Der letzte Brief, den Thibaud aus Kalifornien schrieb, ging nicht an uns. Wir hatten schon mehr als ein halbes Jahr nichts mehr von ihm gehört, und keiner von uns hatte eine Adresse oder eine Telefonnummer von ihm. Wir waren sicher, dass er sein Glück bei Deborah gefunden hatte und wir ihn nie wiedersehen würden. Dann waren wir alle bei der Geburtstagsparty von Olivia, die sehr geheimnisvoll tat. Es werde jemand erscheinen, mit dem wir nicht gerechnet hätten. Alle dachten insgeheim, dass es sich nur um Thibaud handeln könne. Auch ich war ein wenig enttäuscht, als uns Olivia gegen Mitternacht eine schmale Frau unbestimmbaren Alters als Ehrengast vorstellte und sagte: „Das ist Gulla. Einige von euch werden Sie noch kennen.“ Ich erinnerte mich an diesen merkwürdigen Urlaub in Dänemark und an die Affäre, die Thibaud mit dem knabenhaften Mädchen hatte. Sie bat um unsere Aufmerksamkeit: „Thibaud hat mir geschrieben. Ich denke, es ist in Ordnung, dass ich euch seinen Brief vorlese, obwohl er persönlich an mich gerichtet ist.“
Und sie begann. Thibaud hatte folgendes geschrieben: „Meine liebe Gulla, die du nie ganz aus meinen Träumen verschwunden bist. Vermutlich hast du von der Gruppe gehört, dass ich jetzt in Kalifornien mit einer Frau zusammenlebe. Vielleicht auch nicht. Deshalb erspare ich mir die ganze Geschichte, sondern will nur erzählen, warum ich bald zurückkehren werde. Denn das hat mit dir zu tun. Und weniger damit, dass sich die Situation hier so verändert, dass ohnehin bald kein Platz mehr für mich da ist. Deborah hat sich ganz offensichtlich das Leben eingerichtet, das sie sich vorgestellt hat. Wir leben in ihrer Heimatstadt, wo jeder sie kennt. In ihrem großen Freundeskreis bin ich ein Fremdkörper. Natürlich ist man nett zu mir, bindet mich in verschiedene Aktivitäten ein und redet auch mit mir. Aber für die Leute dort bin ich nur der Mann von Deborah. Ich bezweifele, dass die meisten überhaupt meinen Namen wissen. So sitze ich Tag für Tag in unserem Haus über dem Pazifikstrand und denke und schreibe, während Deborah ihren Laden führt. Das ist ihr wichtig. Die Distanz zwischen uns wird immer größer. Wir gehen nach wie vor liebevoll miteinander um, streiten selten und schlafen oft miteinander. Aber das hier ist nicht mehr mein Leben.
Jetzt fragst du sich sicher, was das mit dir zu tun hat. Gulla, ich werde dich jetzt missbrauchen, denn du fungierst als Utopie. Sitze ich auf der Veranda, dann stelle ich mir oft vor, wie es gewesen wäre, wenn wir wirklich zueinander gefunden hätten, also ein Paar geworden wären. Dann male ich mir ein gemeinsames Leben aus, das voller Erlebnisse gewesen wäre, voller Neugier, Lernen und Gesprächen. Ich kenne dich nicht gut genug, aber du erschienst mir in den paar Wochen damals als die klügste Frau, die ich je getroffen hatte. Aus der kalifornischen Perspektive und mit dem Abstand von über fünfzehn Jahren sehe ich dich als die ideale Gefährtin. Ich gestehe: In dieser Hinsicht bist du für mich nicht mehr als eine Projektionsfläche. Und dafür möchte ich mich bei dir entschuldigen.
Dass du eine ideale Geliebte für mich wärst, steht fest. Das haben die Tage und Nächte in jenem Sommer bewiesen. Es hat gepasst. Es hat mir gepasst und, wie ich glaube, dir auch. Dein Körper ist meine persönliche Statue. Ich kann noch heute jedes Detail beschreiben. Dein erstaunlich rundes Gesicht, in dem Augen, Nase und Mund stehen wie mit dem Pinsel gemalt. Die Konstruktion deiner Schultern, die Muskeln deiner Oberarme. Wie deine Schulterblätter mich an Engelsflügel erinnerten. Deine flachen Brüste, die ich kaum so nennen würde. Wenn ich eine Hand darauf legte, spürte ich die harten Brustwarzen in meiner Handfläche. Deine harten Hüftknochen, zwischen denen sich eine konkave Ebene bildete, wenn du auf dem Rücken lagst. Der dichte rabenschwarze Busch. Nein, ich will nicht über Details deines Geschlechts schreiben, aber ich könnte es aus dem Gedächtnis zeichnen, jede Falte, jede Wölbung.
Ich weiß, es gibt keinen Weg zurück. Mir ist klar, dass du kaum noch weißt, wer ich bin. Ich nehme an, dass du viele Männer gehabt hast, dass ich nur einer davon war, sicher nicht einmal der wichtigste. Aber trotzdem wirst du der Grund für meine Rückkehr sein. Verzeih mir das. Ich küsse dich – Thibaud.“
Wir schwiegen. Gulla stand da mitten im Raum. Sehr aufrecht und sehr entschlossen. „Ich werden ihn suchen und nach Hause bringen,“ sagte sie, „Gleich jetzt.“