“Ja,” sagte Thibaud, “ich kenn das. Erzähl wie es bei dir war.” Wir saßen in seinem Büro unter dem Dach, denn eigentlich hatten wir über das Konzept für dieses neue Portal diskutieren wollen an diesem Samstagabend. Ulla hatte uns später einen Imbiss gebracht und eine Flasche Wein. Wir hatten gegessen und dabei Belangloses geredet. Bis Thibaud mich fragte, wie es mir denn in den letzten Monaten gegangen sei, man habe sich ja seit über einem Vierteljahr nicht gesehen. “Beschissen,” hatte ich geantwortet, und jetzt wollte er es genau wissen.
“Es fing damit an,” begann ich, “dass ich das Gefühl hatte, dass alles, was um mich herum geschah, gegen mich gerichtet war. Alle Menschen, denen ich direkt oder indirekt begegnete, wollten mir schaden – so kam es mir vor. Ab irgendeinem Zeitpunkt hatte ich den Eindruck, es sei immer schon so gewesen, und ich tat mir leid. Mir schien es so, als hätte ich nie wirkliche Freude erlebt, sei nie verstanden oder geliebt worden. Dann, an einem sehr grauen Tag, an dem ein eiskalter Nieselregen mich auf dem Weg ins Büro begleitet hatte, an einem Tag, an die Kollegen mich anschwiegen, begann ich, mich selbst nicht mehr zu mögen. Ich fand mich hässlich, zu dick, unbeholfen, und wusste ganz plötzlich, dass mich nie ein anderer Mensch so erkennen würde, wie ich war. Ich las die Zeitung und verstand kein Wort. Ich stellte mir die Frage: Was soll werden?”
Thibaud goss mir nach, sah mich eine Weile an und sagte: “Das ist eine kluge Frage. Aber eine, die dir auf mittlere Sicht den Boden unter den Füßen wegzieht.” Ich trank das Glas in einem Zug leer und spürte aufsteigende Tränen. “Es ging mir nicht um meine Zukunft, sondern um Erlösung. Ich hatte eine starke Sehnsucht nach dem Kleinen, Überschaubaren, dem Geordneten, in dem ich einen festen Platz hätte und Sicherheit. Und je mehr ich mich danach sehnte, desto größer wurde meine Angst. Ich konnte nur noch schlecht einschlafen, und um dem vorzubeugen, begann ich, vor dem Schlafengehen zu trinken. Ich trank nicht mehr nur eine oder zwei Flaschen Bier am Abend, sondern drei, vier, und später noch zwei Gläser Wein, manchmal einen Cognac. Erst an dem Abend, als ich beinahe aus Versehen eine Flasche Wodka leerte, indem ich den Alkohol mit Saft mischte, wurde mir bewusst, worauf ich zusteuerte.” Er nickte und verteilte den Rest aus der Flasche auf unsere Gläser.
“Am schlimsten während einer solchen depressiven Verstimmung,” sagte Thibaud, “ist das Gefühl, die Welt sei durchlöchert und jeder Blick durch eines der Löcher lässt einen das kalte Nichts erkennen.”
“Den Höhepunkt erreichte dieser Zustand eines Nachts als ich erwachte und meinte, aufs Klo gehen zu müssen. Das Schlafzimmer lag in difussem Licht, und Zilly atmete gleichmäßig im Tiefschlaf. Ich richtete mich auf. Da sah ich einen schwarzen Vogel auf dem Gitter am Bettende sitzen, einen Raben, der mich ansah und leicht sein Gefieder schüttelte. Ich wusste, dass er mein Tod war, und dass ich in dem Augenblick sterben würde, in dem ich einen Fuß auf den Boden setzen würde. Vermutlich habe ich zwei, drei Stunden aufrecht im Bett gesessen und den Bogel angestarrt. Ich hatte nur noch einen Wunsch – dass er verschwinden möge. Aber dann versammelten sich die Dämonen hinter ihm und flüsterten auf mich ein, ich solle es doch einfach tun, es würde mir eine Erleichterung sein, die Erlösung, und helfen könne mir ohnehin niemand. Ich fand mich auf dem Balkon wieder, und der Rabe saß jetzt auf der Brüstung, und eigentlich wollte ich mich nur noch fallen lassen. Keine Ahnung, wie ich wieder unbeschadet ins Bett gekommen bin.”
Wir schwiegen. Dann fragte Thibaud: “Und wie bist du wieder aus diesem Tief hinaus gekommen?” – “Eines Tages war es einfach vorbei. Als ob ich eine Erkältung gehabt hätte, die ja auch irgendwann zu Ende ist. Von einem Tag auf den anderen fand ich die Welt und das Leben nicht mehr so schlimm und konnte mich selbst wieder leiden.”
An Arbeit war an diesem Abend nicht mehr zu denken. Also holte Thibaud mehr Wein und wir sprachen von alten Zeiten und neuen Plänen.