Ein aufrechter Deserteur

Von seiner Vergangenheit erfuhren wir erst lange nach seinem Tod. Onkel Paul war nach dem Tod seiner Frau nach Holstein gezogen, in einen Ort, der zu groß war für ein Dorf und zu klein für eine Stadt. Dort galt er als der Kommunist. Mit dem evangelischen Pfarrer hatte er sich angefreundet und einige Nächte hindurch diskutiert, über Gott und die Welt. Der Pastor war es auch, der mir die Geschichte von Onkel Paul erzählte als ich nach Jahren zufällig in diesem Ort strandete. Mir fiel die bewegende Grabrede, die der Geistliche bei der Beerdigung gehalten hatte. „Ein aufrechter Deserteur“ weiterlesen

Seelenleben

Das Skurrile an der folgenden Geschichte ist, dass kein lebendes Wesen sie jemals wird lesen können. Denn während ich diesen Text schreibe, bin ich schon tot. Und recht eigentlich schreibe ich die Wörter und Sätze auch nicht. Ich denke sie. Das ist auch das Einzige, was uns Toten übrig bleibt, nachdem wir den Körper losgeworden sind. Zu Lebzeiten habe ich nie an einen Gott, an irgendein höheres Wesen oder eine höhere Mächte geglaubt. Alles Religiöse, Spirituelle und Esoterische war mir zuwider. Jetzt nach meinem Tod weiß ich, dass ich damit richtig lag. Bis auf eine Ausnahme vielleicht: Ja, es gibt die Seele. Jeder Mensch, jedes Tier, beinahe jedes Lebewesen hat sie, und alle möglichen biologischen Formen von außerhalb unseres Sonnensystem auch. Und diese Seele ist unsterblich, also ewig. „Seelenleben“ weiterlesen

Elf-Achtundsechzig

Die Uhr im Wohnraum zeigte vier Uhr dreiundfünfzig. Ich war den fliegenden Punkten gefolgt, die mich geweckt hatten. Zuerst dachte ich, jemand auf der Terrasse vor dem Schlafzimmer leuchte mit einer Taschenlampe durchs Fenster. Oder jemand habe einen Laserpointer auf das Haus gerichtet. Aber es waren mehrere, sanft bläulich strahlende Kugeln, die durch den Raum schwebten, vielleicht vier oder fünf. Ihre Bewegung folgten keinem Muster, und es sah auch nicht aus, als flögen sie in fester Formation. Manchmal nahm einer dieser Lichtbälle Geschwindigkeit auf und kreuzte die Bahnen der anderen. Das alles völlig geräuschlos. Wie gesagt: Ich stand auf und folgte den Kugeln ins Wohnzimmer. „Elf-Achtundsechzig“ weiterlesen

Fremdes Geld

Schein zählte die Banknoten umständlich auf den Küchentisch. Ingola griff sich eine und betrachtete das fremde Geld sorgfältig. Echt? fragte sie, aber Schein zuckte nur kurz mit den Schultern. Im Licht der Leuchte im Dunstabzug stand Kilian mit den Rücken zu ihnen und rauchte. Wo wir das ausgeben, ist egal, sagte er. Ein Auto fuhr vor, der Motor wurde abgestellt. Kilian trat auf den Küchenbalkon, kam zurück und sagte: Keiner von uns. Die Katze tigerte durch den Raum und sprang aufs Fensterbrett. Wann geht’s los? fragte Schein nachdem er fertig war. Übermorgen, antwortete Kilian. Noch jemand Wein? Ingola hatte die Flasche schon in der Hand. Beide Männer nickten. „Fremdes Geld“ weiterlesen

Randfigur

Jemand hat dieses Zeitungsbild abfotografiert. Man erkennt die Rasterpunkte. Außerdem ist das Foto verwackelt und in weiten Teilen unscharf. Mit Mühe lässt sich erkennen, dass es am J.-Platz aufgenommen wurde, lange vor dem Umbau. Damals gab es hier einen Straßenbahn- und Busknotenpunkt. Der Blick geht aus mittlerer Entfernung Richtung Fußgängerzone. Der Bereich davor öffnet sich auf den Betrachter hin zu einem Platz. An der linken Ecke, unmittelbar vor dem Eingang zu einem modernen Gebäude, steigt schwarzer Rauch auf. Zwei Personen laufen dicht hintereinander von links nach rechts durchs Bild. Sie sind allein schon durch die Bewegungsunschärfe nicht identifizierbar. Genau im Zentrum aber, ein wenig im Hintergrund, neben einem schwächlichen Baum, steht eine Person. Sie trägt vermutlich einen damals üblichen Parka. Die Kapuze ist über den Kopf gezogen, durch ihren Schatten bleibt das Gesicht unsichtbar. Dieser Mensch hat beide Hände in den Taschen und scheint den Flüchtenden mit dem Blick zu folgen. Tatsächlich gab damals im Februar 1977 nur eine Tageszeitung in der Stadt, die von diesem versuchten Anschlag berichtete und dieses Foto veröffentlichte. „Randfigur“ weiterlesen

Mann mit Hunden

Nicht immer, wenn ein Mensch auf einem Foto zu sehen ist und dabei in die Kamera schaut, posiert er. Wir haben hier ein Hochformat. Der Mann steht auf dem Weg, der aus dem Park ins freie Feld führt. Man sieht ihn von vorne, und er schaut an der Linse vorbei. Das Kinn leicht angehoben, den Kopf ein wenig schief, mit neutralem Gesichtsausdruck. Die Hunde sitzen zu seinen Füßen und blicken in entgegengesetzte Richtungen. Es dürfte später Herbst oder früher Winter sein, denn der Mann trägt einen Dufflecoat, einen Schal und eine Mütze. „Mann mit Hunden“ weiterlesen

Lebensunterhalt

Es ist möglicherweise die einsamste Bushaltestelle des Landes. Gilda sitzt im schmalen Wartehäuschen und liest in einem ziemlich dicken Buch. Aus der einzigen Straßenlaterne in weitem Umkreis sickert weiches Licht durch die trübe Luft. Die Landstraße kommt aus einer Senke und führt rechterhand in einer flachen Linkskurve den Hügel hinauf. Unterhalb verschicken einzelne Häuser Licht aus ihren Fenstern. Jemand kommt und setzt sich neben sie. Sagt Hi, und sie grüßt mit einem schwachen Nicken zurück. Wann kommt er denn, der nächste Bus? fragt der Mann. Sie legt sorgfältig das Lesezeichen zwischen die Seiten und klappt das Buch zu. Holt das Handy aus der Manteltasche, entsperrt es und zeigt auf das Display: Noch siebenundzwanzig. „Lebensunterhalt“ weiterlesen

Die Sieben und der Schmerz

Als ich heute früh erwachte, sagte Thibaud, hatte ich sieben Schmerzen; erfreulich wenige. Ja, ja, warf Storck ein, in unserem Alter ist man ja froh, wenn morgens was weh tut, denn dann weiß man, dass man noch am Leben ist. Immer noch kannst du keiner Banalität aus dem Weg gehen, entgegnete Thibaud und ergänzt: Lasst uns über physische Schmerzen sprechen, nicht über das Alter. Denn wenn eines das gesamte Leben begleitet, dann sind es Schmerzen. Aber in den letzten Jahren vor dem Tod, wandte Storck ein, ist jeder Schmerz ein Alarmsignal dafür, dass dieses oder jenes Körperteil funktional am Ende ist. Nimm die Leber. Ist die durch ständigen Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenmissbrauch angeschwollen, dann wird sie sich zersetzen und ihre Funktion nicht mehr erfüllen. Und daran stirbt man. Gut, dass du dieses Organ erwähnst, stimmte Thibaud zu, es sendet nämlich einen meiner sieben Schmerzen aus. „Die Sieben und der Schmerz“ weiterlesen

Geschichte von einem frühen Tod

Wir sehen einen noch nicht ganz Zehnjährigen zwischen seinen Brüdern. Sie sitzen in kurzen Hemden und Hosen auf einer Bank an der Oder und lächeln schief in die Kamera: Paul, Gerhardt und Hans. Das Bild hat ein Fotograf aufgenommen, der den Abzug mit dem Namen seines Geschäfts abgestempelt hat. Es war an einem der wenigen wirklich sommerlichen Sonntage im Juli des Jahres 1933. Da sind die Jungen schon vaterlos, wissen aber nicht wie und weshalb der Vater verschwunden ist. In Stettin war im Mai den Gauleiter Karpenstein entmachtet worden. Gegen dessen Willen hatte die SS zuvor ein Internierungslager auf dem Gelände der Vulkanwerft eingerichtet und ab Ostern damit begonnen, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten zu verhaften und dorthin zu bringen – unter ihnen der Maurer Max Roggisch, Mitglied der KPD und Vertrauensmann der Baufirma Schlieske. Später würden Historiker dieses Lager als erstes KZ des Naziregimes bezeichnen. „Geschichte von einem frühen Tod“ weiterlesen

Manuela fährt Rad

Bist du jüdisch? fragt Hamza. Die Gruppe hat sich vor dem Ferienheim aufgebaut. Hinten stehen die Großen, davor die Kleineren, fünf Kinder liegen im Gras. Dazu die Fahrräder. Manuela ist die dritte von links in der mittleren Reihe. Und wenn? antwortet sie. Na, sagt Hamza, dann bist du ein schlechter Mensch, weil alle Jüdischen schlechte Menschen sind. Der Fotograf ruft: Jetzt alle mal Spaghettisoße sagen! Die Teilnehmer an der Radtour lächeln oder grinsen oder auch nicht, nur Manuela und Hamza gucken nicht in die Kamera. „Manuela fährt Rad“ weiterlesen

Jelles Tränen

Wer weiß, was den Furzknoten dazu getrieben hatte, mich in den Glaskasten zu verbannen. Offiziell begründete der große Inhaber die Maßnahme damit, ich sei jetzt Führungskraft und müsse zu meinen Untergebenen Distanz wahren. So dürfe ich die Kollegen, denen ich nun vorgesetzt war, nicht mehr duzen, sondern müsse sie siezen. Das ist so ungefähr der Psychoquark meines Chefs, der sich für klug und gewitzt hält. Mich aber zwang es dazu, nicht mehr an der Nahtstelle zwischen Konzeption und Grafik zu sitzen, sondern am anderen Ende des verwinkelten Großraumbüros in einer Kabine. „Jelles Tränen“ weiterlesen

Hautfarben

Vor ein paar Jahren hatte Silke einen Aquarellierkurs belegt. Die Dozentin war eine ältere Dame mit grauen Haarschnecken über den Ohren. Im dritten Semester ging es um das Porträtieren, und die Kursleiterin sagte in jeder Stunde mindestens einmal das Wort hautfarben. Silke konnte damit nichts anfangen. Als ob die Haut eine Farbe habe. Wann immer sie Leute nackt oder nur in Badebekleidung gesehen hatte, wat ihr aufgefallen, wie viele verschiedene Farben die Oberfläche eines Menschen aufwies. Aber die Lehrerin hatte eine bestimmte Vorstellung von Hautfarbe und wollte sie ihren Schülern aufzwingen. Das gefiel Silke nicht, und sie nahm sich vor, nur noch dunkelhäutige Personen zu malen und begann mit einem Selbstporträt. „Hautfarben“ weiterlesen

Rache im Konjunktiv

Stell dir einen Bären im blauen Monteursoverall vor. Nur ohne niedliche Knopfaugen, ohne Lacknäschen und ohne pelzige Puschelohren. Stattdessen setz einen gewaltigen Schädel drauf. Mit meerblauen Seeschlitzen, einem Wust rotblonder Haare und einem Mund, bei dem die Lippen nie ganz stillstehen. Wie auch seine Hände. Großflächig und wulstig und immer in Bewegung. Wenn er spricht, knetet er die Finger oder wedelt wie ein Dirigent. Laut seiner Musterungsakte exakt zwei Meter und acht Zentimeter groß. Damals wog er um die einhundertfünfzig Kilo, vorwiegend Muskelmasse, weil er seine Tage im Sportstudio verbrachte, während er nachts am Schlachthof arbeitete. Ich denke, Ewald hat seine Elise wirklich geliebt. „Rache im Konjunktiv“ weiterlesen

Weite Ebene

Möth befindet sich in der Mitte einer weiten, kargen Ebene und schaut sich um. Er war schon einmal in einer ähnlichen Situation, auf einer leeren, staubigen Fläche. Das war der Betondeckel einer Giftmülldeponie in Brandenburg. Jetzt aber sieht es aus wie auf einem trockenen Salzsee in Utah, wo Weltrekordfahrten stattfinden. Er weiß nicht, wie er an diesen Ort geraten ist, er weiß nur, aus welchem Grund: Er ist mit Anna verabredet. Und dann spricht eine Stimme aus großer Höhe: Hartmut, wartest du? Sie kommt gleichzeitig aus der Luft und aus seinem Kopf. Er nickt. „Weite Ebene“ weiterlesen

Handke

Keiner von uns glaubte damals, dass Walter schwul sein könnte. Wir nahmen nur die besondere Beziehung zum gemeinsamen Klassenkamerad Dieter wahr. In jenen Jahren kannten wir keine Schwulen. Wir wussten nur so ungefähr, was Wörter wie schwul und homosexuell bedeuteten. Mein Vater sagte über einen Kollegen, der sei vom anderen Ufer, und grinste leicht verschämt. Onkel Eberhard sprach von warmen Brüdern, die mit der flachen Hand bügeln könnte. Mein großer Bruder erklärte mir seinerzeit, es handele sich um Männer, die nur auf Männer scharf seien – für mich vollkommen unvorstellbar. Wie könnte man sich nicht in diesen wunderbaren Wesen mit Rundungen und Mündern und Augen verknallen, zum Beispiel in Gisela, Monika, Christel oder Yvonne? Aber insgesamt war Schwulsein kein Thema für uns. „Handke“ weiterlesen

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