Letzte Arbeit (4)

Es ist Freitag, und sie hat beschlossen, übers Wochenende nach Frankfurt zu fahren, dort zweimal zu übernachten, um sich die Stadt endlich ein wenig anzuschauen, und dann am Montag dieses ganztägige Meeting bei der Bank zu absolvieren. Albert ist ohnehin ab Mittag unterwegs nach Leverkusen zu diesem Jazz-Konzert, sodass sie deb Abend nicht miteinander verbringen würden. Wie sie überhaupt nicht unbedingt jeden Abend miteinander verbringen müssen. Das ist etwas, was sie an ihm auch schätzt, dass er sie in Ruhe lassen kann und es auch braucht in Ruhe gelassen zu werden. Jörg war da anders, weil er der Ansicht war, Paare hätten gemeinsam aufzutreten. Wann immer sie eingeladen war: Jörg wollte mit. Und wer eine Veranstaltung zu besuchen hatte, bestand er darauf, dass sie ih begleitet. Vermutlich gehörte das zu seinem Statusdenken, dass er als erwachsener Mann nun mal mit einer Frau an seiner Seite anzutreten habe. Gerade in den letzten Jahren wäre sie ein paar Mal gern allein gereist, aber Jörg verstand es, ihr das auszureden oder sich einfach dazwischen zu drängen. „Letzte Arbeit (4)“ weiterlesen

Letzte Arbeit (3)

Jörg war kühl, Albert dagegen warm. Aber bis zur ersten Nacht mit Albert hatte sie nicht geahnt, wie sehr ihr die Wärme zuvor gefehlt hatte. Seine Wärme war nicht nur eine körperliche, sondern eine allumfassende. Wenn sie ihn sah, wurde ihr warm ums Herz, wie in einem Liebesroman. Immer wollte sie ihn berühren, und er ließ das im Gegensatz zu Jörg nicht nur zu, sondern freute sich über ihre Zuwendung. Ihr Leben veränderte sich, weil sich der Sinn dieses Lebens änderte. Ohne dass sie es so gewollt hätte, stockte ihre Karriere, aber durch ihr Fachwissen und die lange Erfahrung war sie für die Firma unverzichtbar, und man ließ sie trotz mangelnden Ehrgeizes in Ruhe. Sie zog in die Stadt, nahm eine ziemlich schicke Wohnung nahe des Zentrum, ganz oben mit einer Dachterrasse, von der aus man auf der einen Seite bis zum Rhein und auf anderen bis zu den ersten Hügeln des Bergischen Landes sehen konnte. Albert wohnte anfangs noch in einem kleinen Appartement in der Altstadt, zog aber nach ein paar Wochen zu ihr, und sie wurden ein Paar, bildeten eine Lebensgemeinschaft. „Letzte Arbeit (3)“ weiterlesen

Letzte Arbeit (2)

Sie erledigte das Studium wie eine Maschine: mit gleichmäßiger Energie in gleichförmigen Abläufen und vollkommener Konzentration. Da ihr an Parties, an Abenden in Gastwirtschaften, überhaupt an den üblichen Freizeitvergnügungen anderer Studenten wenig gelegen war, überholte sie die Kommilitonen mit Leichtigkeit, erwarb das Diplom vorzeitig mit Bestnote und Auszeichnung und fand unter diesen Voraussetzungen umgehend einen Job. Dass sie in ihrer Heimatstadt bleiben und weiter bei den Eltern wohnen konnte, nahm sie ohne große Begeisterung hin. Rasch wurde sie zur Hoffnungsträgerin ihrer Abteilung und erfuhr von allen Vorgesetzten jegliche Förderung. Weil sie zudem als einzige Kollegin nichts gegen viele Reisen hatte, machte sie innerhalb von kaum drei Jahren Karriere. Allerdings löste ihr unverhandelbarer Wunsch nach einer Netzkarte für die Bahn anstelle des ihr zustehenden Dienstwagens der gehobenen Mittelklasse zumindest in der Personalabteilung Verwunderung aus. Und weil sie ungern flog, fuhr sie auch Ziele mit dem Zug an, die sie mit dem Flugzeug schneller und bequemer erreicht hätte. Ja, um beispielsweise nach Rom zu kommen, nahm sie einen Tag Urlaub, den sie dann in deutschen und italienischen Zügen verbrachte. Die Rückfahrt lag ohnehin auf eimem Wochenende. Irgendwann lernte sie Jörg kennen, und zwischen ihr und ihm entwickelte sich etwas. „Letzte Arbeit (2)“ weiterlesen

Letzte Arbeit (1)

Als sie die Stelle im Park gefunden hatte, der Zaun kaum zehn Metern von den Ferngleisen entfernt, stellte sie fest, dass der ICE schreit, wenn er vorbeifährt. Ein völlig anderes Geräusch als ein IC mit Lok vorne oder ein Regionalexpress oder gar die S-Bahn. Ein hoher Schrei, der ankommt, wenn der Zug ins Blickfeld gerät, dann anhält bis zum letzten Waggon. Kein Schmerzensschrei, sondern ein selbstbewusstes Geräusch wie ein Tier, das so sein Revier markiert. Dann kam sie öfters hierher, wusste nach einiger Zeit ungefähr, wann ein Express vorbei raste. Sie fuhr gern mit der Eisenbahn, schon seit Kindheitstagen. Liebte Bahnhöfe, und Opa nahm sie manchmal sonntags mit. Dann lösten sie an der Sperre Bahnsteigkarten für zehn Pfennige und marschierten wie selbstverständlich zu den Gleisen 11 und 12, wo der TEE mit laufender Dieselmaschine auf seine Abfahrt wartete und die feinen Leute einstiegen, um über Köln den Rhein entlang, ander Loreley vorbei in ferne Länder zu reisen. Ein paar Mal war sie mit den Eltern nach Bocholt gefahren, wo Vater einen Kriegskameraden besuchte. Die Strecke wurde von einer Dampflok bedient, die drei oder vier Waggons schleppte. Der Rhythmus, mit dem der Dampf aus dem Schlot gestoßen wurde, vom Wind gedrückt, sich auflösend an den Fenstern vorbeizog. Der Rhythmus der Schienestöße, das Pfeifen der Lok an den vielen Bahnübergängen. Und dann das Ablassen des Dampfes im Bahnhof wie ein Ausatmen. Später dann das Brummen des Schienenbusses, der die nicht elektrifizierten Strecke übernahm und einen ganzen anderen Gerucht trug. „Letzte Arbeit (1)“ weiterlesen

Getrennte Wege (2)

Das Dumme an diesem Abschied war, dass ich sie danach über zehn Jahre lang nicht wieder sah. Sie hatte bereits gekündigt und war, das erfuhr ich von Kollegen, nach Amerika gegangen. Wollte dort irgendwas mit Theater machen. Ich lernte D. kennen. Zwei Jahre später wurde mein Sohn geboren. Wir heirateten, und ich machte mich selbstständig. Weitere drei Jahre danach kam die Tochter. Getrennt haben wir uns sieben Jahre später. Einigermaßen im Frieden. Da hatte ich ein Appartement mit großer Terrasse im In-Viertel F. gefunden. Mein Büro war Teil einer Gemeinschaft, in der ich Untermieter war. Am liebsten ging ich zu Fuß zur Arbeit. Morgens gab mir die Strecke Gelegenheit, wach zu werden und mich für den Tag zu sortieren. Abends verarbeitete ich, was über Tag geschehen war. Nur ganz selten ging ich die dreißig Minuten mit offenen Augen und offenem Sinn. „Getrennte Wege (2)“ weiterlesen

Getrennte Wege (1)

Sie hatte die hellste Haut, die ich je bei einem Menschen gesehen hatte. Und später je sah. Unten hatte sie sich ein Lager aus Kissen und Matratzen zurechtgemacht und die große grüne Decke darüber gebreitet. Da lag sie, und aus meiner Perspektive von der Empore aus sah sie aus wie eine Schneeverwehung am grünen Straßenrand. Sie hatte mich nach oben verbannt mit den Worten „Brauch mal Ruhe“ und angemerkt, sie sei schon ganz wund. Das ging mir auch so. Aber ich hätte sie gern weiter erforscht, auch an diesem sonnigen Septembertag. Diffus war das Licht, bisweilen durchschnitten von einem einzelnen Strahl, der es durch eine Lücke in den Rollläden geschafft hatte. Da tanzte der Staub, und die Sonne malte einen einzelnen Kringel auf ihren bloßen Körper. Sie hatte mir nicht erlaubt, ihren Leib zu markieren. Eine Linie aus dunkelroter Farbe zu ziehen mitten durch sie hindurch und einmal um sie herum. Am Nabel beginnend, abwärts über den Haarbusch, unten durch bis zum Ansatz des Rückgrats, über alle Wirbel, den Nacken hoch, über den Schädel, die Stirn, die Nase, die Lippen, das Kinn, den Hals und zwischen ihren Brüsten hindurch. Es wäre ein Kunstwerk geworden. Aber sie wollte nicht. Mir schien, sie habe beschlossen, ich hätte ohnehin schon zu viel bekommen von ihr. Zwei Tage vorher hatte ich neben ihr gelegen auf dem breiten Bett, und sie hatte mich ihre Haut erobern lassen. Da hatte ich erst realisiert, dass sie nicht ganz weiß war und nicht überall. Da entdeckte ich Schattierungen wie das warme Grau in ihren Achselhöhlen. „Getrennte Wege (1)“ weiterlesen

Dialektik

Dialektik ist, wenn der Postmann zweimal klingelt. Der Postmann besteht aus den zwei Seiten einer Medaille und ist zusammengenommen dein altes Ego. Wie die zwei Backen, die den Arsch bilden. Zwischen den Seiten das Vakuum, das Nichts. Insofern ist der Hintern eine wunderbare Metpaher für das dialektische Prinzip: zwei antagonistische Seiten und dazwischen ein Arschloch.

Abzocker auf Achse

Er ist ein Charmeur, dieser Lion Minter. Er kann die Leute einwickeln. Und dann über den Tisch ziehen. Ich sag dir: Minter ist ein Arschloch. Ein böser Mensch. Aoszial, skrupellos und bösartig. Nein, sagen dann die meisten, der ist doch nett. Und die Frauen finden, er sieht gut. Redford nennen sie ihn wegen der Ähnlichkeit. Und in seiner Jugend in seiner rheinischen Heimat hieß er nur „dä Schön“. Inzwischen ist er fasst so zerknittert wie der Schauspieler, dessen Bruder er sein könnte. Gut gealtert, meinen die Frauen. Dies schiefe Lächeln am Rande eines unverschämten Grinsens, das hat er immer noch drauf. Schlank ist er geblieben. Kleidet sich jugendlich, also so wie die jeweilige Jugend es tut. Das macht er schon seit fünfzig Jahren so. Wird dieses Jahr siebzig und ist immer noch on the road. Um die Leute auszunehmen. Angefangen hat er mit einem ziemlich angelatschten Bulli, den er aus einer Polizeiversteigerung erworben hatte. Muss Ende der Sechzigerjahre gewesen sein. Hatte mit den Hippies nichts am Hut, sondern wollte Geschäftsmann sein. Zocken war immer schon sein Ding. Seit Schulhofzeiten. Schibbeln hieß das Spiel, bei dem die Jungs aus der Hocke Groschen gegen die Wand warfen. Wessen Münze am nächsten an der Mauer liegenblieb, gewann und kassierte alle geworfenen Münzen. Lion gewann, wie er immer sagt, in achtundneunzig Prozent der Fälle. „Abzocker auf Achse“ weiterlesen

Kommst hier nicht rein

„Was willst du?“ sagte er, und es hörte sich an wie „Wasswissu!“ Sein Kopf stand etwas vor der Längsachse seines Körpers auf einem wulstigen Nacken. Von hinten sah er vermutlich aus wie eine Echse. „Und? Was?“ wiederholte er. Jedenfalls interpretierte ich so das Geräusch aus seiner schmalgekniffenen Sprechöffnung. Der Typ stand festgemauert da, die Füße auf Hüftbreite auseinander, die Faust der einen in der Fläche der anderen Hand auf Bauchnabelhöhe. Es gab auch eine Nase im Gesicht, aber die hatte eine außergewöhnliche Form und Richtung. Einsfünfsechzig war er höchstens groß. Bizeps mit Eiweißpräparaten und viel Eisen aufgepumpt. Zuckte nervös mit den Muskeln rund um den den Kurzhals. „Ich muss da mal eben rein, weil ich was aus der Pförtnerloge holen soll.“ Die Schmeißfliegenbrille unter der wulstigen Stirn hüpfte im Takt seines Schnaufens: „Geht nicht.“ Mir war klar, dass man diesem Wesen mit Argumenten und gutem Zureden nicht würde beikommen. „Befehl vom Boss“, versuchte ich mit einer Art Blaffen. Der Security-Affe ging einen halben Schritt rückwärts. Anscheinend dachte es mit ihm. Dann: „Welcher Boss?“ Er zeigte leichte Unsicherheit. Ich setzte nach: „Na, der oberste Boss, natürlich!“ „Kommst hier nicht rein“ weiterlesen

Notnagel

Sie hat die Decke mit dem Rankenmuster aufgelegt. Dazu das passende Platzdeckchen aus hellem Bast. Eine gelbe Rose in der schlanken Vase. Zwei weiße Kerzen in den silbernen Leuchtern. In dieser Woche ist das schlichte weiße Geschirr dran. Wie immer hat Almut drei Scheiben vom gesunden Brot mit der Maschine geschnitten und ins Körbchen gelegt. Zwei davon wird sie essen. Mit Messer und Gabel. Gerade hat sie sich hingesetzt und einen Schluck vom Hagebuttentee genommen. Sie hat sich Kräuterquark zurechtgemacht und Radieschen. Das Radio spielteStreichquartette von Brahms, und sie ist ganz allein. Ja, sagte sie den wenigen Bekannten und Verwandten auf Nachfrage, ich bin gern allein. Muss ich auf niemanden Rücksicht nehmen, kann machen, was ich will. Meistens geht es ihr auch gut, da istsie nicht einsam, nur allein. „Notnagel“ weiterlesen

Freier Fall

Jetzt und hier im Jenseits kann ich sagen, ich habe den Flug genossen. Allein der Absprung war ein Moment größter Freiheit. Stolz war ich auf mich, fühlte mich als Sieger, hatte meine Höhenangst endgültig überwunden. Außerdem war der Sturz an sich die Belohnung für die viele Arbeit und Mühe, die mich erst ganz oben auf die Spitze des Brückenpfeilers gebracht hatten. Denn einfach war es nicht, die verschiedenen Sicherheitseinrichtungen zu überwinden. Konnte nur gelingen nach sorgfältiger Planung und langfristiger Vorbereitung. Den Gesellenbrief als Maler und Lackierer zu fälschen sowie diverse Arbeitsbescheinigungen und Zeugnisse ehemaliger Arbeitgeber, war da noch die leichteste Aufgabe. Und dann musste ich warten. Genau drei Jahre, sieben Monate und elf Tage. So lange dauerte es, bis die zuständige Firma wieder jemanden für die Renovierung der Pylonen suchte. Ich bewarb mich online, hatte am nächsten Tag das Vorstellungsgespräch und erhielt am Montag drauf die gute Nachricht: ich könne zum 1. September anfangen. Die fünf Wochen bis zu diesem Termin wurden mir sehr lang. Sie dehnten sich ebenso wie die sieben Wochen und vier Tage bis ich zum ersten Mal am Fuß des Nordpfeilers stand, zusammen mit dem Chef, einem Kollegen und dem Lehrling, der ein Mädchen war. „Freier Fall“ weiterlesen

Neue Dichter

Als Hans O. in diesen Märztagen draußen in der Sonne saß, einen starkgestrickten Wollschal gegen den scharfen Wind um den Hals geschlungen, da musste er an Thomas Mann denken, an den Zauberberg. An Lungenkranke, die hoch in den Schweizer Bergen in der Frühlingssone auf Terrassen liegen, mit Decken gegen die Kälte geschützt. Man müsste öfter an Thomas Mann denken, dachte er, und dass er selbst vielleicht ein Dichter werden könnte. Denn sein Versuche in der Prosa waren samt und sonders gescheitert. Da schien es ihm erfolgversprechender, sich an der Dichtkunst zu versuchen. Und begann in der Märzensonne sich wärmend mit dem Nachdenken über die Poesie. Als Ingenieur hatte man ihm allerdings im Ingenieursstudium die Poesie gründlich ausgetrieben. Mathematik und Physik bestimmten sein Denken, Formeln, Gleichungen und Konstruktionszeichnungen. Dafür hatte ihm seine Ausbildung das nötige Rüstzeug mitgegeben, Ziele durch systematisches Arbeiten zu erreichen. „Neue Dichter“ weiterlesen

Viele Räume, das Haus

Eine Zeitlang zählte es zu den Ritualen unserer Treffen, dass jemand von einem Traum berichtete. Ich erinnere mich vor allem daran, wie Rudolph einen Traum auf seine besondere Art vortrug. Den meisten kam es vor, als stammele er, aber wir anderen wussten, dass sein Sprechen ein Spiegel seiner Seele war. Sein Bericht ging ungefähr so: „Viele Räume, das Haus. Das Haus. Schwiegereltern froh über mein Scheitern. Dann mit Frau und Kind ins Vorderhaus. Viele Räume. Gänge, Treppen. Sonne scheint. Wir halb unter der Erde. Kein Weg raus. Beschweren uns. Das Haus. Jetzt oben, oben, Terrasse. Im Licht. Baby weint, Schwiegwermutter schreit: Lieber einen Hund! Hab mich im Keller verirrt. Höre jedes Wort. „Viele Räume, das Haus“ weiterlesen

Nur die Liebe

„Ich hab’s satt“, sagte Axel. Er hatte den linken Ellenbogen auf den Tisch gestützt und seine Wange in die offene Handfläche gelegt. Mit der Linken umfasste er das Bierglas. Er gab einen Laut von sich wie ein schlecht gelauntes Tier. Dann lehnte er sich auf der Bank zurück, verschränkte die Hände im Nacken und sah sich die Decke in der Kneipe an; Spuren aus fröhlichen Raucherzeiten. „Mal renovieren“, murmelte er. Pola sah zu, wie der attraktive Mann mittleren Alters ganz nach vorne rutschte und sich halb über die Tischplatte lehnte. „Satt hab ich’s“, wiederholte er. „Was hast du satt“, fragte sie. Aber er antwortete nur mit einer theatralischen Geste, weltumspannend mit weit ausgestreckten Armen. Das Rendezevous mit dem Typ, der auf den Fotos der Partnerbörse so optimistisch und stark ausgesehen hatte, verlief enttäuschend. „Nur die Liebe“ weiterlesen

Kein Wunder

Natürlich versucht Madlinn, aus eigener Kraft wieder auf die Beine zu kommen. Jeden Tag versucht sie es. Hievt die Oberschenkel mit beiden Händen über die Bettkante und setzt sich auf. Schiebt sich vorsichtig näher an den Abgrund. Versucht mit den Fußsohlen den kühlen PVC-Boden des Krankenzimmers zu berühren. Wenigstens mit den Zehenspitzen. Aber jedes Mal, wenn ihr das gelingt, knallt irgendeine Sicherung in ihrem Vegetativsystem raus. Ihr wird schwindlig. Die Farben vor ihren Augen verblassen, sie sieht das Bild in Graustufen. Dann beugt sie sich zurück bis der Rücken die Matratze des hochgelegten Bettes berührt und wartet ab. Singt dabei leise vor sich hin. Meistens dauert es dann einmal „Hotel California“ oder höchstens „Stairway to heaven“ bis sie wieder klar denken kann. Sie singt die klassischen Rocksongs auf die Art, mit der sie berühmt geworden ist. Eine Mischung aus Tori Amos und Barbara Dennerlein nannte sie der Kritiker der FAZ vor ein paar Jahren. Wie sie mit bloßen Füßen an der mächtigen Hammond B3 mit Bass-Pedalen sitzt, begleitet vom schweigsamen Drummer Bug und ihrem Ex-Lover Süver am E-Bass. Schleppend der Rhythmus, synkopisch, magisch die Stimme, wie in einer Eishöhle auf Spitzbergen gesungen. „Kein Wunder“ weiterlesen