Wietten und die Tilde (6)

Am folgenden Morgen beim Frühstück sagte sie ihm, dass sie abreisen werde. Sie müsse nach W. zu einer Freundin. Er hakte nicht nach, und eine Stunde später war sie weg. Vorher hatten sie sich verabredet: am 29. in K. am Dom, zehn Uhr vormittags am Haupteingang. Wietten hielt diese Angaben für rein symbolisch und war sich sicher, sie nie wieder zu sehen. Dann saß er lange auf der Spitze der Insel, blickte auf den Fluss und zwang sich, nicht über Tilde nachzudenken. Er beschloss, sie solle ihm ein Rätsel bleiben, eine letztes schönes Aufflackern von Liebe und Sex in seinem Leben. Doc George, sein Leibarzt, hätte darüber gelacht. Als Wietten vor zwei Jahren bei ihm zur Rundum-Untersuchung war, hatte der Freund aus alten Tagen am Ende gesagt: Jensen, du hast den Körper eines Mannes von Mitte Fünfzig, keine Ahnung warum. Und im Kopf bist du nie älter als Dreißig geworden. Der Doc hatte sich über dieses Statement vor Lachen ausgeschüttet, aber sein Patient nahm die Aussage schweigen und eher nachdenklich hin: Wie war ich mit Dreißig?

An diesem heißen und windstillen Tag in Paris, der nur im Schatten zu ertragen war, fragte er sich etwas anderes: Wie lange habe ich noch? Er dachte an diesen Musiker, diesen Bandleader, der Millionen mit Partymusik gemacht hatte. Den hatte er in einer Talkshow erlebt, da war der 82 Jahre alt. Wie lange er denn noch leben wolle, fragte man den Mann, und er antwortete: Ich bin jetzt schon in der Zugabe. Kurz nach seinem 84. starb er dann. Wietten wünschte sich noch ein paar Jahre. Bald, das war ihm klar, müsste er von der Schnellspur abbiegen und sein Leben beruhigen. Er würde sich niederlassen, nicht mehr arbeiten, sich vielleicht einen Hund anschaffen. Möglicherweise eine Hundehalterin kennenlernen, die dürfte schon ein paar Jahre jünger sein. Und sie würden dann gemeinsam mit den Hunden gehen und sich mögen und dann viel Leben teilen. Das wäre schön, dachte er.

Die Situation mit Tilde erinnerte ihn ein wenig an seine dritte Ehe mit Yvonne. Vorher war er ganze sechs Monate mit Ulla verheiratet gewesen, einem Mauerblümchen, das ihm nachgelaufen war und geschmeichelt hatte. Sie verstand sein Leben nicht, liebte ihn aber sehr, hing an seinen Lippen und war ohne hin hilflos. Leider hatte er sie bei einem der ersten Male gleich geschwängert, und als klar war, dass sie ein Kind bekommen würde, hatte er seine Pflicht getan und sie geheiratet. Nicht ohne einen gewissen Druck seines Vaters, der viel auf Anstand und Ehre hielt. Mit Ulla hatte er sich nie gestritten. Aber sie hatten in den kaum zwei Jahren ihres Zusammenseins kaum je ernsthaft miteinander geredet. Und sich auch nicht sehr oft gesehen. Seine wilde Zeit nach der ersten Scheidung hatte ihn in die Kunstszene gebracht. Plötzlich war er Assistent eines Kunsthändlers geworden, der sich Berater nannte.

Tatsächlich bestand seine Hauptaufgabe darin, seinen dauerbetrunkenen, führerscheinlosen Chef durch die Gegend zu chauffieren und ihm die nötigen Drogen und Medikamente zu besorgen. Weil er deshalb praktisch rund um die Uhr bei diesem Mann war, fand er rasch einen Einstieg in diese merkwürdige Gesellschaft der Künstler und der Kunstkäufer. Das Hauptgeschäft aber machte sein Arbeitgeber, indem er für Unternehmen Gemälde, Skulpturen und Installationen kaufte, mit denen diese ihre Gebäude und Büros schmückten. Zudem handelte er im Auftrag zweier vermögenden Männer, einer von denen der zweitreichste Mann des Landes damals, und kaufte denen mit praktisch unbegrenztem Budget Sammlungen zusammen, die jedes Jahr zuverlässig im Wert stiegen. Yvonne war die Großcousine des anderen Reichen, zukünftige Erbin, promovierte Kunstwissenschaftlerin, die über Hercules Seghers gearbeitet hatte, das Grundlagenwerk verfasst hatte, aus dem alle späteren Autoren ungeniert abschrieben.

Sie war eine ziemlich kleine, schmale Person mit langen schwarzen Haaren und einem leichten Flaum auf der Oberlippe, die man öffentlich nie ohne enge schwarze Hosen sah, weil sie so ihre Beinbehaarung verbarg. Überhaupt hielten viele sie für eine Tochter von Juliette Greco. Wo in diesem kleinen Körper, sie wog nie mehr als 80 Pfund, die knarzige Altstimme gab, blieb ihm immer ein Rätsel. Aber es war genau diese Stimme, in die er sich haltlos verliebte. Der Großonkel hatte sie als Kontaktperson zum Kunsthändler installiert, und so telefonierten sie anfangs beinah jeden Tag. Wietten stellte sich eine schwere Brünette vor mit starken Augen und war natürlich überrascht, als er Yvonne zum ersten Mal in natura sah. Sie aber verliebte sich bei dieser Begegnung haltlos und auf ewig in den großen schönen Kerl, der er damals war. Sie zogen nach Paris, lebten aber nur de jure zusammen. Wenn er nicht mit dem Händler irgendwo in der Welt die Ateliers der größten zeitgenössischen Künstler besuchte, dann war sie es, die drei Wochen auf Bali verbrachte oder für zwei Monate nach San Francisco gereist war. Er wusste nie genau, wo sie war – erst nach ihrer Rückkehr gab sie Auskunft über den Ort und den Sinn der Reise.

Sie bewahrte ein großes Geheimnis in sich, dass er nie lüften konnte. Manchmal verschwand sie für drei, vier Tage spurlos und kam völlig erschöpft zurück, oft körperlich fast am Ende, sodass er sie tagelang versorgen und aufpäppeln musste. Sie wirkte, als habe sie an den Tagen ihrer Abwesenheit nichts gegessen, aber viel Alkohol getrunken oder Drogen konsumiert. Oder wie jemand, der einen Doppel-Marathon absolviert hatte. Als er beim ersten Mal fragte, was sie denn getrieben habe, schlug sie ihn heftig ins Gesicht und schrie ihn an, es gehe ihn nichts an. So ging er in der Folge dann auch mit ihren Eskapaden um.

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