Sag einfach nichts

Von Anfang an hab ich Ivo total vertraut. Wenn der gesagt hat, das machen wir so und so, dann hab ich genickt, und dann haben wir das so gemacht wie er gesagt hat. Denken Sie aber nicht, ich wäre so eine naive, dumme Nuss, die macht, was so’n Typ befiehlt, weil der stärker ist, schlauer und älter. Mein Vertrauen kommt aus Erfahrung. Hab ganz schön viel Erfahrung mit Menschen, weiß praktisch immer sofort, ob man einem vertrauen kann oder nicht. Mein Vertrauen in Ivo hat sich auch immer ausgezahlt in den zweieinhalb Jahren. Wir sind uns in einem leerstehenden Haus in R. begegnet, wo ich Platte machen wollte. War so ein Geheimtipp bei den Mädels. Da kommt nie jemand hin, schon gar kein Mann, da bist du safe, hatte Pinky gesagt. [Lesezeit ca. 5 min] „Sag einfach nichts“ weiterlesen

Wandelbar

Weit nach Mitternacht verließ Kaltenburg den Gasthof, um den Hang zu besteigen, der sich westwärts erhob. Hinterm Haus überquerte er den Bergbach. Die Neumondnacht war sternenklar und windstill. Er trug eine Stirnlampe, die beunruhigende Schatten im Rhythmus seiner Schritte warf. Im Unterholz hörte er das Raunen und Wispern verschiedener Tiere. Zunächst wand sich der Pfad durch Buschland, dann durch ein lichtes Gehölz mit niedrigen Bäumen. Unter den hohen Tannen und Fichten begann ein schnurgerader Weg aufwärts zum Kamm. [Lesezeit ca. 2 min] „Wandelbar“ weiterlesen

Der Furz des Lebens

Wir sehen Onkel Gerd wie er lässig und leicht zurückgelehnt in einem windschiefen Campingstuhl in der Sonne sitzt. Er trägt ein beinahe weißes Unterhemd und eine verwaschene, dunkelgrüne Turnhose, von der er sagt, die sei ein Teil seiner Wehrmachtsausrüstung. Rund um den Tisch stehen und sitzen seine Brüder mit ihren Frauen, sein bester Freund und Bekannte, die ihn sonntags im Schrebergarten besuchen. Kinder spielen zu seinen Füßen. Er hat eine Zigarette in der Hand und grinst in die Kamera. [Lesezeit ca. 9 min] „Der Furz des Lebens“ weiterlesen

Nicht länger als

Auf dem Boden liegen. Atmen. Die Arme neben dem Körper, die Handflächen nach oben. Auf einem Teppich. Träumen. Nie länger als eine halbe Stunde. Langsamer Übergang in eine sitzende Position. Mit den Händen über das Gesicht streichen. Die Gerüche wahrnehmen. Sich erinnern. Alles, was du bist, bist du seit gestern. [Lesezeit ca. 5 min] „Nicht länger als“ weiterlesen

Ein pinkes Plastikpony

Gerade habe ich Wasser nachgefüllt. Keyla steht in der verbeulten Zinkwanne, während ich die Gießkanne halte. Ich sehe Leissa in ihr. Als ich meine Frau kennenlernte, war sie kaum drei Jahre älter als meine Tochter jetzt. Ein Jahr später habe ich sie zum ersten Mal geschwängert. Sie sind sich ähnlich. Ich kann erkennen, wie Keyla als Erwachsene aussehen wird. Jetzt sitzt sie wieder im Wasser und wäscht ihre Spielfiguren, die sie nachts auf einem Brett neben ihrem Bett abstellt: ein Playmobil- und ein Lego-Männchen, eine He-Man-Figur, eine Barbie und das Wunderpony, das ich ihr neulich mitgebracht habe. [Lesezeit ca. 3 min] „Ein pinkes Plastikpony“ weiterlesen

Noch im Winter

Es war das letzte Haus in der äußersten Siedlung im Vorort der Kleinstadt, unmittelbar angrenzend an die Felder und Weiden der Großbauern, deren Höfe jenseits des Waldstücks lagen, auf das wir aus dem Küchenfenster und dem Bad blickten. Die Straße war bis zur Garagenauffahrt asphaltiert und ging dann zunächst in eine Schotterstrecke und zwanzig, dreißig Meter weiter in einen Feldweg über, der in sanften Bögen zwischen den Äckern zum Busch führte und dort ohne besonderen Grund endete. Gästen, die mit dem Auto anreisten, sagte der Vater immer, sie sollten bedenken, dass man vor unserem Haus nicht wenden könne. Den Garten hatte er mit einem außergewöhnlich hohen Zaun umgeben lassen, und es kam mir immer so vor, als habe er das nicht getan, um unser Grundstück zu schützen, sondern um eine deutliche Grenze zwischen der Zivilisation und der aus seiner Sicht rauen Wildnis zu markieren, denn er war Zeit seines Lebens ein sehr urbaner Mensch. „Noch im Winter“ weiterlesen

Seine Freundin

Stell dir einen Typ am Biertisch vor. Anfang Fünfzig, eine ordentliche Wampe über ziemlich dünnen Beinen, imposanter Schädel, dichter, schwarzer Vollbart und eine dicke Brille mit dunklem Gestell. Nennen wir ihn Matthias. Wie er da so am Stehtisch draußen vor der Hausbrauerei steht und sein Bier trinkt. Er war mein Freund, und ungefähr einmal im Monat trafen wir uns da, um miteinander zu reden. Selten oder nie ging es um persönliche, um private Dinge. Meistens erzählten wir uns Geschichten über Ereignisse, die wir miterlebt oder beobachtet hatten, oder über die politische Situation oder was uns sonst aufgefallen war. Eigentlich sind wir erst sehr spät Freunde geworden. Über Jahre waren wir Kollegen, im Beruf auch Kontrahenten, aber im Streit lagen wir nie miteinander. Matthias hatte seine berufliche Laufbahn unter meiner Leitung begonnen. Später war er bei einem großen Unternehmen angestellt, während ich freiberuflich wirkte. Einige Male, eine Zeit lag sogar regelmäßig, schob er mir Aufträge zu. „Seine Freundin“ weiterlesen

Nicht mein Typ

Es war von Anfang an klar, dass wir Sex miteinander haben würden. Dabei war sie nicht mein Typ, und ich – wie ich später erfuhr – auch nicht ihrer. Im Gegenteil. Wir begegneten uns im Rahmen einer ziemlich großen Familienfeier, von der wir den größten Teil verpassten. Ich war der Einladung gefolgt, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, ob und wie ich mit den Gastgebern verwandtschaftlich verbunden war. So war ich auch gar nicht erst zu dem Teil der Feier gegangen, die am Morgen stattgefunden hatte, irgendeine Taufe, Trauung oder Beerdigung. Das Fest am Nachmittag, das man irgendwo auf einem idyllischen Gutshof organisiert hatte, den man für so etwas mieten konnte, hatte ich mir auch geschenkt; es wären mir vermutlich zu viele Kinder dort gewesen. Also fand ich mich erst zur Party ein, so gegen elf. „Nicht mein Typ“ weiterlesen

Hahnenkampf

Es war eine dieser Gruppen, bei denen zwei Kerle das Wort führen und immer darauf schielen, ob die Frauen am Tisch sie toll finden. Leider hatten sich die fünf Männer und vier Frauen an dem langen Stehtisch in der Schwemme angesiedelt, an dessen Kopfende ich meinen Stammplatz habe. Und weil sonst nichts Besseres frei war, hatte ich mich dort niedergelassen. Die Herren redeten ständig ein bisschen zu laut und lachten zu heftig, und der eine versuchte ständig besonders witzig zu sein. Drei der Damen hockten nebeneinander auf der Bank wie die Hühner auf der Stange und gackerten kollektiv, wenn einer der Jungs einen lustigen Satz in die Runde geworfen hatte. Dann gingen zwei Frauen zusammen aufs Klo, die Sitzordnung veränderte sich, und plötzlich saß sie neben mir – wir beide übereck am Tischende. „Hahnenkampf“ weiterlesen

Ein aufrechter Deserteur

Von seiner Vergangenheit erfuhren wir erst lange nach seinem Tod. Onkel Paul war nach dem Tod seiner Frau nach Holstein gezogen, in einen Ort, der zu groß war für ein Dorf und zu klein für eine Stadt. Dort galt er als der Kommunist. Mit dem evangelischen Pfarrer hatte er sich angefreundet und einige Nächte hindurch diskutiert, über Gott und die Welt. Der Pastor war es auch, der mir die Geschichte von Onkel Paul erzählte als ich nach Jahren zufällig in diesem Ort strandete. Mir fiel die bewegende Grabrede, die der Geistliche bei der Beerdigung gehalten hatte. „Ein aufrechter Deserteur“ weiterlesen

Fremdes Geld

Schein zählte die Banknoten umständlich auf den Küchentisch. Ingola griff sich eine und betrachtete das fremde Geld sorgfältig. Echt? fragte sie, aber Schein zuckte nur kurz mit den Schultern. Im Licht der Leuchte im Dunstabzug stand Kilian mit den Rücken zu ihnen und rauchte. Wo wir das ausgeben, ist egal, sagte er. Ein Auto fuhr vor, der Motor wurde abgestellt. Kilian trat auf den Küchenbalkon, kam zurück und sagte: Keiner von uns. Die Katze tigerte durch den Raum und sprang aufs Fensterbrett. Wann geht’s los? fragte Schein nachdem er fertig war. Übermorgen, antwortete Kilian. Noch jemand Wein? Ingola hatte die Flasche schon in der Hand. Beide Männer nickten. „Fremdes Geld“ weiterlesen

Randfigur

Jemand hat dieses Zeitungsbild abfotografiert. Man erkennt die Rasterpunkte. Außerdem ist das Foto verwackelt und in weiten Teilen unscharf. Mit Mühe lässt sich erkennen, dass es am J.-Platz aufgenommen wurde, lange vor dem Umbau. Damals gab es hier einen Straßenbahn- und Busknotenpunkt. Der Blick geht aus mittlerer Entfernung Richtung Fußgängerzone. Der Bereich davor öffnet sich auf den Betrachter hin zu einem Platz. An der linken Ecke, unmittelbar vor dem Eingang zu einem modernen Gebäude, steigt schwarzer Rauch auf. Zwei Personen laufen dicht hintereinander von links nach rechts durchs Bild. Sie sind allein schon durch die Bewegungsunschärfe nicht identifizierbar. Genau im Zentrum aber, ein wenig im Hintergrund, neben einem schwächlichen Baum, steht eine Person. Sie trägt vermutlich einen damals üblichen Parka. Die Kapuze ist über den Kopf gezogen, durch ihren Schatten bleibt das Gesicht unsichtbar. Dieser Mensch hat beide Hände in den Taschen und scheint den Flüchtenden mit dem Blick zu folgen. Tatsächlich gab damals im Februar 1977 nur eine Tageszeitung in der Stadt, die von diesem versuchten Anschlag berichtete und dieses Foto veröffentlichte. „Randfigur“ weiterlesen

Mann mit Hunden

Nicht immer, wenn ein Mensch auf einem Foto zu sehen ist und dabei in die Kamera schaut, posiert er. Wir haben hier ein Hochformat. Der Mann steht auf dem Weg, der aus dem Park ins freie Feld führt. Man sieht ihn von vorne, und er schaut an der Linse vorbei. Das Kinn leicht angehoben, den Kopf ein wenig schief, mit neutralem Gesichtsausdruck. Die Hunde sitzen zu seinen Füßen und blicken in entgegengesetzte Richtungen. Es dürfte später Herbst oder früher Winter sein, denn der Mann trägt einen Dufflecoat, einen Schal und eine Mütze. „Mann mit Hunden“ weiterlesen

Lebensunterhalt

Es ist möglicherweise die einsamste Bushaltestelle des Landes. Gilda sitzt im schmalen Wartehäuschen und liest in einem ziemlich dicken Buch. Aus der einzigen Straßenlaterne in weitem Umkreis sickert weiches Licht durch die trübe Luft. Die Landstraße kommt aus einer Senke und führt rechterhand in einer flachen Linkskurve den Hügel hinauf. Unterhalb verschicken einzelne Häuser Licht aus ihren Fenstern. Jemand kommt und setzt sich neben sie. Sagt Hi, und sie grüßt mit einem schwachen Nicken zurück. Wann kommt er denn, der nächste Bus? fragt der Mann. Sie legt sorgfältig das Lesezeichen zwischen die Seiten und klappt das Buch zu. Holt das Handy aus der Manteltasche, entsperrt es und zeigt auf das Display: Noch siebenundzwanzig. „Lebensunterhalt“ weiterlesen

Geschichte von einem frühen Tod

Wir sehen einen noch nicht ganz Zehnjährigen zwischen seinen Brüdern. Sie sitzen in kurzen Hemden und Hosen auf einer Bank an der Oder und lächeln schief in die Kamera: Paul, Gerhardt und Hans. Das Bild hat ein Fotograf aufgenommen, der den Abzug mit dem Namen seines Geschäfts abgestempelt hat. Es war an einem der wenigen wirklich sommerlichen Sonntage im Juli des Jahres 1933. Da sind die Jungen schon vaterlos, wissen aber nicht wie und weshalb der Vater verschwunden ist. In Stettin war im Mai den Gauleiter Karpenstein entmachtet worden. Gegen dessen Willen hatte die SS zuvor ein Internierungslager auf dem Gelände der Vulkanwerft eingerichtet und ab Ostern damit begonnen, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten zu verhaften und dorthin zu bringen – unter ihnen der Maurer Max Roggisch, Mitglied der KPD und Vertrauensmann der Baufirma Schlieske. Später würden Historiker dieses Lager als erstes KZ des Naziregimes bezeichnen. „Geschichte von einem frühen Tod“ weiterlesen