Wietten und die Tilde (4)

Er erinnerte sich an das Zimmer in der Villa, in dem sie zum ersten Mal zusammenkamen. Da stand eine mächtige Stereoanlage mit gewaltigen Boxen und einem Highend-Plattenspieler. Eine Wand war ganz bedeckt mit Regalen, in denen Hunderte Schallplatten lagerten. Überall Modelle von Autos. An den Wänden gerahmte Schwarzweißfotos schöner Frauen. Dazu ein Tisch gefüllt mir Whisky-Flaschen verschiedener Sorten. Ganz eindeutig ein Männerzimmer. Im wurde klar, dass sie dort nicht wohnte, sondern das Appartement nur nutzte. Vielleicht als temporäre Unterkunft gemietet. Und dann ihr eigenartiger Rucksack, das einzige Gepäckstück, das sie besaß. Jetzt im Zug hatte sie das Ding auf einem Sitz abgestellt. Groß wie ein Koffer, wie die Ausrüstung eines Backpackers, und prall gefüllt. Das untere Drittel war vom Rest abgetrennt und mit einem eigenen Reißverschluss versehen. Vielleicht war sie eine moderne Nomadin, vielleicht hatte sie gar keinen festen Wohnsitz. Ihm war aufgefallen, dass sie offensichtlich nur einen begrenzten Bestand an Kleidung besaß, den sie aber geschickt zu kombinieren wusste.

Dabei zählte er sich selbst zu den digitalen Nomaden, denn auch er hatte keinen festen Wohnsitz mehr. In den Monaten, in denen er als IT-Nothelfer unterwegs war, lebte er in Hotels. Gelegentlich mietete er für ein paar Wochen ein Haus vor Ort. Und in seinem offiziellen Wohnort parkte das Reisemobil, das er kurz nach Gertis Tod angeschafft hatte. Seinen gesamt Besitz hatte er in Mietlagern untergebracht; eine Garage diente ihm als Kleiderschrank, den er vier, fünf Mal im Jahr aufsuchte, um die passende Kleidung für die jeweilige Jahreszeit oder den nächsten Zielort einzupacken. Nur während seiner zweiten und dritten Ehe hatte er gelebt wie ein Normalbürger: Gattin, Kinder, Hund, Haus und Garten. Sein Eigenheim hatte er sofort nach der Entlassung aus der Untersuchungshaft verkauft und einen Teil des Erlöses in den komfortablen Wohnbus investiert, den er viel zu selten nutzte.

Als sie kurz hinter Straßburg auf die Toilette ging, konnte er seine Neugier nicht mehr kontrollieren. Er öffnete vorsichtig das untere Abteil ihres Rucksack und stieß auf etliche Bündel Banknoten. Trug sie ständig ihr Erspartes bei sich? Ein Erbe? Arbeitet sie als Geldkurier? Für eine Geldwäscheorganisation? Wietten war verwirrt und wusste nicht, wie er mit dem Fund umgehen sollte. Wann und wie sollte er sie darauf ansprechen? Sollte er sie überhaupt darauf ansprechen? Natürlich hatte er schon bemerkt, dass sie nie etwas zahlte, sondern sich immer von ihm freihalten ließ. Offensichtlich besaß sie nicht einmal ein Portemonnaie, geschweige denn eine Bank- oder Kreditkarte. Dann kehrte sie zurück an ihren Platz, lächelte ihn an und sah weiter aus dem Fenster auf die ausgetrocknete Landschaft dieses Sommers.

Ob sie nach der Zeit in Paris Lust auf ein paar Wochen Ferien an einem einsamen See in der Gegend um U. habe, fragte er. Sie nickte heftig. Ich liebe Seen mehr als das Meer, sagte sie. Gut, gab er zurück, und auf dem Rückweg fahren wir bei Pie-Peter vorbei, dem Dateneremiten; der braucht mich gelegentlich. Tilde strahlte, lehnte sich an ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Als er am ersten Abend vom Kunden zurückkehrte und sie unter der Dusche stand, stellte er fest, dass der untere Teil ihres Rucksacks zusammengefallen war – ganz offensichtlich hatte sie das Geld entnommen und weggeschafft. Dafür hatte sie plötzlich eine Handtasche, und als sie im Printemps ein schickes Oberteil kaufte, zahlte sie in bar mit einem großen Schein, den sie einer brandneuen Geldbörse entnahm. Weil sie sich beide nichts aus Sterne-Restaurants machten, kehrten sie in einem halbwegs authentischen Bistro an der nächsten Ecke ein, aßen Steak frites und tranken Bier. Später in der Nacht waren die Straßen in der Resthitze des Tages noch sehr belebt, und sie schlenderten den Boulevard St. Michael einmal hinauf und hinab, um zuletzt noch einen Absacker im Bistro zu nehmen.

Dies war genau das Leben, dass er sich früher oft erträumt, aber nie geführt hatte. Wann auch? Wieder als Jüngster hatte er sein juristisches Staatsexamen abgelegt. Mit neunzehn war er Susanne wiederbegegnet, einer Schulkameradin, und sie hatte sich ineinander verliebt. Mit knapp zwanzig heiraten sie. Er war als junger Anwalt in einer spannenden Kanzlei seiner Heimatstadt eingestiegen, und Susanne arbeitet nach ihrer Buchhändlerlehre in einem Sachbuchverlag. Eltern und Schwiegereltern waren glücklich. Über drei Jahre hinweg führten sie ein ruhiges Leben, hatten einen kleinen Freundeskreis und pflegten die sozialen Kontakte zu Kollegen nur im absolut nötigen Maß. Den Sommerurlaub verbrachten sie immer im selben Ort an der See. Ihre Wohnung war klein und hübsch und verkehrsgünstig gelegen. Sie hätten glücklich sein sollen. Aber je gesichert ihre Situation wurde, desto weniger liebten sie sich. Und in ihrem letzten Sommer gingen sie beide beinahe gleichzeitig fremd. Die Paare, in die sie so eindrangen, kannten sie schon eine Weile. Während es bei ihm aber bei einer kurzen Affäre blieb, verliebte sich Susannen Hals über Kopf in M. und eröffnete ihm, dass sie mit dem neuen Mann zu leben gedachte. Das war das Ende seiner ersten Ehe.

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