Weit nach Mitternacht verließ Kaltenburg den Gasthof, um den Hang zu besteigen, der sich westwärts erhob. Hinterm Haus überquerte er den Bergbach. Die Neumondnacht war sternenklar und windstill. Er trug eine Stirnlampe, die beunruhigende Schatten im Rhythmus seiner Schritte warf. Im Unterholz hörte er das Raunen und Wispern verschiedener Tiere. Zunächst wand sich der Pfad durch Buschland, dann durch ein lichtes Gehölz mit niedrigen Bäumen. Unter den hohen Tannen und Fichten begann ein schnurgerader Weg aufwärts zum Kamm. [Lesezeit ca. 2 min] „Wandelbar“ weiterlesen
Der Furz des Lebens
Wir sehen Onkel Gerd wie er lässig und leicht zurückgelehnt in einem windschiefen Campingstuhl in der Sonne sitzt. Er trägt ein beinahe weißes Unterhemd und eine verwaschene, dunkelgrüne Turnhose, von der er sagt, die sei ein Teil seiner Wehrmachtsausrüstung. Rund um den Tisch stehen und sitzen seine Brüder mit ihren Frauen, sein bester Freund und Bekannte, die ihn sonntags im Schrebergarten besuchen. Kinder spielen zu seinen Füßen. Er hat eine Zigarette in der Hand und grinst in die Kamera. [Lesezeit ca. 9 min] „Der Furz des Lebens“ weiterlesen
Nicht länger als
Auf dem Boden liegen. Atmen. Die Arme neben dem Körper, die Handflächen nach oben. Auf einem Teppich. Träumen. Nie länger als eine halbe Stunde. Langsamer Übergang in eine sitzende Position. Mit den Händen über das Gesicht streichen. Die Gerüche wahrnehmen. Sich erinnern. Alles, was du bist, bist du seit gestern. [Lesezeit ca. 5 min] „Nicht länger als“ weiterlesen
Die Nadel
Keine Ahnung, wie ich hier hochgekommen bin. Wundert mich auch, dass hier an der Spitze dieses eigenartigen Bauwerks ein Sitz angebracht ist. Man hat mich zum Glück angeschnallt. Und gut, dass ich keine Höhenangst habe, denn in gut fünfundsiebzig, achtzig Metern auf der Spitze einer Nadel zu hocken, ist nichts für furchtsame Gemüter. So überblicke ich die Stadt, die selbst aus dieser Höhe bis über den Horizont hinausreicht. Es geht ein leichter Wind, und die Nadel bewegt sich erstaunlicherweise nicht ein bisschen. Muss an der Konstruktion liegen, wozu immer die gut sein mag. Nur daran, wie ich wieder herunterkommen, darf ich nicht denken. [Lesezeit ca. 9 min] „Die Nadel“ weiterlesen
Ein pinkes Plastikpony
Gerade habe ich Wasser nachgefüllt. Keyla steht in der verbeulten Zinkwanne, während ich die Gießkanne halte. Ich sehe Leissa in ihr. Als ich meine Frau kennenlernte, war sie kaum drei Jahre älter als meine Tochter jetzt. Ein Jahr später habe ich sie zum ersten Mal geschwängert. Sie sind sich ähnlich. Ich kann erkennen, wie Keyla als Erwachsene aussehen wird. Jetzt sitzt sie wieder im Wasser und wäscht ihre Spielfiguren, die sie nachts auf einem Brett neben ihrem Bett abstellt: ein Playmobil- und ein Lego-Männchen, eine He-Man-Figur, eine Barbie und das Wunderpony, das ich ihr neulich mitgebracht habe. [Lesezeit ca. 3 min] „Ein pinkes Plastikpony“ weiterlesen
Nicht leichtgemacht
„Ich habe es mir im Leben nicht leichtgemacht,“ sagte Spinks, senkte den Kopf ein wenig und schloss die Augen als sei er erschöpft. „Das sagt er immer,“ merkte Thibaud an und verzog das Gesicht. Wir kannten die Geschichte der beiden, zumindest Thibauds Sicht der Dinge, denn er hatte uns vor Längerem von Spinks erzählt. Sie hatten sich damals in einer dieser Szenekneipen kennengelernt und beschlossen, sich beim Pipeline-Bau in Alaska zu verdingen. Es hieß, hatte Thibaud erklärt, da könne man in ein paar Monaten ein Vermögen verdienen; zwar sei der Job hart, aber für 3000 Dollar die Woche müsse man eben mal etwas aushalten. Viele Kerle redeten in jenen Jahren von dieser Sache, ohne dass wirklich eine nennenswerte Anzahl tatsächlich in den Norden Amerikas zog. Bei Spinks und Thibaud gab es aber einen gewichtigen Grund: Sie wollten einen Verlag gründen, ein Medienhaus für sozialistische Zeitungen, für linke Bücher, die sonst niemand druckte. Sie wollten aktiv an der Revolution mitarbeiten. Sie rechneten damit, mehr als 100000 Dollar zu verdienen und spätestens nach einem halben Jahr zurückzukehren. [Lesezeit ca. 10 min] „Nicht leichtgemacht“ weiterlesen
Noch im Winter
Es war das letzte Haus in der äußersten Siedlung im Vorort der Kleinstadt, unmittelbar angrenzend an die Felder und Weiden der Großbauern, deren Höfe jenseits des Waldstücks lagen, auf das wir aus dem Küchenfenster und dem Bad blickten. Die Straße war bis zur Garagenauffahrt asphaltiert und ging dann zunächst in eine Schotterstrecke und zwanzig, dreißig Meter weiter in einen Feldweg über, der in sanften Bögen zwischen den Äckern zum Busch führte und dort ohne besonderen Grund endete. Gästen, die mit dem Auto anreisten, sagte der Vater immer, sie sollten bedenken, dass man vor unserem Haus nicht wenden könne. Den Garten hatte er mit einem außergewöhnlich hohen Zaun umgeben lassen, und es kam mir immer so vor, als habe er das nicht getan, um unser Grundstück zu schützen, sondern um eine deutliche Grenze zwischen der Zivilisation und der aus seiner Sicht rauen Wildnis zu markieren, denn er war Zeit seines Lebens ein sehr urbaner Mensch. [Lesezeit ca. 9 min] „Noch im Winter“ weiterlesen
Seine Freundin
Stell dir einen Typ am Biertisch vor. Anfang Fünfzig, eine ordentliche Wampe über ziemlich dünnen Beinen, imposanter Schädel, dichter, schwarzer Vollbart und eine dicke Brille mit dunklem Gestell. Nennen wir ihn Matthias. Wie er da so am Stehtisch draußen vor der Hausbrauerei steht und sein Bier trinkt. Er war mein Freund, und ungefähr einmal im Monat trafen wir uns da, um miteinander zu reden. Selten oder nie ging es um persönliche, um private Dinge. Meistens erzählten wir uns Geschichten über Ereignisse, die wir miterlebt oder beobachtet hatten, oder über die politische Situation oder was uns sonst aufgefallen war. Eigentlich sind wir erst sehr spät Freunde geworden. Über Jahre waren wir Kollegen, im Beruf auch Kontrahenten, aber im Streit lagen wir nie miteinander. Matthias hatte seine berufliche Laufbahn unter meiner Leitung begonnen. Später war er bei einem großen Unternehmen angestellt, während ich freiberuflich wirkte. Einige Male, eine Zeit lag sogar regelmäßig, schob er mir Aufträge zu. [Lesezeit ca. 10 min] „Seine Freundin“ weiterlesen
Nicht mein Typ
Es war von Anfang an klar, dass wir Sex miteinander haben würden. Dabei war sie nicht mein Typ, und ich – wie ich später erfuhr – auch nicht ihrer. Im Gegenteil. Wir begegneten uns im Rahmen einer ziemlich großen Familienfeier, von der wir den größten Teil verpassten. Ich war der Einladung gefolgt, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, ob und wie ich mit den Gastgebern verwandtschaftlich verbunden war. So war ich auch gar nicht erst zu dem Teil der Feier gegangen, die am Morgen stattgefunden hatte, irgendeine Taufe, Trauung oder Beerdigung. Das Fest am Nachmittag, das man irgendwo auf einem idyllischen Gutshof organisiert hatte, den man für so etwas mieten konnte, hatte ich mir auch geschenkt; es wären mir vermutlich zu viele Kinder dort gewesen. Also fand ich mich erst zur Party ein, so gegen elf. [Lesezeit ca. 3 min] „Nicht mein Typ“ weiterlesen
Leben und Tod
In Wirklichkeit, sagte Thibaud unvermittelt, geht es doch um ganz was anderes. Und hielt inne. Wir warteten auf eine Fortsetzung des Satzes, eine Erläuterung, Erklärungen, Antwort, auf Argumente. Wir warteten darauf, dass er wie sonst zu einem Vortrag anheben würde, einem verschlungen Pfad aus Gedanken, Vorstellungen, aus ineinander verschachtelten Sätzen, die sich in Spiralen und Parabeln durch den Raum winden würden, bis am Ende niemand mehr weiß, wo der Ausgangspunkt lag. Aber Thibaud schwieg. Auf eine theatralisch-buddhistische Weise hatte er die Hände mit den Flächen nach oben vor sich auf den Tisch gelegt und fixierte einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand. Wir alle ware unsicher, und eine Weile schwiegen auch wir. Bis Hanshubert aus dem Nichts heraus sagte, Ja,ja. Und Ellen mit einem Wißt ihr noch begann, über etwas zu reden, was mit Thibauds Statement nichts zu tun hatte. Aber in dem Augenblick, als Gernot oder einer der anderen aus der Runde auf das neue Thema einsteigen wollte, sprach Thibaud mit erhobener Stimme: Es geht um Leben und Tod. [Lesezeit ca. 3 min] „Leben und Tod“ weiterlesen
Hahnenkampf
Es war eine dieser Gruppen, bei denen zwei Kerle das Wort führen und immer darauf schielen, ob die Frauen am Tisch sie toll finden. Leider hatten sich die fünf Männer und vier Frauen an dem langen Stehtisch in der Schwemme angesiedelt, an dessen Kopfende ich meinen Stammplatz habe. Und weil sonst nichts Besseres frei war, hatte ich mich dort niedergelassen. Die Herren redeten ständig ein bisschen zu laut und lachten zu heftig, und der eine versuchte ständig besonders witzig zu sein. Drei der Damen hockten nebeneinander auf der Bank wie die Hühner auf der Stange und gackerten kollektiv, wenn einer der Jungs einen lustigen Satz in die Runde geworfen hatte. Dann gingen zwei Frauen zusammen aufs Klo, die Sitzordnung veränderte sich, und plötzlich saß sie neben mir – wir beide übereck am Tischende. „Hahnenkampf“ weiterlesen
Ein aufrechter Deserteur
Von seiner Vergangenheit erfuhren wir erst lange nach seinem Tod. Onkel Paul war nach dem Tod seiner Frau nach Holstein gezogen, in einen Ort, der zu groß war für ein Dorf und zu klein für eine Stadt. Dort galt er als der Kommunist. Mit dem evangelischen Pfarrer hatte er sich angefreundet und einige Nächte hindurch diskutiert, über Gott und die Welt. Der Pastor war es auch, der mir die Geschichte von Onkel Paul erzählte als ich nach Jahren zufällig in diesem Ort strandete. Mir fiel die bewegende Grabrede, die der Geistliche bei der Beerdigung gehalten hatte. [Lesezeit ca. 10 min] „Ein aufrechter Deserteur“ weiterlesen
Seelenleben
Das Skurrile an der folgenden Geschichte ist, dass kein lebendes Wesen sie jemals wird lesen können. Denn während ich diesen Text schreibe, bin ich schon tot. Und recht eigentlich schreibe ich die Wörter und Sätze auch nicht. Ich denke sie. Das ist auch das Einzige, was uns Toten übrig bleibt, nachdem wir den Körper losgeworden sind. Zu Lebzeiten habe ich nie an einen Gott, an irgendein höheres Wesen oder eine höhere Mächte geglaubt. Alles Religiöse, Spirituelle und Esoterische war mir zuwider. Jetzt nach meinem Tod weiß ich, dass ich damit richtig lag. Bis auf eine Ausnahme vielleicht: Ja, es gibt die Seele. Jeder Mensch, jedes Tier, beinahe jedes Lebewesen hat sie, und alle möglichen biologischen Formen von außerhalb unseres Sonnensystem auch. Und diese Seele ist unsterblich, also ewig. „Seelenleben“ weiterlesen
Elf-Achtundsechzig
Die Uhr im Wohnraum zeigte vier Uhr dreiundfünfzig. Ich war den fliegenden Punkten gefolgt, die mich geweckt hatten. Zuerst dachte ich, jemand auf der Terrasse vor dem Schlafzimmer leuchte mit einer Taschenlampe durchs Fenster. Oder jemand habe einen Laserpointer auf das Haus gerichtet. Aber es waren mehrere, sanft bläulich strahlende Kugeln, die durch den Raum schwebten, vielleicht vier oder fünf. Ihre Bewegung folgten keinem Muster, und es sah auch nicht aus, als flögen sie in fester Formation. Manchmal nahm einer dieser Lichtbälle Geschwindigkeit auf und kreuzte die Bahnen der anderen. Das alles völlig geräuschlos. Wie gesagt: Ich stand auf und folgte den Kugeln ins Wohnzimmer. „Elf-Achtundsechzig“ weiterlesen
Fremdes Geld
Schein zählte die Banknoten umständlich auf den Küchentisch. Ingola griff sich eine und betrachtete das fremde Geld sorgfältig. Echt? fragte sie, aber Schein zuckte nur kurz mit den Schultern. Im Licht der Leuchte im Dunstabzug stand Kilian mit den Rücken zu ihnen und rauchte. Wo wir das ausgeben, ist egal, sagte er. Ein Auto fuhr vor, der Motor wurde abgestellt. Kilian trat auf den Küchenbalkon, kam zurück und sagte: Keiner von uns. Die Katze tigerte durch den Raum und sprang aufs Fensterbrett. Wann geht’s los? fragte Schein nachdem er fertig war. Übermorgen, antwortete Kilian. Noch jemand Wein? Ingola hatte die Flasche schon in der Hand. Beide Männer nickten. „Fremdes Geld“ weiterlesen