Wietten und die Tilde (7)

Der Raubüberfall auf die Tankstelle am nördlichen Verteilerring von F. kam in den französischen Nachrichten nicht vor, und Wietten erfuhr erst davon, als er im Thalys eine deutsche Zeitung fand. Die Entfernung vom Hotel und zum Hauptbahnhof passte, der zeitliche Ablauf auch. Nur bei der Beschreibung des Täters kamen ihm Zweifel. Obwohl jemand, der solche Verbrechen öfter beging, sich vermutlich bestens mit Verkleidungen auskannte. Die erbeutete Summe konnte dem Geld entsprechen, das er in ihrem Rucksack entdeckt hatte. Alles zusammen ergab das Bild einer romantischen Räuberin, die im Raub eine reale Möglichkeit sah, ohne zu arbeiten ein komfortables Leben zu führen. Wietten erinnerte sich an Filme aus den Fünfzigern und Sechzigern, französischen und auch deutschen Filmen, in denen der Dieb als ehrbarer Handwerker dargestellt wurde mit einer Ganovenehre und der Schmiere als Feind. Gerade Lino Ventura hatte er in solchen Streifen geliebt, und natürlich waren die Kriminellen auch für ihn die wahren Helden.

Er wollte nach seinem Bus sehen und mit Gerd vom Stellplatz reden, ob der sich in der Lage sah, das Reisemobil für ihn zu verkaufen. In K. nahm er einen Mietwagen und fuhr ohne Eile und über Land nach M., dem Ort, an dem er die längste Zeit seines Lebens gemeldet war ohne dort je über mehr als ein halbes Jahr gewohnt zu haben. Diese mittelgroße Universitätsstadt war ihm immer fremd geblieben, die Mentalität der Bewohner fand er abstoßend, und mit der nie endenden Hysterie der Studenten hatte er auch nichts zu tun. Und doch war M. eine angenehme Stadt mit hübschen Ecken, netten Kneipen und Restaurants und einem schönen See. Gerds Campingplatz lag etwas außerhalb und östlich an einem Flussufer. Der Besitzer saß wie immer in seinem Büro am Computer und tat so, als würde er arbeiten. Ohne zu klopfen trat Wietten ein und sah noch die Bilder mit nacktem Fleisch vom Bildschirm verschwinden.

Die wechselten gemeinsam in das Platzrestaurant und bestellten Mittagessen. Gerd war in einem Alter, dass er Wiettens Sohn hätte sein können, aber der Platzwirt betrachtete seinen Stammgast eher als den entfernten Onkel, der nur selten vorbeischaute und Geschichten aus seinem abenteuerlichen Leben mitbrachte. Von Tilde erfuhr er allerdings nicht, zumal Wietten mehr davon erzählte, was er in Zukunft vorhabe. Natürlich könne er das Mobil für ihn verkaufen, das dürfte nicht lange dauern, einen Interessenten zu finden. Ob er den Kauf auch abwickeln und seine persönlichen Sache aus dem Bus holen und lagern könne. Ja, auch das, antwortete Gerd. Aber dafür brauche er eine Vollmacht. Und rief noch vor dem Rinderbraten seinen Anwalt an, der Dauercamper auf dem Platz war. Sie tranken um Abschluss einen Kaffee und gingen rüber ins Büro. Gerd übergab Wietten seine Post und den Schlüssel zum Bus.

Ihr Brief steckte in einem schneeweißen Umschlag höchster Qualität. Er sah um ersten Mal ihre Handschrift. Offensichtlich hatte sie einen teuren Füllfederhalter benutzt mit einer Tinte, die dunkelpurpurfarbene Spuren hinterließ. Eine expressive Handschrift auf feinem Papier.

„Mein Lieber, mir ist es schon immer leichter gefallen, mich schriftlich auszudrücken als im Gespräch. Ich weiß, dass du mich für wortkarg hältst. Aber in Wahrheit bin ich so voller Worte, dass ich sie spontan beim Sprechen kaum ordnen kann. Ich weiß auch, dass du erkannt hast, dass ich dir gegenüber etwas geheimhalte. Ich ahne, dass du herausgefunden hast, was es ist. Und ich muss gestehen, dass es dieses Geheimnis ist, dass dich anfangs für mich so interessant gemacht hat. Ja, ich ernähre mich durch Diebstahl und Raubüberfall. Und, ja, ich war das mit der Tankstelle vor zehn Tagen. Du wirst nach dem, was du von mir weißt, vielleicht verstehen, dass ich nicht die geringste Veranlassung sehe, mich für mein Tun zu rechtfertigen. Es ist mein Beruf. An diesem Barcamp in H. habe ich nur teilgenommen, weil ich quasi einen neuen Geschäftszweig in Betracht gezogen habe: Diebstahl ohne physische Anwesenheit. Ich habe nach einem Berater und Mentor gesucht und dich entdeckt. Nun habe ich mich in dich verliebt, und das macht die Sache kompliziert. Auch dieses, nennen wir es: Geständnis macht es nicht einfacher. Jetzt bist du am Zug. Wenn du mich trotzdem noch willst, sei am 29. in K. In Liebe deine Tilde“

Es war zu warm im Bus, und er schaltete die Klimaanlage ein und nahm eine kühle Dusche. Gerd hatte den Kühlschrank gut gefüllt. Wietten trank sehr rasch nacheinander zwei kalte Flaschen Bier, ging in die Koje und schlief sofort ein. Er träumte von einer Flucht. Er war der Fahrer, saß in einem altmodischen Jaguar mit laufendem Motor, die Beifahrertür geöffnet. Dann kam sie aus der Bank, rannte auf ihn zu. Schüsse fielen, sie stürzte. Der Traum spulte zurück, und dieses Mal war es ein Porsche. Wieder traf sie ein Schuss. Dann sah er die Szenerie von oben. Dann war er der Gejagte. Oder sie hockten in einem schäbigen Hotelzimmer, die Bettdecke übersät mit Banknoten. Eine Flucht über die Dächer, durch schmale Gassen, in dunklen Gängen, durch den Wald. Er hatte noch vier Tage zu entscheiden, ob er sie in K. treffen wollte.

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