Die Glanzzeit der Fotokopie (1)

xerographyBis auf einen erinnere ich mich an alle meine Schüler- und Studentenjobs mit einem guten Gefühl. Die Ausnahme war eine stundenweise Tätigkeit bei einer obskuren Import-Export-Agentur mit Sitz auf der Berliner Allee, wo ich entweder im staubigen Keller Kartons von hier nach dort räumen oder merkwürdige Dinge beim Zoll am Flughafen abholen musste. Egal was ich armer Fünfzehnjähriger tat, es wurde von der Chefin mit Spott, Häme oder Beschimpfungen kommentiert. Eines Tages beschloss ich, von einer Tour zum Zoll einfach nicht wiederzukehren. Da die böse Frau weder meine Adresse, noch unsere Telefonnummer kannte, konnte sie nichts dagegen tun. Allerdings mied ich noch einige Monate lang das Stück Straße, an dem das Haus mit dem Büro der Firma lag. Bei einem anderen Job verabschiedete ich mich auch auf französisch. Für einen Freund, der als Nachtportier arbeitete, übernahm ich im Hochsommer eine Schicht, weil er alkoholbedingt nicht dazu in der Lage war. Gegen zehn traf ich im Hotel ein. Der Tageskollege vollführte die Übergabe, und ich war allein.

Irgendwas war los in dieser warmen Nacht. Erst hatte ich die Rezeption voll Besoffener, die wollten, dass ich die – nicht vorhandene – Bar eröffne. Dann rief mich eine ältere Dame in den vierten Stock, weil sie das ZDF nicht in den Fernseher kriegte. Gegen zwei Uhr verkloppte ein Typ im Zimmer seine Frau. Ich rief die Cops. Der Schläger fand das nicht gut und versuchte, mich noch vor dem Eintreffen der Polizei ebenfalls zu verprügeln. Dann fiel der Aufzug aus, und gleichzeitig bekam ich Getränkebestellungen aus vier Zimmern. Als dann noch ein Gast um fünf Uhr darauf bestand auszuchecken, riss mir der Geduldsfaden. Ich ging einfach so. Mein Kumpel verlor den Job, und danach waren wir auch keine Freunde mehr.
Merwkürdig auch die Tätigkeit im Parkhaus der Familie Hagemann auf der Stresemannstraße. Ich saß ein paar Sommerwochen des Jahres 1972 in einem Kabüffchen an der Einfahrt und gab die Parkscheine aus. Vorher schob ich so einen Wisch unter eine Stempelmaschine, die dann die Einfahrtzeit aufdruckte. Später musste der Parkende dann an der Kasse einen zweiten Stempel holen. Die Differenz wurde händisch ausgerechnet, der Kunde zahlte den entsprechenden Betrag. Das war gemütlich. Auch der Bursche an der Kasse war Student. Ein wenig älter als ich, mit schwarzer Krausmatte wie ein Rockstar und einem bordeauxfarbenen Opel Rekord Coupé. Wir waren gehalten, jede Stunde abwechselnd eine Runde durch die Etage zu drehen, um nach dem Rechten zu sehen. Das taten wir proforma zu Schichtbeginn, wenn sich noch die Festangestellten der angeschlossenen Tanke und Pflegestation im Gebäude rumdrückten. Nachts dann nicht. Da wurde gelesen. Wenn ich mich recht erinnere, jobbte ich da sieben Wochen lang sechs Tage die Woche je acht Stunden. In dieser Zeit las ich – billig im Antiquariat erworben – sage-und-schreibe 48 Klassiker der Weltliteratur – wie man sich ausrechnen kann war das im Schnitt gut einer pro Nacht. Freitags war Zahltag. Da musste man dann zwischen exakt 12:30 und 14:00 in der Wohnung der Hagemanns am Dreieck erscheinen und den ausgefüllten Stundenzettel vorweisen. Der wurde genau kontrolliert, dann gab’s die Kohle.

Insgesamt habe ich das Geld zum Leben ab dem sechzehnten Lebensjahr weitestgehend selbst und durch Bürojobs verdient. Denn selbst in den siebziger Jahren waren 200 Mark Waisenrente und 180 Mark Bafög verdammt wenig Kohle, wo doch schon die Miete fürs WG-Zimmer bei über 200 Mark lag. Aus der sanften Hügelkette der bezahlten Tätigkeiten ragen drei Gipfel hervor. Das Schulkollegium beim Regierungspräsidium, die Firmen Mannesmann Export und später Mannesmann Anlagenbau sowie der Kopierergigant Rank Xerox.

Schulkollegium beim Regierungspräsidenten
In den Zeiten der Vollbeschäftigung, noch vor dem Wüten der Refa-Leute, weit vor der Weisheit, Profit sei am besten durch Rausschmeißen von Mitarbeitern zu steigern, in jenen Zeiten, in denen vieles noch manuell gemacht wurde und gemacht werden musste, damals in den goldenen Zeiten von Wohlstand und Glück, ging man als Schüler oder Stundent in den ersten Tagen der Ferien ins Arbeitsamt und kam nach kurzem Warten und kurzem Gespräch mit Zetteln wieder heraus, auf denen die Adressen von möglichen Arbeitgebern standen. Da ging man dann hin, sagte, von bis wann man einsatzfähig sei und fragte nach dem Stundenlohn. War man dem Gegenüber nicht völlig unsympathisch oder suspekt, hatte man den Job. So auch den bei einer Behörde, die im alten Stahlhof an der Bastionstraße hauste. Um das Jahr 1972 herum hatte dieses inzwischen picobello luxussanierte Gebäude etwas von einem Spukschloss. Außer im Souterrain, wo unter anderem die Poststelle und die Materialausgabe residierten, lag die Deckenhöhe bei gut fünf Metern. In der obersten Etage hatte man teilweise Zwischengeschosse eingezogen, die über versteckte Treppenhäuser zu erreichen waren. Der Clou war aber die Geheimtreppe hoch zum Türmchen, auf dem weithin sichtbar die Kogge als Windhuhn thronte. Von dort hatte man einen tollen Blick über die Altstadt und über die Kö bis zum Hauptbahnhof.
In jenem Sommer hatte man ein gutes Dutzend Studenten angeheuert, weil auf EDV umgerüstet werden sollte. Denn das Schulkollegium beim Regierungspräsidenten war zuständig für das Berechnen der Bezüge verbeamteter Lehrer. Für jeden Pauker gab es einen DIN-A3-großen gelben Karton, auf dem mit spitzer Feder und sehr penibel Monat für Monat die Vergütung sowie die diversen Zulagen eingetragen und aufsummiert wurden. Hatten die Sachbearbeiter im Laufe des Monats diese mühselige und verantwortungsvolle Arbeit getan, wurden Listen erzeugt und manuell dupliziert. Darin waren – nach Schulen sortiert – die Lehrer und ihre Bezüge verzeichnet. Eine Liste blieb vor Ort, die andere ging per Boten an das Landesamt für Besoldung und Versorgung kurz: LBV), wo entsprechend die Überweisungen veranlasst wurden.

Der kühne Plan der sozialdemokratischen Landesregierung war es, diesen ganz Prozess zu computerisieren! Man hatte eine Kommission für die Planung und Überwachung gegründet und einen Sondereinsatzgruppe für das praktische Tun. Die unterstand einer höhergestellten Beamtin, einer freundlichen, ältlichen Jungfer, die aber von der Materie keine Ahnung hatte und deshalb ganz auf einen jungen Kollegen namens von Grabczewski (oder ähnlich…) vertraute. Und dem unterstand die Studententruppe, die in einem gut 300 Quadratmeter großen, staubigen Raum mit angeranzten Möbeln untergebracht wurde. Unsere Aufgabe war es im ersten Sommer, alle Adressen der Lehrer auf den gelben Karten mit der jeweiligen Postleitzahl zu versehen, denn in Zukunft wollten man den Beamten ihren Besoldungsbescheid per Post ins Haus schicken. Wir nahmen uns Zeit, viel Zeit, und niemand hetzte uns. In den folgenden Semesterferien waren wir da nur noch zu sechst oder siebt und gingen gemeinsam mit unserem Vorturner ans Eingemachte. Nun wurde Karteikarte für Karteikarte auf Lesbarkeit überprüft, denn mit den dort handschriftlich verfertigten Einträgen sollten in einem weiteren Schrift Formular ausgefüllt werden, die dann im LBV von so genannten “Ablocherinnen” abgetippt und in Lochkarten verwandelt wurden. Immer wenn eine nennenswerte Anzahl Formulare fertig war, fuhr von Grabczewski ins Landesamt, wo die Daten erfasst und Probeläufe durchgeführt wurden.
In meiner dritten Amtszeit im Schulkollegium war ich dann schon so fit in allen Abläufen, dass ich nebenbei eine Urlaubsvertretung übernahm. Inzwischen waren ich und drei weitere Jungs praktisch Teil der Belegschaft und nahmen am süßen Leben der Minibehörde teil. Denn das bisschen Arbeit stand nicht im Vordergrund. Pünktlich musste man sein und die Pausenzeiten pinibelst einhalten. Aber ansonsten konnte man die Tage nett verbringen. Einer der jüngeren Kollegen hatte ein Verhältnis mit einer etwas älteren Damen orientalischer Herkunft, und mindestens jeden zweiten tag verschwanden die beiden in einem Abstellraum, um nach einer halben Stunde etwas derangiert wieder aufzutauchen. Wenn jemand Geburtstag oder Jubiläum hatte, wurde aber mittags für den Rest des Tages gefeiert. Weil es auch weitere Anlässe für Kaffe und Kuchen samt Likörchen, Schnäpschen und Sekt gab, wurde eigentlich immer gefeiert. Und dann zog man nach Feierabend gern auch weiter in die Altstadt, wo es dann regelmäßig zu Alkoholexzessen kam.

Im Sommer 1975 drehte ich meine letzte Runde beim Schulkollegium. Ich hatte mich mit einem Typ angefreundet, der auf der Hohe Straße im Anbau eines Hauses auf Gartenhöhe wohnte. In der Mittagspause holten wir uns beim Tante-Emma-Laden auf der Bastionsstraße einen Umbiss und verzogen uns in seine Bude zum Schachspielen. Ein Kommilitonne, der über die Jahre zum meinem besten Freund wurde, war ebenfalls im Stahlhof gelandet. Wir saßen mit von Grabczewski in einem Büro. Der rauchte unentwegt und sah sich Erotikheftchen an, die er in der Schublade verwahrte. Manchmal regte ihn das so an, dass er schnell aufs Klo verschwinden musste. Und wenn er laut furzte, verteilte er rasch eine Runde Kippen, damit wir gemeinsam den Geruch überdeckten.
Es gab dann auch noch einen altgedienten Kollegen namens Reiner Brücken, der sich mit diesem Spruch vorstellte: “Großes B und kleiner Rücken.” Der war glühender Sozialdemokrat und hat sein Parteibuch immer dabei. Einmal war der Besuch eines – ebenfalls sozialdemokratischen – Staatssekretärs angekündigt, und Herr Brücken hatte zur Feier des Tages eine SPD-rote Krawatte angelegt und sein Parteibuch gut sichtbar auf seinem Schreibtisch platziert. Der Besuch ließ aber genau den Raum aus, in dem er saß. Er wohnte in einem dieser Einfamilienhäusern im noch jungen Stadtteil Garath, in dem die Sozen bei Wahlen gern auf 70 und mehr Prozent der Stimmen kamen. Herr Brücken (“Nenn mich Reiner. Ach, nee, so heißt du ja auch…”) war Kriegsvollwaise und erzählte spannenden Geschichten davon, wie er sich als Junge von nicht einmal zwölf Jahren allein einem quer durch ganz Deutschland geschlagen hatte und erst nach einer Odysee von vier Jahren wieder in seiner Heimatstadt Düsseldorf landete, wo eine Verwandte ihn aufnahm und wie einen Sohn großzog.

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