Notebooks spielte sich Peters Kopf. Als Wietten vor vier, fünf Monaten zuletzt hier war, hatte der Eremit noch einen gepflegten Bart und gestutzte Haare. Jetzt sah er aus wie eine Rohrbürste mit drahtigen, schwarzen Borsten rund herum. Peter roch auch nicht gut. Aber das fiel in der vollgestopften Holzhütte mit ihrem üblen Geruch nicht weiter auf.

Sie hatte erst am Wagen gewartet, war dann einma rund ums Haus gegangen und hatte ein paar Meter entfernt einen Felsen gefunden, auf dem sie jetzt in der Sonne saß. Dann kam Peter mit einem großen Glas Limonade: Hab ich selbstgemacht. Sie lächelte ihn an, nahm das Getränk und nippte daran. Ah, gut sagte sie. Der Waldmensch dachte deutlich sichtbar darüber nach, worüber er mit ihr reden könnte. Und, fragte er schließlich, Wietten ist nett, oder? Sie nickte. Ja, dann will ich mal nachsehen, ob er schon fertig ist.

Sie hatten sich im März bei einem Barcamp in H. kennengelernt, wo er einen Vortrag über die Datenkraken gehalten hatte. Ganz praktische Tipps hatte er präsentiert, wie sich jeder mit wenig Aufwand dagegen schützen könne, von den sozialen Netzwerken ausgehorcht zu werden. Nur ein gutes Dutzend Teilnehmer hatte sich in den fensterlosen Raum verirrt, und keiner von ihnen schien wirklich interessiert. Während der Dreiviertelstunde, in der er sprach und Folien präsentierte, hatte die Mehrzahl von ihnen ein Smartphone oder Tablet in der Hand, auf das ihre Blicke gerichtet waren. Vielleicht war er den Nerds im Publikum einfach zu alt. Niemand, den er beim Barcamp sah, war anscheinend mehr als halb so alt wie er. Wobei ja kaum einer ahnte, dass er ein halbes Jahr zuvor siebzig geworden war.

Einer kam nach vorne, nachdem er seine Präsentation beendet hatte, und sagte kurz: Cooler Vortrag. Wandte sich und ging. Er packte seine Sachen zusammen. In der Tür stand sie, angelehnt, sah zu ihm rüber und lächelte. Als er auf gleicher Höhe mit ihr war, sagte sie: Gehen wir was trinken? Später nahmen sie ein Taxi. Sie wohnte im Dachgeschoss einer alten Villa. Eine Art Anderthalbzimmer-Appartement mit offener Küche und einem winzigen Schlafraum, den das Bett fast ganz ausfüllte. Hinter dem Kopfende ein quadratisches Fenster, aus dem man einen Blick über den Park und den See hatte. Sie hatten die Droschke unterwegs beim Libanesen halten lassen und saßen nun schweigend am Tisch und aßen. Ab und zu warf sie ihm einen Blick zu. Nach der dritten Flasche Weißwein sagte er: Ich heiße Jensen Wietten. Und du? Weiß ich doch, sagte sie, stand doch im Programm. Nach einer Pause: Ich heiße Tilde.

Danach tanzten sie zu imaginärer Musik im Dunklen. Nur beleuchtet vom blassen Schein der Straßenlaternen. Küssten sich im Stehen bis sie sein Hemd aufknöpfte. Später lagen sie sich wach in den Armen, und plötzlich lachte sie laut und fröhlich: Ey, das war aber mal so richtig schön. Lass uns zusammenbleiben.

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