Als die Grünen sich selbst noch zu den Linken zählten, nahmen viele Mitglieder auch an den klassischen Demonstrationen zum 1. Mai teil. Es war das Jahr 1980, in dem ehemalige K-Gruppen-Kader sich verbürgerlichten und penetrant eine Zusammenarbeit mit den Sozen herbeireden wollten. Das hieß in jenen Jahren auch, dass man sich mit den Gewerkschaften gut stellen musste, also auch bei den Mai-Kundgebungen mitzumachen. Immerhin waren uns die Spezialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionäre nicht annähernd so verhasst wie die Betonköppe aus dem Lager der K-Gruppen, so Typen wie der Trittin und andere, die einst in der KPDML oder KPD/AO oder den MG oder im KBW an der Weltrevolution in Berlin und/oder Frankfurt gearbeitet hatten. In den Gründungsjahren der Grünen, an denen ich auf allen Ebenen intensiv beteiligt war, prallten völlig gegensätzliche Kräfte aufeinander. Noch beim Gründungsparteitag in Karlsruhe konnte man den Blut-und-Boden-Bauern Baldur Springmann und den erzkonservativen CDU-Naturfreund Herbert Gruhl im freundlichen Gespräch mit den Extremlinken Thomas Ebermann und Rainer Trampert und natürlich auch Jutta Ditfurth. Die späteren Karrieristen und Wendehälse à la Fischer, Schily und Konsorten waren entweder nicht dabei oder spielten keine Rolle. Bei uns in Düsseldorf gingen die grünen Uhren ohnehin anders.
Denn hier war die grün-alternative Szene maßgeblich durch das Umfeld der Kunstakademie geprägt und insgesamt auch eher alternativ als grün. Ex-K-Kader und Bürgerliche hatten bei uns eher nichts zu sagen. Anthroposophen und undogmatische Linke schon eher. Und das Herz schlug im Raum 3 am Eiskellerberg, dem Refugium des Joseph Beuys und Sitz der Freien Internationalen Universität (FIU). Beuys hatte – zunächst mit einiger Skepsis – die Grünen als legitime Nachfolger seiner Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung (die wiederum an die Deutsche Studentenpartei anschloss, einer undogmatischen Variante der APO) erkannt und sich zunehmend in der Partei engagiert.
Die frühen Diskussionsrunden in diesem Raum im Erdgeschoss der Kunstakademie waren aufregend, und es war im Herbst 1979 als Joseph Beuys an einem solchen Abend den heutigen DOSB-Vorturner Michael Vesper nach einem dümmlichen Redebeitrag, der auf Ausgrenzung von Leute abzielte, die gegen die Parteiwerdung der Grünen waren, mit einem “Vesper, du bist ein Arschloch” abkanzelte. Und in all den Jahren mit Beuys habe ich ihn nie diesen oder vergleichbare Ausdrücke benutzen gehört.
Der Jörg
Aber mit dem Start der Grünen, noch vor der Parteigründung, zur Europawahl 1979 – bei der im Status einer “Sonstigen Politischen Vereinigung” (SVP) immerhin 3,2 Prozent der Stimmen geholt wurden, kamen über Beuys und die Kunstakademie viele interessante, quer- und vorausdenkende Menschen zu den Grünen in Düsseldorf. Unter ihnen auch Jörg Immendorff. Den kannte ich aus meinem Kunststudium eher flüchtig aus dem Umfeld der Beuys-Klasse; damals gab er mit seinen “Lidl“-Aktionen den dadaistischen Dandy. 1979 war er schon einige Jahre als Lehrer an einer Hauptschule unterwegs, hatte stilistisch aber schon auf schwarzes Leder umgestellt. “Der Jörg”, wie er allgemein genannt wurde, war ein genialer Diskussionsleiter, der mit lauter Stimme und kristallklaren Statements den Debattenchaoten, von denen es damals bei den Grünen Dutzende gab, das Wasser abgrub. Keine Ahnung, an wievielen ellenlangen Abend in den Räumen der Evangelischen Studentengemeinde an der Witzelstraße er diese Aufgabe übernahm.
In jenen Jahren betrieb der Jörg ein Atelier in einem Hinterhof an der Gustav-Poensgen-Straße und verkaufte seine Bilder schon ganz gut. So konnte er sich damals einen Toyota Landcruiser leisten, und die meisten Grünen sahen das Gefährt weniger kritisch als einen Mercedes mit deutlich geringerem Verbrauch. Nachdem wir uns bei den Grünen einigermaßen angefreundet hatten, besuchte ich ihn etliche Male in diesem Atelier und sah ihm bei der Arbeit zu. Jörg rauchte beim Malen ununterbrochen und redete auch gerne dabei, sodass wir viele Stunden über die Kunst und die Politik palaverten.
Im Frühjahr 1979 war das Gerücht aufgekommen, bei Nievenheim solle ein unterirdisches(!) Atomkraftwerk gebaut werden, mit dessen Strom in erster Priorität die Alu-Hütten dort versorgt werden sollten. Angeblich habe die deutsche Aluminiumindustrie vor, dort noch mehr Hütten zu errichten, sodass die elektrische Energie aus dem Braunkohlekrafwerk in Frimmerdorf nicht reichen würde. Um ehrlich zu sein: Ob es jemals ernsthafte Pläne gegeben hat, weiß ich nicht. Jedenfalls war dieses Phantom-AKW für uns Grüne ein gefundenes Fressen, und der frühe Widerstand dagegen sollte eben bei der Mai-Kundgebung im Jahr 1980 thematisiert werden. Dafür malte der Jörg ein riesiges Transparent in dem Stil, der in später weltberühmt werden ließ. Und an diesem Transparent ein klitzekleines bisschen mitmalen zu dürfen, war mir schon damals eine große Ehre. So weit ich mich erinnere, habe ich am erdbraunen Hintergrund mitgepinselt. Wichtiger war aber meine Mitarbeit am Transport des Banners zum und vom Veranstaltungsort.
Professor Immendorff
War es im Sommer 1982 als die erste große Einzelausstellung mit Bildern seines Zyklus’ “Café Deutschland” in der Düsseldorfer Kunsthalle eröffnet wurde? Sommer war es auf jeden Fall. Am Vortag hatte ich den Jörg noch in seiner damaligen Lieblingsbar getroffen, und er hatte gesagt: Du kommst morgen aber auch, oder? Nun war ich Strohwitwer, weil Frau und Kind bei der Oma ein paar Ferientage verbrachten und ich arbeiten musste. Am späten Nachmittag spazierte ich also zum Grabbe-Platz, schlich mich in die noch nicht eröffnete Ausstellung und sah mir die rund zwanzig großformatigen Bilder an. Bis heute zählen diese Gemälde zu meinen Lieblingskunstwerken. Inzwischen waren die Türen geöffnet, und ich schickte mich an, die Halle zu verlassen. Genau am Eingang traf ich auf Jörg, der gerade mit einem großen Tross Kunstfuzzis und Journalisten zur Eröffnung kam. Und, fragte er mich, wie findest du das? Ich sagte nur: Ganz große Klasse und ging rüber in den Hof, ein paar Alt trinken.
Er hatte inzwischen den Lehrerjob aufgegeben. Meine damalige Ehefrau und ich trafen ihn manchmal hier und da in der Stadt. Irgendwann im Herbst 1983 rief er, es ginge ihm nicht gut. Wir trafen uns zu dritt in der Rheinterrasse in der Bar. Er sah schlecht aus, hatte sich von seiner damaligen Partnerin getrennt. Wollte quatschen und brauchte Zuspruch. Das war unsere letzte Begegnung, bevor er 1984 nach Hamburg ging. Wir haben ihn da entgegen aller Versprechungen nie besucht.
Dafür trafen wir ganz unvorbereitet an einem unerwarteten Ort auf Jörg Immendorff. Der hatte ja in St.Pauli Millieu-Luft geschnuppert und unter anderem den Boxsport für sich entdeckt. Kein Wunder also, dass er sich mit Hennes Schidan, einem Sproß der bekannten Düsseldorfer Boxsport-Familie aus der Altstadt angefreundet hatte. Dessen Sohn Mike spielte gemeinsam mit meinem Sohn Eishockey in einer Nachwuchsmannschaft der DEG. Eines Tages – es wird im Winter 1991/92 gewesen sein – erschien als Professor Immendorff auf Einladung von Hennes Schidan beim Training, weil er sich als Sponsor betätigt hatte.
Er trug einen hellbeigen Kamelhaarmantel, und sah nicht sehr zugänglich aus. Natürlich begrüßten wir ihn mit einem freundlichen “Hallo Jörg”, aber so richtig erkannte er uns nicht wieder. Dafür war wohl in den sieben Jahren dazwischen zu viel passiert.
Ich habe dann noch ein paar Mal Anlauf genommen, ihn in seinem Atelier in der Stephanienstraße zu besuchen, habe dann aber immer gedacht: Wozu? Um über alte Zeiten zu quatschen? Um mich in seiner Prominenz zu sonnen? Als die Nachricht von seinem Tod kam, war ich aber doch sehr traurig und habe es bedauert, den Kontakt mit dem Jörg nie wieder aufgenommen zu haben.