Poss hatte die Arme auf den Beckenrand gelegt und sah sich von unten die Körper der Mitgereisten an, die dort standen oder gingen. Man schwamm nackt. Das hatten Julie und Meike, die Physiotherapeutinnen, so eingeführt ohne viel Aufhebens davon zu machen. Bis auf Uwe taten es ihnen alle nach. Der schlurfte gerade in Adiletten und bekleidet mit einer schlechtsitzenden Turnhose und in einem Deutschland-Trikot vorbei. Pia hatte neben Poss geparkt und ebenfalls die Arme auf den Beckenrand gelegt. [Lesezeit ca. 22 min]
Freizeit
„Warum bist du mitgekommen?“ fragte sie. „Zufall“, sagte er, „purer Zufall.“ Er hatte einfach keine Lust ihr zu erzählen, wie schlecht es ihm ging, seit Iris ihn verlassen und die Kinder mitgenommen hatte. Wie orientierungslos er in allem war, im Job, in allen Alltagsdingen. Wie enttäuscht und traurig. Wie wenig er verstand, warum Iris gegangen war.
Krüll hatte ihn eines Tages angerufen: „Kommst du mit nach Dänemark? Ich fahr mal wieder mit meiner Jugendgruppe nach Blåvand. Der Platz für einen Betreuer ist freigeworden. Hab an dich gedacht.“ Da hatte er sich gefragt, was ausgerechnet er dort zu suchen hatte. „Musst nichts machen, nur dabei sein. Und aufpassen, dass die Jungs und Mädels keinen Scheiß bauen.“ Poss hatte keine Ahnung, welchen Scheiß die jungen Leute bauen und wie er sie daran hindern könnte. Aber zehn Tage in Gesellschaft zu sein und sich nicht zuhause im Selbstmitleid zu suhlen, schien ihm verlockend.
Dass Pias Körper ihn unter Wasser berührte, war ihm ein wenig unangenehm. Überhaupt fühlte er sich am zweiten Tag einigermaßen fehl am Platz, mitten unter jungen Menschen zwischen achtzehn und ungefähr fünfundzwanzig, wo er doch mindestens doppelt so alt war. Krüll, auch schon fast fünfzig, ging mit dem Altersunterschied gelassen um, er war es gewohnt, dauernd mit den Mitgliedern der Jugendabteilung der Selbsthilfeinitiative umzugehen. Es war ja sein Job.
Neben Krüll und den Gymnastiklehrerinnen zählten noch die Köchin und eine Ökotrophologin zum Team. Ziel der Freizeit war es schließlich, den Jugendlichen beizubringen, sich ihrer Krankheit entsprechend richtig zu ernähren. Marlies hieß die Ernährungsfachfrau, eine hagere Erscheinung mit wildem Kraushaar, die nicht nur im Kurs versuchte, streng zu wirken. Schätzte Poss sie auf knapp vierzig. Ilka, die Köchin, würde wohl etwa in seinem Alter sein.
„Und sonst so?“ sagte Pia, streckte die Beine nach hinten und paddelte mit den Füßen. „Ich kenn den Krüll schon ewig. Haben früher ne Menge komischer Sachen gemacht, Reisen und so.“ Sie deutete mit dem Kinn auf Uwe: „Komischer Typ. Aber nett.“ Poss nickte.
***
Krüll hatte ein aufgelassenes Hotel kaum fünfzig Meter vom Nordseestrand aufgetan. Zwei Flügel über Eck, elf Doppelzimmer, drei Einzelzimmer, dazu der Speisesaal samt einer intakten Hotelküche und eben der Schwimmhalle. Immerhin mit Zwanzig-Meter-Becken. Dazu eine finnische Sauna und ein Dampfbad. „Können wir uns nur leisten, wenn wir die Gruppe vollkriegen“, hatte er Poss erzählt. „Durch die Kurse kriegen wir einen satten Zuschuss, so passt es.“
Während die Jugendlichen in Begleitung von Krüll und den Physio-Frauen mit dem Bus angereist waren, kamen Ilka, Marlies und Poss einzeln in ihren Pkws in Blåvand an. An einem diesigen Samstagnachmittag im späten Juni trafen alle im Foyer zusammen, und Krüll verkündete die Zimmerverteilung. Es stellte sich heraus, dass es unter den Teilnehmern feste Pärchen gab, also Leute, die sich von vorherigen Freizeiten kannten und die möglicherweise ihre sexuelle Beziehung in Dänemark fortsetzen wollte. Krüll hatte damit nicht gerechnet, also regte sich Widerstand. Ingo und Marie wollten zusammen sein, Samira und Rolf, Bibi und Josch, Martin und Michael und natürlich Jule und Meike, die, wie er später erfuhr, ohnehin als Paar zusammenlebten.
Dass auch die Ernährungsexpertin und Krüll ein gemeinsames Zimmer bezogen, verblüffte Poss. Die Einzelzimmer waren ihm, der Köchin und Uwe vorbehalten, von dem es hieß, er schnarche so sehr, dass man ihn eigentlich in einen schalltoten Raum sperren müsste.
„Verheiratet? Kinder?“ Poss tat, als habe er Pias Fragen nicht gehört. „Ah, schon klar: geschieden. Meine Eltern auch. Geteiltes Sorgerecht, aber jetzt, wo ich neunzehn bin, ist es eh egal.“
Ilka sah aus, wie man sich eine Köchin vorstellt, nicht fett, aber schon wie jemand, der gern und viel isst. Poss mochte sie sofort, und als sie ihn fragte, ob er Lust habe, ihr beim Kochkurs zu assistieren, sagte er sofort zu. Wo er doch all die Jahre während der Ehe mit Iris der Familienkoch war und fünf- bis sechsmal die Woche seiner Ehefrau und den drei Töchtern abends ordentliche Mahlzeiten serviert hatte. Nachdem Iris gegangen war, hatte er zunächst versucht, dieses Ritual beizubehalten, aber nach kaum zwei Wochen hatte es ihn zutiefst deprimiert, für sich allein zu kochen und dann allein zu essen. Den Tisch ordentlich zu decken, Stoffservietten inklusive, kam ihm bald albern vor. Inzwischen waren es Tiefkühlpizzen und anderes Junkfood, das er sich im Backofen oder der Mikrowelle warmmachte, und meistens aß er auf dem Sofa vor dem Fernseher. Zweimal pro Woche ging er in den Sebastianus-Hof, ein klassisches Wirtshaus, wo man ihn kannte und wo es ordentliche Schnitzelkost gab. Oft trank er dort nach dem Essen weiter, bis man schloss, ihn freundlich vor die Tür setzte und er mehr oder weniger betrunken nach Hause schlich.
Gerade gingen die Physiotherapeutinnen vorbei, denen man ansah, dass beim Schwimmen und Sonnenbaden und vielleicht auch sonst oft auf Kleidung verzichteten. Gleichmäßig gebräunt, durchtrainiert, von ganz unterschiedlichem Körperbau, beide mit einer Art zu gehen wie Balletttänzerinnen. Auf die Penisse der Jungs achtete Posch nicht, sehr wohl aber auf die Dreiecke zwischen den Beinen der jungen Frauen. So viele unterschiedliche Formen und Farben hatte er in seinem bisherigen Leben noch nicht gesehen: Bibbi mit ihrem rötlichen, aggressiv nach vorne abstehenden Haarbusch, das tiefschwarze, gleichschenklige Dreieck bei Marie oder das winzige, blonde Sträußchen von Renate, das kaum den Spalt bedeckte. Nur Samira war an dieser Stelle völlig haarlos. Später lernte er das mausbraune, schüttere und ungleichmäßig gewachsene Haar bei Pia kennen.
Vielleicht sollte mich der Anblick der ganzen nackten Mädchen erregen, dachte er, vielleicht stimmt was nicht mit mir, dass ich nicht dauernd einen Ständer habe. Selbst beim Herumalbern im Nichtschwimmerbereich, wo sich die Körper der jungen Männer und Frauen beim Balgen miteinander verknoteten und die Bewegungen bei den Spaßkämpfen ungewohnte Perspektiven boten, blieb sein Glied weich. Und wenn er nachts in seinem Zimmer onanierte, dann dachte er immer nur an Iris.
Uwe hatte am Ende der Hall gewendet und kam wieder an ihnen vorbei, was Pia zum Anlass nahm, ihn gehörig nass zu spritzen: „Komm rein, du Vogel!“ rief sie, stieß sich vom Beckenrand ab und schwamm auf die gegenüberliegende Seite.
***
Nach dem Abendessen trafen sich alle wieder im Speisesaal. Zum täglichen Ritual gehörten Gesellschaftsspiele, auf jedem Tisch ein anderes Spiel, und nach jeder beendeten Partie wechselte jeweils ein Mitspieler zum nächsten Tisch. Man spielte Monopoly, Hase und Igel, Mensch ärgere dich nicht, Incognito und Spiele, die Poss nicht kannte. Weiter hinten standen Schachbretter auf zwei Tischen, sogar Schachuhren gab es. Am dritten Abend saß Uwe an einem Brett. Poss tat der Junge leid, also nahm er gegenüber Platz. Uwe hielt ihm die Fäuste hin, Poss schlug auf dessen Linke und wählte damit die weißen Figuren.
Nach seinem Zug mit dem Königsbauern bog Uwe sofort in die Moderne Verteidigung ab, eine Eröffnung, die Poss aus seiner Zeit, in der in Kneipen regelmäßig Schach um Geld gespielt hatte, ganz gut kannte. Bis er an die Stelle kam, wo er zu entscheiden hatte, ob er den fälligen Vorstoß mit dem Damen- oder dem Königsbauern unternehmen sollte. Da kam Pia. Sie zog einen Stuhl an den Tisch und setzte sich hinter die Schachuhr. „Na, ihr zwei. Wollt ihr was trinken?“
„Cola“, sagte Uwe, den sie beim Nachdenken aufgeschreckt hatte. „Bringst du mir bitte eine Dose Faxe mit?“ Der dünne junge Mann mit Ziegenbart hatte eine übliche Fortsetzung gewählt, und Poss entschloss sich, die schärfste Variante zu spielen, die er kannte. Also setzte er seinen Springer mitten in den schwarzen Damenflügel auf B6. Uwe schien schockiert und ließ den Blick über das Brett wandern. „Da“, sagte Pia, stellte ihm die Cola-Dose hin und übergab Poss das Bier. Sich selbst hatte sie ein Longdrink-Glas mitgebracht, das schon von Weitem nach Whiskey roch.
Die Uhr seines Gegners war bis auf drei Minuten abgelaufen. Uwes nächster Zug traf ihn völlig unvorbereitet, denn der hatte mit seinem weißen Läufer den zweifach gedeckten Bauern auf G3 geschlagen, ein Opfer, das Poss noch nie gesehen hatte. Er trank die Dose in zwei langen Schlucken aus und versuchte, die Lage einzuschätzen. Nach gut fünf Minuten beschloss er, das Opfer nicht anzunehmen, sondern weiter mit seinem Springer im schwarzen Damenflügel zu wüten. Ohne nachzudenken, schlug Uwe den nächsten Bauern und beraubte den weißen König seiner Deckung. Poss baute mit dem Springer eine Gabel auf, die Uwes Dame und einen Turm bedrohte. Und dann brach der Sturm los: schwarze Dame schlägt den gedeckten Läufer auf G2. König schlägt Dame, Springer gibt Schach, König schlägt Läufer, und plötzlich wird Poss klar, dass er die Chance für Schwarz übersehen hatte, ein ersticktes Matt zu erreichen.
Langsam legte er seinen König auf die Seite und reichte seinem Gegner die Hand. „Wow, Mann, du hast gewonnen!“ rief Pia, sprang auf und drückte Uwe einen fetten Kuss auf die schlecht rasierte Wange.
***
Am Sonntag hatte es begonnen zu regnen, und der scharfe Westwind brachte kalte Luft aus einem Tiefdruckgebiet. Wer sich traute, einen Spaziergang zum Strand zu machen, kehrte meist sofort um. Und nur Renate, die Nachfahrin wetterfester Ostpreußen, ging im Bademantel runter ans Meer und wagte sich in die Brandung.
Ab Montag traf sich eine feste Runde nachts in der Sauna. Meistens war es Ingo, der die Kabine ab Mitternacht vorheizte. „Nicht saufen in der Sauna!“ hatte Krüll angeordnet, aber dann hockten eben doch die sechs Nachtschwärmer auf den Holzbänken und tranken Wein, viel Wein. Den hatte Börnie mitgebracht, acht Kartons besten fränkischen Weißweins, die er am Treffpunkt aus seinem Kombi in den Bus umgeladen hatte.
Ingo, Marie, Krüll, Samira, Poss und Börnie saßen da, tranken und schwitzten und sprachen wenig. Gegen drei Uhr stieg die Mittsommersonne auf, und dann lagen diejenigen, die noch wach waren, zum Abkühlen in den Stühlen draußen auf der Terrasse. Als Poss am Mittwoch gegen vier endlich ins Bett gehen wollte, hörte er das Wasser in der dunklen Schwimmhalle plätschern. „Psst!“ machte es, während er versuchte zu erkennen, wer um diese Uhrzeit noch planschte. „Komm rein“, flüsterte die Stimme. Er stieg ins Becken, und da war Pia schon bei ihm: „Nach der Sauna nicht schwimmen – sagt Jule immer. Aber ich war ja gar nicht in der Sauna.“
Das Morgenlicht brachte das Wasser zum Leuchten. Und dann hielten sie sich fest in den Armen. „Hey“, sagte sie nur und spielte unter Wasser ein bisschen mit seinem Schwanz. Poss revanchierte sich, indem er sanft über ihren Spalt strich. Beiden war klar, dass es nicht das war, was sie wollten, und sie hörten auf. Schweigend schwammen sie ein paar Bahnen. Poss blieb noch im Becken, nachdem Pia das Wasser verlassen hatte. Sie winkte ihm zu.
***
„Komm mit mir an den Strand“, sagte sie am nächsten Abend als die wenigen dunklen Stunden der Mittsommernacht angebrochen waren. Weil der Himmel bedeckt war und Neumond herrschte, war die Nacht tiefschwarz. „Bin total nachtblind“, antwortete Poss. „Ich führe dich“, gab Pia zurück.
Wenige Meter vom Haus entfernt verschwamm alles um ihn herum in einer undurchsichtigen, dunkelblauen Finsternis, die sich anfühlte wie trockenes Wasser. Es war völlig windstill, und die Wellen machten leichte Geräusche wie entfernte Trinker, die leise ihren Schnaps schlürfen. Sie hatte ihn an die Hand genommen und entfernte sich mit sicherem Schritt immer weiter vom Haus.
„Siehst du das Licht?“ Poss sah nicht nur ein Licht, die Dunkelheit war erfüllt von kleinen Blitzen in verschiedenen Farben. „Das ist der Leuchtturm von Blåvand.“ Sie hatte sich hinter ihn gestellt, ihre Hände an seine Hüften gelegt und ihn in die Richtung auf das ferne Licht gedreht. Wäre er allein in diese Situation geraten, hätte er vermutlich genau diese Richtung eingeschlagen, so wie Motten schwache Lampen hinter geschlossenen Fensterscheiben ansteuern.
„Schuhe aus“, befahl Pia. Der Sand unter seinen Füßen war trocken und kalt, und bei jedem Schritt quietschte es leise, beinahe als ob er mit Gummisohlen über Linoleum ginge. „Hast du Angst?“ Poss schüttelte den Kopf, obwohl er nicht wusste, ob sie diese Geste sehen könnte. „So, und jetzt setzen wir uns hier hin.“
Klar hatte Poss Erfahrungen mit Drogen aller Art gemacht wie die meisten seiner Generation. Krüll war jahrelang der größte Kiffer von allen und versorgte die Bande mit Shit und Gras. Gekokst hatte er nur ein paar Mal; die innere Hektik war ihm unangenehm, sodass er sich von diesem Rauschgift fernhielt. Mit siebzehn oder achtzehn hatte er seinen ersten Acid-Trip erlebt, zwei Jahre später den zweiten. Der hatte in ihm eine heftige Paranoia samt Panik ausgelöst, sodass er von da an auch nie wieder LSD nahm. Am besten hatte ihm der Rausch nach dem Genuss von Pilzen gefallen, die Patsch, der Lakota, besorgt hatte. Auch wenn er sich nicht an die gesehenen Bilder und gehörten Töne erinnerte, er konnte nicht vergessen, wie friedlich und glücklich er sich fühlte.
In absoluter Schwärze mit Pia am Strand zu sitzen und ihren Körper nah an seinem zu spüren, gesichert durch ihre Hand, gab ihm ein ähnliches Gefühl. Dann begann der eigentliche Trip. Aus dem Rauschen der See am Ufer wurde ein vielstimmiges Wispern, in das sich langgezogene, hohe Töne mischten, sehr leise, von sehr weit her, die langsam zu Stimmen wurden, dazu Bässe, die aus der Tiefe der Erde unter dem Strand zu stammen schienen, alles kam zusammen zu einem Chor, und er fragte: „Hörst du das auch?“ Vermutlich nickte Pia. Sie war über den Sand gekrochen, hatte sich zwischen seine gespreizten Beine gesetzt und lehnte sich an seinen Oberkörper.
Das Schwarz der Nacht begann sich aufzulösen in feine Punkte in verschiedenen dunklen Grautönen. Darin winzige farbige Kugeln, alles in sanfter Bewegung. „Ich kann wieder sehen“, rief Poss plötzlich. Hinter ihnen hatte sich die frühe Dämmerung aufgemacht. Er erkannte die Grenze zwischen dem Wasser und dem Sand, dann den Unterschied zwischen Meer und Himmel, und schließlich nahmen die Wolken über ihren Köpfen ein beruhigendes Violett an. Der Leuchtturm schien jetzt unendlich weit entfernt. Nur noch das Schmatzen der Wellen am Strand war zu hören.
Als sie aufgestanden waren und ihre Schuhe wieder angezogen hatten, sah Poss, dass sie kaum zwei-, dreihundert Meter entfernt vom Haus entfernt standen. Ihm war es vorgekommen, als hätten sie gemeinsam mehrere Kilometer zurückgelegt. Jetzt erst ließ Pia seine Hand los.
In der übernächsten Nacht kam sie zu ihm ins Zimmer. Im Halbschlaf spürte er ihren Körper unter der Decke. „Psst“, machte sie, „kein Sex, nur nackt sein.“ Morgens lagen sie da wie die Löffel in der Schublade. Pia erwachte mit seiner morgendlichen Erektion zwischen ihren Beinen, löst sich sanft von ihm und ging ohne ihn zu wecken.
***
Poss half nun jeden Vormittag in der Küche mit. Die Köchin gab die Befehle, und die Helfer folgten, außer ihm war immer Renate dabei, oft auch Samira, Pia nie. Und Marlies als Ernährungsexpertin stieß immer erst dazu, wenn es ans Kochen ging. Am Dienstagabend bat Ilka ihn, morgens mit ihr zum Købmand nach Oksbøl zu fahren, sie müsse ein paar Sachen einkaufen. „Du kochst gern?“ begann sie ihn auszufragen. „Für dich allein oder für Familie?“ Während er den Wagen lenkte, sah sie ihn durchgehend von der Seite an.
„Du bist älter als die anderen. So wie ich. Warum bist du hier?“ Poss erklärte kurz die Umstände. „Hast du auch ein Einzelzimmer“, stellte Ilka fest. Und nach einer Weile: „Kann man Besuch empfangen in der Nacht.“ Sie kicherte wie ein kleines Mädchen. „Kannst du mich besuchen. Kann ich dich besuchen.“ Er räusperte sich: „Ich schlaf da nicht allein.“ Die Köchin wandte sich brüsk ab und sah aus dem Fenster.
Kjell, der Ladenbesitzer, der gleichzeitig ihr Hausmeister war, den Schlüssel zum Leuchtturm hatte und überhaupt der einzige Mensch in der ganzen Siedlung zu sein schien, der hier lebte und arbeitet, hatte den Einkauf schon zusammengestellt. Poss lud ein, Ilka zahlte, und sie fuhren los. „Kjell ist auch nicht mehr jung“, sagte sie, „und immer allein. Tut mir leid, der Kerl.“
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Hotel Excelsior
Immer wenn Poss an Pias Körper denkt, fallen ihm Begriffe ein, wie prall oder drall, die er aber ihr oder irgendwem sonst gegenüber niemals verwenden würde, weil die Assoziationen zu stramm gestopften Würsten oder bis kurz vorm Bersten aufgeblasenen Ballons bei diesen Wörtern fast unvermeidlich sind. Zwischendurch war er auf das altmodische Wort wohlproportioniert gekommen, das er selbst aber als tendenziell sexistisch interpretierte. Dabei trafen alle diese Ausdrücke zu. Zumal sie Kleidung bevorzugte, die immer so körpernah geschnitten war, dass sie bisweilen wirkte wie aufgemalt.
Stämmig ist auch solch ein Begriff, den er passend findet, aber ebenfalls nie verwenden würde. Er sieht sie in seinen Gedanken immer nackt vor dem Fenster stehen, ihm den Rücken zugewandt, die Füße hüftbreit auseinander und fest mit dem Boden verbunden. Oft hält sie dabei die Arme in den Ellenbogen ganz leicht angewinkelt, die geballten Fäuste weisen nach vorne. Er weiß, dass sie ab ihrem fünften Lebensjahr bis zu ihrer Diagnose irgendeinen Kampfsport betrieben hat und immer noch, wenn auch im Rahmen der Möglichkeiten ihrer Krankheit, die Muskulatur an Maschinen in einem Studio trainiert.
Wenn er sie streichelt oder ihre warme Haut sanft massiert, spürt er unter der weichen Außenschicht diese starken Muskeln, die man aber nicht gleich sieht, wenn sie sich auszieht. Am ehesten noch am Hinterteil, einem umgedrehten, straffen Herz. Sie ist nach eigenen Angaben nur einsvierundsechzig groß, alles an ihr ist auf die eine oder andere Art rund. Er mag ihre kleinen Brüste und den Bauch. Alles das genaue Gegenteil von Iris. Die ist ein bisschen größer als er und war außerhalb der beiden Schwangerschaften immer sehr schlank, eigentlich sogar dünn. Alles an ihrem Körper war mehr oder weniger langgestreckt, vom Schädel mit dem hohen Haaransatz, den sie vom Vater geerbt hat, über die lange, schmale Nase und den Schwanenhals.
Im Bett war Iris wild, fordernd, ja, aggressiv und vollkommen egoistisch. Ihr ging es beim Sex ausschließlich darum, ihre Orgasmen zu haben. Dazu benutzte sie ihn. Und manchmal war es ihm so vorgekommen, als sei er für sie nur eine Art Dildo mit einem Körper dran. Zumal es zum Ritual gehörte, dass sie seinen Penis benutzte, um sich damit die Klitoris zu reiben. Tatsächlich war sie die dritte Frau in seinem Leben, mit der überhaupt Sex hatte, eigentlich sogar die erste, mit der richtig Sex hatte, denn bei seinem ersten Mal war er gekommen, als sein Schwanz ganz kurz die Innenseite des Schenkels seiner Partnerin berührt hatte. Beim zweiten Mal war er sturztrunken, erinnerte sich an nichts und musste an das glauben, was ihm das Mädchen über den gemeinsamen Geschlechtsverkehr berichtet hatte.
Nach der ersten Nacht hatte er sich in Iris verliebt. Genau so wie in dieser Nacht stellte er sich sein Sexleben vor, dass er nicht gezwungen war die Initiative zu ergreifen, dass er auch einfach still da liegen konnte, während sie arbeitete, dass er ihr nichts vorspielen musste, dass sie die treibende Kraft war. Da nahm er es hin, dass sie ihn Versager, Loser, Weichei oder gar Schwuchtel schimpfte, wenn er aus dem einen oder anderen Grund keine Lust hatte oder keine Erektion zustande brachte. Poss war in diesem Lebensbereich gern passiv, und manchmal wünschte er sich, Iris würde ihn beim Ficken schlagen.
Was er in seiner Ehe aber über die ganzen achtzehn Jahre vermisst hatte, war Zärtlichkeit, war es, nackt beieinander zu liegen, einander die Hand zu halten und sich aneinander zu wärmen. Er hatte es versucht, er war mit Massageöl gekommen, er hatte sanft ihre Muskeln geknetet, aber sie hatte seine Hände genau an den Punkt dirigiert, den sie bearbeitet haben wollte. Und daran, dass sie ihn gestreichelt hätte, konnte Poss sich nicht erinnern. Er liebte Iris sehr, er liebte vor allem dieses ruhige, konfliktfreie Zusammenleben, dieses Paarsein, das sich in einem beinahe reibungslosen Alltag zeigte und an der Art, wie sie beide mit Krisen, Unfällen und Krankheiten umgingen. Und manches, was er an Zärtlichkeit vermisste, konnte er im Rahmen des guten Anstands an seinen beiden Töchtern ausleben. Besonders an Silke, die ihm in jeder Hinsicht ähnlich war, während Svenja mehr nach der Mutter kam.
Seit Iris mit Silke und Svenja weggezogen ist, hat Poss jeden Tag an seine Familie und jede Nacht an seine Frau gedacht. Das ist jetzt anders, denn seit der Rückkehr denkt er nun jeden Tag und jede Nacht an Pia.
***
Kurz vor Weihnachten kam die Mail von Pia. Poss wunderte sich sehr, denn sie hatten bei der Abreise versäumt, Kontaktdaten auszutauschen, vielleicht hatten sie aber auch absichtlich darauf verzichtet. Sie musste sich seine Mailadresse von Krüll beschafft haben. Sie schrieb ohne Anrede unter dem Betreff ‚Geburtstag‘ einfach nur: „Ich möchte meinen Geburtstag am 8. März gemeinsam mit dir feiern. Schlag was vor (Faire Bedingungen!).“ Gezeichnet mit ‚LGP‘. Den Sommer und Herbst über war er häufig in eine Erstarrung verfallen, die ihm den Alltag erschwerte und bei der Arbeit behinderte. Er wusste, er müsste dagegen etwas unternehmen, wollte er nicht endgültig vor die Hunde gehen. Poss erkannte die Gelegenheit.
Ja, er wollte Pias Geburtstag gern mit ihr gemeinsam feiern. Nur, wo? Er nahm an, dass sich der Hinweis auf Fairness auf die Erreichbarkeit bezog, dass ein Treffen also weder bei ihr noch bei ihm stattfinden und dass beide in etwas dieselbe Anreisestrecke haben sollten. Auf einer Deutschlandkarte markierte er beide Wohnorte und zog mit dem Lineal eine gerade Linie, auf der er anschließend die halbe Strecke markierte. Der gesuchte Ort lag irgendwo im Odenwald, in einer idyllischen Gegend, und sich mit Pia an einem idyllischen Ort zu treffen, gefiel ihm gar nicht. Also vertiefte er sich weiter in die Suche nach einer Stadt, einer mit möglichst wenig Romantik, die trotzdem die fairen Bedingungen erfüllte. Jetzt hatte er eine Aufgabe, ein Ziel.
Er stieß auf Ludwigshafen und erinnerte sich an irgendeinen besonders langweiligen Kongress irgendwann in den späten Achtzigern, der sich hier vier öde Tage lang hinzog, und dass das Einzige, was ihm an dieser Woche gefallen hatte, das Hotel war. Er erinnerte sich an ein schlankes Hochhaus, nicht weit entfernt vom Bahnhof, aber wusste den Namen nicht mehr. Poss beschloss, nach Ludwigshafen zu fahren, um den idealen Ort für das Treffen mit Pia zu bestimmen. Seit Wochen hatte er nicht mehr im Volvo gesessen, war nicht einen Kilometer gefahren. Ganz wie früher hatte er sich Klappstullen geschmiert und eine Thermoskanne mit Kaffee gefüllt. An seiner Stammtankstelle füllte er Benzin auf und kontrollierte Reifendruck und Ölstand.
Er fuhr linksrheinisch auf der Autobahn und widerstand der Versuchung, auf Bundes- und Landstraßen zu wechseln, um die Fahrt zu genießen. Schließlich hatte er einen Job zu erledigen. In der Stadt fand er den Parkplatz der Bowlinghalle, wo er den Wagen abstellte, um sich zu Fuß auf die Suche zu machen an diesem klaren kalten Dezembertag. Nach kaum fünf Minuten erkannte er es wieder, das schlanke, helle Hochhaus, das Hotel Excelsior. Er betrat die Rezeption und fragte nach einem Zimmer für eine Nacht, eines mit schöner Fernsicht. Er bekam das Zimmer 1507.
Noch in der Nacht schrieb er Pia eine Mail: „Es wird dir gefallen. Das Hotel sitzt in einem 14-stöckigen Hochhaus. Es ist ziemlich genau so hoch wie der Leuchtturm von Blåvand und hat eine ähnliche Form. Im Erdgeschoss gibt es ein Restaurant, ein Steakhaus und einen Bierausschank. Im Untergeschoss sind Schwimmhalle, Sauna und Massageräume untergebracht. Und im obersten Stockwerk befindet sich die Hotelbar mit Fernblick. Auf derselben Etage habe ich für uns das Zimmer Nr. 1507 gebucht. Du kannst am 7. März ab 16 Uhr einchecken.“
Die Antwort las er am nächsten Morgen beim Frühstück: „Denksportaufgabe: Wenn das Hotel 14 Stockwerke hat, wieso gibt es dann Zimmer mit einer 15 vorne? Egal, ich werde da sein.“
***
Viel Erfahrung damit, sich vor anderen Menschen auszuziehen, hatte Poss nicht. Am ehesten noch zuhause mit Iris oder beim Sport, wobei er Mannschaftssportarten allein schon deswegen hasste, weil dort in der Regel gemeinschaftlich und nackt geduscht wurde. Im Freibad suchte er zum Umziehen immer die vorgesehenen Kabinen aus, und als er sich einmal für eine Untersuchung auf Hautkrebs bei einer Dermatologin ganz auszuziehen hatte, war es ihm nicht unangenehm, nackt vor der Ärztin und ihrer Helferin zu stehen, sondern sich in Gegenwart der Frauen zu entkleiden.
Ähnlich ging es ihm nun auch mit Pia, die bereits nackt im Bett lag. In Dänemark waren sie sich fast immer unbekleidet begegnet oder gehüllt in ein Badetuch oder einen Bademantel. Dort betrat sie die Schwimmhalle und ließ das Frotteetuch gleich zu Boden gleiten. Er trug meistens seinen altmodischen, blau-rot gestreiften Bademantel, dessen er sich rasch entledigte, um ins Wasser zu springen.
Und jetzt stand er vor ihr und wusste nicht, wie er die Situation ohne Peinlichkeit lösen konnte. Allein die Schuhe: Sich hinsetzen, um die Schnürsenkel zu lösen? Oder sich hinhocken oder hinabbeugen? Die Schuhe mit den Händen ausziehen oder mit den Zehen an den Hacken abstreifen? Dasselbe Problem mit den Socken. Überhaupt: die Strümpfe – Poss trug grundsätzlich Joggingsocken, denen man das auch ansah. Sie saßen gut, sie waren bequem, aber sie waren weiß und mit drei roten Streifen verziert. Solange er sie zu Sneakers trug, war ja alles okay, aber zu schwarzen Budapestern? Würde Pia überhaupt darauf achten?
Er entschied sich, Halbschuhe und Sportsocken im Stehen auszuziehen, wobei er die Strümpfe zu Kugeln rollte, in die Schuhe steckte, um das Paar dann mit einer Hand aufzunehmen und neben sich zu stellen. Unter den Stuhl, auf den seine Kleidung abzulegen er plante. Oder würde das spießig wirken, überkorrekt, ordnungsfanatisch? Wäre es angemessener, die Kleidungsstücke einfach von sich zu reißen, um sie irgendwohin flattern zu lassen? Und die Frage, ob er zuerst das Hemd aus der Hose ziehen und ablegen sollte, oder sich doch erst der Hose entledigen.
Pia hatte sich aufgerichtet und sah jetzt genauer zu. Poss dachte an diverse Filmszenen mit Männern, die sich vor ihren Geliebten entkleiden, die im Bett auf sie warten in Erwartung eines Geschlechtsverkehrs. Die lockerten zuerst die Krawatte und nahmen dann die Manschettenknöpfe ab; beides hatte er nicht. Also zog er die Hemdzipfel aus dem Hosenbund und knöpfte das Hemd dann von oben nach unten auf. Er zog den rechten Arm aus dem Ärmel, dann den linken, nahm das Hemd beim Kragen und platzierte es nachlässig auf der Stuhllehne.
Die Hose hätte er lieber im Sitzen ausgezogen, aber er wollten den Fluss des Entkleidens nicht unterbrechen. Also öffnete er den Gürtel, dann den obersten Knopf am Hosenschlitz. Der Reißverschluss ließ sich flüssig öffnen. Nun fasste er den Hosenbund mit beiden Händen an den Seiten und schob ihn über die Hüftknochen und weiter, bis er die Knie freigelegt hatte. Der heikelste Moment: Aussteigen ohne hinzufallen. Es gelang ihm, das rechte Hosenbein auf dem Boden zu fixieren und den Fuß aus der Röhre zu ziehen. Dasselbe mit der linken Seite war ganz leicht. Er nahm die Hose auf, strich sie beiläufig glatt, ohne sie zu auffällig zu falten, und legte sie zum Hemd auf den Stuhl.
Da stand er nun, ein Mann von 57 Jahren, um die einsachtzig groß, weder dick noch dünn, aber schon mit einem nicht allzu schlimmen Bierbauch bestückt, noch recht ordentlich bemuskelt, aber schon mit Altersflecken hier und da. Hier stand Poss in Unterhosen. Über die Auswahl des Slips hatte er sich bei der Abreise keine Gedanken gemacht und war froh, dass er nicht einfach irgendeinen ausgeleierten Lieblingsschlüpfer erwischt hatte, sondern einen schwarzen Rio-Slip, dem die Waschmaschine noch nicht zugesetzt hatte. Den abzustreifen, machte ihm komischerweise nichts mehr aus, und als er ganz nackt dastand vor dem Bett, in dem die nackte Pia auf ihn wartete, fühlte er sich sicher.
Später saß Pia im Ohrensessel, den sie zum Fenster hin gedreht hatte. „Sag mal“, begann Poss ein Gespräch, „was treibst du eigentlich beruflich?“
„Kssss!“ machte sie, „Keine blöden Kennenlern-Dialoge bitte! Mich interessiert nicht, womit du dein Geld verdienst, welches Auto du fährst und wie und wo du wohnst, ich will nicht wissen, wohin du in Urlaub fliegst, was dein Lieblingsessen ist und welche Musik du geil findest. Und ich möchte auch nicht, dass du mich nach solchen Banalitäten fragst. Wir sollten über die wichtigen Dinge reden. Über Erlebnisse, über Gefühle, über unsere Gedanken zu allem Möglichen, darüber, wie man durchs Leben kommen kann. Wichtige Themen.“ Sie hatte sich vorgebeugt. „Und wann immer einer von uns mit diesem Dating-Smalltalk anfängt, macht der andere einfach Ksss! Okay?“
„Verstanden“, antwortete er. Im Laufe der nächsten sieben Jahre und zwölf Treffen im Hotel Excelsior in Ludwigshafen musste keiner von beiden je „Kssss!“ machen.
***
Straff ist ein Ausdruck, der auf Pia passt, denkt Poss. So straff wie ihr Haar, das sie aus der hohen Stirn nach hinten kämmt, wo es in einem Pferdeschwanz ausläuft, der bis hinunter zu ihren Hüften reicht. So trägt sie auch ihre Kleidung: körpernah, nennt man es, oder einfach hauteng. Sie trägt Skinny-Jeans, die überhaupt nicht Mode sind, die ihre Oberschenkel nachformen und ihren Hintern. In Dänemark hatte sie karierte Blusen an, die wie Männerhemden aussahen und so straff saßen, dass sie nur über der Hose getragen werden konnten. Im Winter ebenso enge Rollkragenpullover und eine Art Anorak darüber.
„Hast du auch Kleider?“ fragte Poss bei ihrem zweiten Treffen. „Warum willst du das wissen?“ – „Nächstes Mal, wenn es denn ein nächstes Mal gibt, möchte ich mit dir schick essen gehen. Hier im Gourmet-Restaurant im Hotel. Ich würde einen schwarzen Anzug anziehen.“ – „Lass dich überraschen.“ Als es dann so weit war, packte sie ein blau-silbern schimmerndes Kleid aus und streifte es über ihren nackten Körper. Der Saum reichte kaum über den halben Oberschenkel, und hinten war es tief ausgeschnitten bis zum Ansatz ihres Hinterns. „Du auch nichts drunter“, befahl sie, „und wir gehen barfuß.“
Die Empfangsdame ignorierte den Aufzug des Paares und wies den Beiden einen Tisch hinten an der Fensterfront zu. Und als sich Pia hinsetzte in ihrem enganliegenden Paillettenkleid, rutschte der Saum hoch und gab ihr Haardreieck frei. Der Kellner würde es beim Servieren nicht übersehen können.
***
Poss sitzt aufrecht im Bett, Pia lehnt zwischen seinen Beinen an seinem Bauch. Im Fernsehen läuft ‚Frühstück bei Tiffany‘ ohne Ton. Wann immer der rote Tiger ins Bild kommt, ruft Pia leise „Kater, Kater“ so wie Holly Golightly im Regen der Schlussszene nach ihrer namenlosen Katze ruft. „Magst du Katzen?“ Er zögert: „Nicht besonders.“ – „Hunde?“ – „Bin als Kind von einem gebissen worden.“ – „Meerschweinchen, Kaninchen, Ratten, Mäuse, Frettchen?“ – „Nein, keine Nager.“ – „Magst du denn Vögel? Wellensittiche, Papageien, Finken, Kanarienvögel?“
„Meine Eltern wollten keine Haustiere. Als ich so zehn, elf war, schenkte mir Onkel Heinz ein Aquarium, fertig eingerichtet mit Beleuchtung, Heizstab, Filterpumpe, Sprudler, Pflanzen und gut einem Dutzend Fische. Darunter zwei wunderschöne Skalare. Ich kümmerte mich drum. Mehr aber auch nicht. Begeisterung brachte ich für die Tiere, mit denen man nicht mal sprechen, die man nicht mal streicheln konnte, nicht auf. Als wir über Weihnachten bei Oma waren, ging der Thermostat kaputt, der Heizstab lief und lief und lief. Am Ende hatte das Wasser so um die 50 Grad, und die Fische waren gekocht.“ Pia kichert leise.
„Dann durfte ich mir eine Schildkröte kaufen, für die ich sogar einen Kasten bastelte. Donald nannte ich das Tier, das auch ganz munter war, gern in meinem Zimmer herumstiefelte und vor allem Kopfsalat liebte. Ich hatte gelesen, dass Schildkröten Winterschlaf halten, und hatte Donald eine kleine Hütte zum Überwintern gebaut. Tatsächlich zog er sich Mitte November dorthin zurück. Als er Ende Februar immer noch nicht wieder wach war, hob ich das Häuschen an, nahm die Schildkröte in die Hand und musste feststellen, dass sie nicht nur tot war, sondern schon verwest – schüttelte ich den Panzer, klapperte es.“
„Kein Glück mit Tieren, was? Ich hatte eine Vielfarbratte namens Rambo, ein aufgewecktes, charmantes Kerlchen, das sich am wohlsten zwischen meinen Klamotten und meiner Haut fühlte. Den nahm ich überall mit hin. Auf der Wiese am See konnte ich ihn einfach laufen lassen; ein Pfiff, und Rambo kam angerannt. Sechs Jahre habe ich ihn gehabt, wir waren unzertrennlich. Eines Tages, ich lag schon zum Einschlafen im Bett, kam er leise pfeifend zu mir, ließ sich in der Kuhle an meinem Schlüsselbein nieder und sah mich an. Dann rollte er sich dort ein, und am nächsten Morgen war er tot.“
Poss hat den Ton eingeschaltet. Holly ruft im strömenden Regen nach der Tigerkatze, Pia ruft synchron „Kater, Kater“. Poss hat seine Arme um Pia geschlungen und legt die Handfläche auf ihre Brüste. „Meine Töchter wollten einen Hund. Betty kam ins Haus, ein Deerhound-Mädchen. Fröhlich und albern, eigensinnig, aber freundlich. Mich ignorierte sie einfach, und ich tat es ihr gleich. Das Problem: Vertreter dieser Rassewerden selten älter als sechs, sieben Jahre. Stell dir vor, du kriegst Kinder, die alle sieben Jahre wieder wegsterben.“
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„Wir wollten uns doch nichts schenken“, sagt Poss als Pia ihm eine Schachtel überreicht. Es ist das zweite Mal, dass sie seinen Geburtstag gemeinsam im Hotel Excelsior feiern. Sie haben sich schon ausgezogen und sitzen im Bett. „Ist ne Ausnahme.“ Er öffnet die Schachtel. „Was ist das?“ – „Ein Handschmeichler. Ein Stein. Guck ihn dir genauer an.“ Das Ding ist dunkelblau, glatt und kühl und passt genau in seine linke Handfläche. Er schaut ihn sich von allen Seiten an und findet die Gravur: „Nackt, aber kein Sex‘.
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Im achten Jahr hatten sie sich verabredet, Silvester gemeinsam im Hotel zu feiern. Poss war bereits am 30. angereist. Mit Hilfe des Concierge hatte er dafür gesorgt, dass man ihnen am späten Abend des letzten Tages des Jahres ein mehrgängiges Menü im Zimmer servieren würde. Dazu viel Champagner. Dieses Mal war er es, der nackt am Kopfende des Bettes saß und Pia beim Ausziehen zusah. Sie hatte stark abgenommen, und er war schockiert, wie sehr sich ihr Körper im halben Jahr nach ihrem letzten Treffen verändert hatte. Er sah, dass sie Schwierigkeiten bei bestimmten Bewegungen hatte. Im Bad fand er später ein ganzes Arsenal ans Schmerzmedikamenten.
Pia kam zu ihm, und sie brachten ihre Körper sich unter der Decke zusammen. Sie sah müde aus und sagte nur: „Nackt, aber keinen Sex.“ Und schlief ein. Gegen zehn Uhr brachte ihnen ein Kellner das Essen auf drei Servierwagen. Die Teller mit silbernen Gloschen geschützt. Dann brachte der Mann einen Tisch und zwei Stühle herein und deckte für zwei Personen ein. Poss gab dem Ober ein gutes Trinkgeld, während Pia immer noch schlief. Er weckte sie auf, und dann saßen sie nackt am Tisch und genossen die Speisen und den Champagner. „Eigentlich darf ich ja keinen Alkohol“, sagte sie. „Wegen der Medikamente?“ Sie nickte, trank das Glas auf einen Sitz aus und bedeutete ihm nachzuschenken. „Ist jetzt aber auch egal.“
„Noch eine Überraschung“, kündigte Poss an und wickelte sich in ein Laken ein. Sie tat es ihm nach, und er führte sie zum Treppenhaus mit dem Notausgang-Schild. Sie nahmen die Treppe aufwärts, die an einer Stahltür endete. Er öffnete, und sie traten hinaus auf das Dach des Hotels Excelsior. Die Nacht war klar und kalt. Unter ihnen die Lichter von Ludwigshafen. Hier und da ließen Leute vorzeitig Raketen steigen und zündeten Böller. Er hatte eine Flasche Champagner mitgenommen, und sie tranken abwechselnd, während sie am Rand des Daches standen.
Dann brach das Feuerwerk los. Überall explodierten bunte Lichter, es knallte, pfiff und zischte. Pia strahlte, schrie ihre Begeisterung hinaus und klatschte in die Hände. Der Qualm wurde zu einem Nebel, der nach Schwefel roch. Schließlich wurden es immer weniger Blitze und Feuerbälle, nur ein paar Nachzügler konnten es nicht lassen. Sie hatten die Flasche geleert. Plötzlich wickelte sich Pia aus ihrem Laken und stand nackt da: „Du auch!“ Sie ließ das weiße Tuch im Wind flattern. Ganz nah an der Kante standen sie.
„Wir könnten fliegen“, rief Poss und ließ sein Laken los, sodass es durch Nacht flatterte. „Wie können fliegen“, sagte er noch einmal. Auch Pia entließ ihr Tuch in den Nebel. „Noch nicht“, sagte Pia, „noch nicht.“
Jubiläum
Vielleicht war es Krülls schräger Humor, vielleicht aber auch nur Gedankenlosigkeit, dass er exakt zehn Jahre nach der Freizeit in Dänemark wieder dorthin einlud. Möglicherweise fand er es angebracht, ein Jubiläum zu feiern. Poss und Pia hatten die Einladung per Mail erhalten: „Da fehlen ein paar Namen von Leuten, die damals mit dabei waren, oder?“ Pia war wütend: „Ach ja, warum bloß? Keine Lust? Gesund geworden? Nein, die sind gestorben an der Scheißkrankheit. Rolf schon vor neun Jahren, Samira kurz vor dem Ausbruch der Pandemie, Ingo irgendwann und Marie auch schon. Und Uwe, der schräge Vogel, der ist erst vor ein paar Monaten von uns gegangen. Julie und Meike haben vor sechs Jahren geheiratet, haben einen Jungen adoptiert und sind, soweit ich weiß, nach Neuseeland ausgewandert. Marlies und Krüll leben ja seit damals zusammen. Von Ilka, der Köchin, habe ich nie wieder etwas gehört. Und die anderen auf der Liste“, sie scrollte durch die Mail, „kenne ich nicht, das wird Nachwuchs sein.“
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Es gehört zu den Traditionen der Touristen, dass sie abends zum Leuchtturm pilgern, um von dort aus den Sonnenuntergang zu zelebrieren. Wer damit angefangen hat, weiß Kjell auch nicht. Jedenfalls hat man ein paar Jahre zuvor die Fläche des Parkplatzes am Blåvandshuk Fyr verdreifacht, um der Masse an Autos Herr zu werden, die Abend für Abend kommen.
Poss hat herausgefunden, dass man sich dem Turm auch von Norden her nähern kann, vorausgesetzt, man besitzt ein halbwegs geländegängiges Auto. Was ihn zwei Jahre zuvor geritten hat, den guten, alten Volvo-Kombi gegen eine G-Klasse im Offroad-Design einzutauschen, weiß er nicht mehr. Ein kantiges SUV, das von außen so tut, als sei es für Expeditionen durch die Arktis und die Wüsten gemacht, drinnen aber aussieht wie ein lederbezogenes Wohnzimmer mit allerlei digitalem Schnickschnack.
Sie haben einen Plan und fahren über die Schotterstraße nach Vejers Strand, diesem Treffpunkt der Autofanatiker, die dem Rumfahren mit einem Pkw immer noch romantische Gefühle abringen können. Denn man darf hier auf den Strand fahren, ja, die weite Sandfläche gilt über sieben, acht Kilometer offiziell als Straße. Am Rand parken die Wagen, und die Menschen stehen davor oder sitzen auf den Motorhauben, um der Sonne beim Versinken zuzusehen. Man trinkt Bier aus Dosen, Faxe vor allem, und isst stark gerötete Würstchen, die hier Pølser heißen, aus pappigen Brötchen mit Ketchup und Essiggurken. Die romantischsten unter diesen Romantikern haben die Türen und Heckklappen an ihren Fahrzeugen geöffnet und lassen instrumentalen Popkitsch laufen, Oxygen oder was von Pink Floyd.
Poss fährt Richtung Süden. Irgendwann stehen keine Autos mehr neben der Fahrspur, und ein bisschen weiter ist der Sand weich und tief. Er aktiviert die Einstellungen für Geländefahrten, und nach zehn Minuten hält er unterhalb des vierkantigen, weißen Turms an. Mehr als 55 Meter hoch ist das gemauerte Bauwerk, immer noch in Funktion, ausgestattet mit einer Laterne, die ihr Licht bis zu zweiundzwanzig Seemeilen weit verstrahlen kann. Das Museum hat natürlich schon geschlossen, aber Poss hat Werkzeug dabei und keine Mühe, das Türschloss zu knacken. Sie machen sich an den Aufstieg.
Als sie auf der Galerie ankommen, liegt der Sonnenball auf dem Horizont wie eine Apfelsine auf einem graublauen Tischtuch. Der Wind hat stark aufgefrischt und kommt aus Nordnordost. Die sich drehende Linse macht ein monotones Geräusch, der Lichtstrahl wird erst in einigen Meilen Entfernung sichtbar. „Jetzt?“ fragt Pia, und Poss nickt. Sie ziehen ihre Sachen aus, langsam und sorgfältig, und übergeben Sweater, T-Shirts, Jeans und Unterwäsche dem Sturm, der die Kleider übers Meer trägt. Da stehen sie nun nackt. Wieder fragt sie: „Jetzt?“ Wieder nickt er. Sie fassen sich bei der Hand, klettern auf die Balustrade und springen in die Tiefe.