Die Beerdigung des Fahrrads

totes_radReden wir von der Ära der Schulbälle. In den Jahren zwischen etwa 1965 und 1975 waren Partys für junge Leute eher dünn gesät. Glücklich, wer so eine Tanzschule wie die von Gerd Kaechele in der Nähe hatte. Wo die Veranstaltungen zwar Tanztee und Tanzabend hießen, wir Jugendlichen aber nach unserem Geschmack Musik hören, tanzen und feiern konnten. Natürlich gab es da auch noch die Altstadt, aber außer den berühmten Jazzkellern wie dem Dr.Jazz handelte es sich bei den Etablissements vorwiegend um mehr oder weniger schmuddelige, düstere Kneipen, in den der Altbierkonsum im Vordergrund stand. Immerhin wurde in den besseren dieser Läden ab etwa 1966 korrekte Musik aufgelegt. Aber Live-Konzerte, die gab es nur auf den Feten von Kunstakademie, Uni und PH Neuss sowie eben auf den Bällen der Gymnasien. Für meinen Freundeskreis und mich waren diese Veranstaltungen feste Größen im imaginären Terminkalender. Man wusste schon vorher, welche Bälle klasse, welche eher öde werden würden, denn die Gymnasien hatten unterschiedlich hohe – heute würde man sagen – Coolness-Faktoren. Das Leibniz-Gymnasium, an dem acht Schuljahre zu verbringen ich die Ehre hatte, war schon ziemlich angesagt, Rethel, Görres, Max Plank, Comenius auch. Über Fliedner in Kaiserswerth und das damals noch unbenannte Gymnasium an der Koblenzer Straße wusste man nicht viel. Mädchen-Gymnasien waren bis auf das Luisen eher uninteressant. Das Geschwister Scholl am Hennekamp war der Shooting Star der Jahre. „Die Beerdigung des Fahrrads“ weiterlesen

Das Tanzschulenmassaker

Aus dem Büro und aus der Bar drang Stimmengewirr. Immer lauter. Die ersten Flaschen und Gläser klirrten. Dann trat jemand die Doppelflügeltür auf, und sieben, acht wilde Kerle stürmten die Tanzfläche. Udo hatte gerade das Pult mit dem Plattenspieler übernommen, weil ich eine Pause zum Knutschen mit Susanne nutzen wollte. Die Mädchen kreischten, einer von meinen Kumpeln brüllte die Eindringlinge an. Aber die reagierten darauf nicht, sondern begannen ihre Arbeit. Systematisch zerschlugen sie die Spiegelwand, kickten die Stühle umher und zuletzt zerlegte ein großer Dunkelhäutiger die Musikanlage, hinter der Udo sich verschanzt hatte. Später, ein paar Tage nach der Mondlandung, erwischten sie mich nachts auf der Blücherstraße. Die Narbe am Hinterkopf kann ich noch heute ertasten. „Das Tanzschulenmassaker“ weiterlesen

Schlittschuh, Schwimmbad, Schamhaar

Damals, in den Zeiten als sich Mädchen noch nicht die Achsel- und Schamhaare rasieren mussten, waren Freibad und Eisbahn die wichtigsten Kontakthöfe fürs junge Volk. Während man die körperlichen Gegebenheiten einer potenziellen Geschlechtspartnerin zum Beispiel im Schwimmbad am Rheinstadion oder in Lörick unmittelbar in Augenschein nehmen und abwägen konnten, zählten im Eisstadion mehr die inneren Werte. Barbara hätte natürlich in beiden Arenen Kantersiege eingefahren, aber im Sommer habe ich sie nie beim Schwimmen gesehen. Auf dem Eis war sie zumindest im Winter 1969/70 die Schönste ihrer Altersklasse. Für mich allerdings ein bisschen zu schön und auch um ein, zwei Jahre zu alt. Sie war recht groß gewachsen, hellblond und trug die Haare mittelgescheitelt und sehr lang unter der warmen Mütze. So weit es sich abschätzen ließ, muss sie eine tolle Figur gehabt haben. Ich aber hatte ein Auge auf ihre kleine Schwester geworfen. „Schlittschuh, Schwimmbad, Schamhaar“ weiterlesen

Die nackte Hilde

Meine Mutter war auf merkwürdige Weise amüsiert: „Und da hat der Werner nur so einen gestreiften Beutel an…“ Sie kicherte, und das tat sie sonst nie. Wir saßen am Frühstückstisch. Die Eltern waren am Vorabend zu Gast beim Chef des Vaters gewesen, der hatte ihnen Filme vom FKK-Urlaub mit Frau und Kind auf Korsika gezeigt. Nicht dass es bei uns prüde zugegangen wäre, aber dass man die ganzen Ferien über nackig rumlaufen könnte und alle anderen Leute auch, das kam den Eltern schon merkwürdig vor. Was dieses Thema anging, waren Werner und Hilde ein Traumpaar. Schließlich hatte sie vor der Hochzeit einige Jahre als Schönheitstänzerin gearbeitet. In einer Nachtbar namens „Bocksbeutel“, die damals noch dem Rotlichtmillieu zugerechnet wurde. Aber Werner, der mit seinem soziophoben Bruder gemeinsam die vom Vater geerbte Firma führte, war ohnehin Nonkonformist. Der verkehrte im Düsseldorfer Nachtleben, verstand sich zu amüsieren und war großer Fan des Catchens, das damals noch einen ziemlich zweifelhaften Ruf hatte und als Vergnügen für Verbrecher galt. „Die nackte Hilde“ weiterlesen

Hans-Jürgen im Untergrund

In den ersten Jahren wurde die verkehrspolitische Arbeit der hiesigen Grünen durch Einbruchsdiebstahl finanziert. Ich sah Hans-Jürgen zum ersten Mal bei einer Versammlung, wo er aus dem Hintergrund des Saals mit lauter Stimme gegen die K-Gruppen-Kader anbrüllte, die dabei waren, die Partei feindlich zu übernehmen. Dann traf ich ihn auf der einen oder anderen Demo und auf verschiedenen Sitzungen. Ob ich an Verkehrspolitik interessiert sei, fragte er mich eines Tages. Ich bejahte, und er sagte, dann komm doch mal vorbei. In jenen Tagen hatte Hans-Jürgen einen Laden auf der Eintrachtstraße gemietet. Das war damals eine der finstersten Ecken der Stadt, gelegen an der Kölner Straße, die hier zwischen der Industriebrache hinter dem Bahnhof und einer Reihe schäbiger Häuser entlang führte. Die Eintrachtstraße selbst endete im Nirgendwo einer wild bewachsenen Fläche, auf der sich nachts die Junkies und Dealer trafen. Gegenüber vom Laden gab es die einzige afrikanische Disco der Stadt. „Hans-Jürgen im Untergrund“ weiterlesen

Robbies Gold

Zwei Jahre vor seinem Tod musste ich Robbie versprechen, zu Lebzeiten nicht über ihn zu schreiben. Das habe nichts damit zu tun, dass er sich für irgendetwas schäme oder irgendetwas bereue; er wolle einfach nicht nachlesbar sein. Das war vor ungefähr fünfzehn Jahren. Wir sahen uns eine Zeitlang nicht, dann erfuhr ich über Umwege, dass er an seinem schweren Nierenleiden gestorben war. Er wurde nicht einmal fünfzig Jahre alt. Meine ehemalige Ehefrau sagte: Der ist ein Zigeuner. Konnte man drauf kommen angesichts seiner schwarzen Locken und der intensiven dunklen Augen. Wir hatten ihn so um 1984 herum kennen gelernt. Seine Tochter ging in denselben Kindergarten wie mein Sohn. Da lebte er noch mit der Mutter dieses Mädchens zusammen. Robbie war ein Spieler, und damit meine ich nicht nur seinen Hang zur Zockerei. „Robbies Gold“ weiterlesen

Der Nachbar und Krystyna

Der Nachbar war komisch. Lag ich nachts im Schlafzimmer auf der Matratze, konnte ich oft hören, dass er sich in seinem Apartment bewegte. Musik spielte er nie. Gesehen habe ich ihn dann erst in diesen verrückten Tagen zwischen Ende Juli und Ende August. Ich wohnte in einer kleinen Neubaubude unweit vom Flinger Broich. Das Leben hatte sich so entwickelt, dass ich in jenem Jahr an Fortuna wenig Interesse hatte. Die bösen Hooligans, die sich in der Rockerkneipe an der Ecke trafen, machten mir Angst. Da blieb ich lieber zuhause und genoss die Sonne auf der großen Terrasse. In den warmen Sommernächte saß ich nachts gern draußen und rauchte Kräuter. Da die Dinge überhaupt schief liefen, meditierte ich zudem viel vor dem Fernseher. Sah viele Etappen der Tour live, obwohl ich mich wenig für den Radpsort interessierte. Konnte mich auch nicht für diesen rotwangigen Ossi begeistern, der von den Sprechpuppen im TV gehypt wurde. Bis der 15. Juli kam, ein Dienstag. Die berühmte Etappe nach Andora, als Jan Ullrich sie alle nass machte. Da war ich begeistert von ihm. „Der Nachbar und Krystyna“ weiterlesen

Die Straße der Patrioten

Dieser Tage unternahm ich mit dem Hund eine Wanderung im Straberger Wald. Der gar nicht der „Straberger“ Wald ist, sondern der Mühlenbusch, welcher hinwiederum den südlichsten Abschnitt des Knechtstedener Waldes darstellt. Das Dorf Straberg, dessen Pech ist, vor Längerem der kotzfleckförmigen Stadt Dormagen (Kenner sagen „Dormagendarm“…) zugeschkagen woirden zu sein, grenzt an ebendiesen Busch. Folgerichtig heißt die Straße, die aus dem Ort in den Wald führt auch „Mühlenbuschweg“. Dortselbst lebte ich im Jahre 1977 in einer Wohngemeinschaft (kurz: WG). Die Greise unter den Lesern werden sich daran erinnern, dass eine WG damals für Otto Normalfamilie quasi Sodom und Gomera in einer Person war. WGler waren entweder faule Stundenten oder verschlagene Terroristen. Wir waren weder noch. Tatsächlich zeichnete sich unsere WG dadurch aus, dass alle sieben Insassen ihre Brötchen mit ehrlicher Arbeit verdienten. Was aber den Dorfkern, der sich aus den damals noch handelsüblichen, niederrheinsch-dumpfen Rübenköppen zusammensetzte, nicht daran hinderte, von unserer kleinen Gemeinde als „diesen Studenten“ zu reden. Okay, wir waren Städter, jung und wild dazu, aber als Studenten wollten wir uns dann doch nicht beleidigen lassen. „Die Straße der Patrioten“ weiterlesen

Mit nem Ei im Mund (6)

Sie waren jetzt an der Einmündung zur Corneliusstraße angekommen, am neuen Haus mit der runden Ecke und den winzigen Balkons mit Blick auf die Bahngleise, wo Willi, Jörg und Reinhild wohnten, die gleich, nachdem sie hergezogen waren, Teil der Corneliuskinder geworden waren.
„Ich mach mal Schellemännchen“, krähte Renate und schellte bei den Familien der Spielkameraden.
„Nix wie weg!“ rief sie dann, und beide nahmen Tempo auf. „Mit nem Ei im Mund (6)“ weiterlesen

Mit nem Ei im Mund (4)

Wachtmeister Blümchen steht immer noch an der Ecke. Genau vor dem Eingang dieses Hauses. Ein hässliches Haus. Pissgelb. Nennt Dieter die Farbe der glatten Fassade. Fünf Stockwerke. In jeder Etage je fünf Fenster auf der Seite, die zur Corneliusstraße zeigt, und je vier Fenster auf der zur Oberbilker Allee liegenden Seite. Alle Fenster gleich groß und mit dem gleichen Abstand voneinander. In jedem Fenster rote Vorhänge. Manche Vorhänge sind zugezogen, manche nicht. Einige Fenster stehen offen, und in den Fenstern, die Arme im Rahmen abgestützt, liegen Frauen und schauen auf die Straße. „Mit nem Ei im Mund (4)“ weiterlesen

Mit nem Ei im Mund (2)

“Siegfried! Siegfried!“ Seine Mutter winkt von der anderen Straßenseite aus. „Komm mal rüber!“
Siggi wollte sowieso auf den anderen Bürgersteig. Das Ei hat er noch in der Hand. Seine Mutter steht mit der Einkaufstasche vor der Einfahrt zum Bierverlag Treukens. Siggi findet, sie guckt komisch. Außerdem sind ihre Haare zerzaust. Na ja, wäre nicht das erste Mal, dass Mutti nach dem Einkaufen bei Dieter im Getränkelager vorbeischaut. „Mit nem Ei im Mund (2)“ weiterlesen

Die Zeiten sind

Vorspann

Am Anfang war der Faden. Und der Faden war rot und er zog sich ganz hindurch durchs Leben. Wir sollten beim Erzählen den Faden nicht verlieren, sagt Susanne, sondern die Geschichten behandeln wie Perlen und auffädeln.

Kämm dir doch die Fransen aussem Gesicht, ja, das sieht definitiv scheiße aus. Keine Diskussion. Woher ich das Recht nehme? Aus meinem ästhe-tisch-moralischen Grundwertevorrat, du Flachwichser. Nein, ich bin nicht besoffen, ich hab, genau wie du, fünf Jackie-Cola intus. Das macht mir gar nix, wie du wissen solltest. Und was soll eigentlich diese präpotente Jacke, hä? Mit diesem lächerlichen Heavy-Metal-Zeichen auffem Rücken und den versilberten Knöpfen… Wie alt bist du denn? Willst du nicht irgend wann mal die Kurve kriegen? Okay, okay, du bist aus vollem Herzen Taxifahrer. Ja klar, und meine Tante ist auch n schöner Mann. Warst ja auch aus Über-zeugung Kurierfahrer. Und Kellner. Und und und. Du glaubst das und sonst keiner. Ich sag dir was: du lügst dir schon seit zig Jahren in sämtliche Taschen, du Loser. Und jetzt hör auf mit dem Debattieren, es gibt Geschichten zu erzählen, Gedanken zu denken, Stimmen zu hören. „Die Zeiten sind“ weiterlesen