Dicke Frau

Thibaud erzählt: „An einem Frühsommertag, Ulla hatte mich gerade verlassen, saß die dicke Frau im Gastraum. Ich kam aus der Küche und schaute von der Theke aus, wie viele Gäste da wären. Sie saß an einem Tisch im Wintergarten. Die dicke Frau trug ein ärmellose, rotes Sommerkleid mit ziemlich tiefem Ausschnitt. Damals war ich sehr einsam. Deshalb versuchte ich oft, mit Damen, die allein ins Landgasthaus kamen, Kontakt aufzunehmen. Ich ging hinüber zu ihr und stellte mich vor. Sie sah mich an und bestellte ein Glas Weißwein. Nein, nein, sagte ich, ich bin hier der Wirt, aber ihren Weine bekommen sie trotzdem. Dann holte ich eine Flasche vom guten Riesling und zwei Gläser. Ich setzte mich zu ihr und schenkte uns ein. Die dicke Frau war wirklich sehr dick.

Sie prostete mir mit einem amüsierten Lächeln zu und nahm einen langen Schluck. Ihr Gesicht war wie die Wetterkarte: jede Regung veränderte die Mimik. Ihr kleiner Mund mit vollen Lippen und ihre Augenbrauen waren dafür verantwortlich. Sie saß mit leicht gespreizten Beinen auf dem Stuhl, ihre etwas zu großen Füße steckten in goldenen Sandaletten. Während wir plauderten, kamen mir alle Vorurteile hoch, die man so über dicke Frauen haben kann. Dass sie ohne Kleider aussehen wie große rosa Marzipanschweinchen. Dass sie entweder übertrieben lustig sind oder ständig deprimiert. Dass sie jeden Kerl nehmen, den sie kriegen können. Dann wollte sie zahlen, aber ich sagte ihr, sie sei eingeladen, und ich würde mich freuen, sie wieder begrüßen zu dürfen. Das wird kaum passieren, sagte sie mit einem Lächeln, das beinahe ein Grinsen war, ich komme hier selten vorbei. Rufen Sie mich an, antwortete ich und gab mir meine Karte. Dann begleitete ich sie zum Parkplatz. Sie stieg in einen schwarzen Roadster, der viel zu klein für sie aussah.

In den folgenden Wochen dachte ich oft an die dicke Frau und hatte den Eindruck, ein klein wenig verliebt zu sein. Tatsächlich träumte ich von ihr, natürlich davon, Sex mit ihr zu haben. Ich rechnete nicht damit, dass sie je anrufen würde, aber an einem Freitag Anfang Oktober klingelte mein Handy, und die dicke Frau war dran. Sie sei gerade in diesem bekannten Wellness-Hotel unweit der Grenze eingetroffen, wo sie ein langes Wochenende verbringen wolle. Ob ich nicht Lust hätte, einen Tag mit ihr zu verbringen. Natürlich sagte ich zu. Ich schloss das Restaurant – es war ohnehin kein Gast da -, packte und fuhr los.
Wir hatten uns am Eingang des Parks verabredet, der zum Hotel gehört. Da saß die dicke Frau auf einer Bank und winkte mir zu. Sie trug einen cremefarbenen, hochgeschlossenen Hosenanzug und hatte sich die Haare kurz schneiden lassen. Schön, dass du da bist, sagte sie. Oh, jetzt habe ich dich geduzt. Ist das okay? Ich heiße Lisa. Ich gab ihr die Hand und sagte, sie könne mich duzen, ich heiße Thibaud. Das ist aber ein ungewöhnlicher Vorname, bemerkte sie. Es ist mein Nachname, gab ich zurück. Und der Vorname? fragte sie. Gibt es nicht.

Es war etwas zu kühl für die Jahreszeit. Jedenfalls zu kühl, um länger draußen zu sitzen. Wir gingen an die Hotelbar, tranken Kaffee und setzen unsere Plauderei da fort, wo wir sie einige Wochen zuvor abgebrochen hatten. Natürlich versuchte ich charmant und witzig zu sein. Also dachte ich nach, ob sie wohl Single sei und was sie beruflich täte, um ihr das dann auf den Kopf zu zu sagen. Aber ich fand keine befriedigende Antwort. Wieder stiegen Vorurteile über dicke Frauen in mir auf. Dass sie früher mal schlank waren, dass ihr Mann sie deshalb wegen einer Jüngere, Schlankeren verlassen hatten und dass sie sich durch das Abkassieren vin Unterhalt dafür rächen. Du bist geschieden? Sie lachte. Dann spitzte sie die Lippen und sagte: Wie kommst du darauf? Ich versuchte mich rauszureden. War nie verheiratet und werde nie heiraten; hab ich nie gewollt. Übrigens, fügte sie an, wenn du sonst noch was über mich wissen willst, spar dir die Fragen, ich sag’s dir einfach. Bin gerade 44 und von Beruf Ingenieurin; spezialisiert auf Pumpen im Bergbau. Viel unterwegs und normalerweise im Overall mit Schutzhelm anzutreffen. Dann fragte sie mich aus. Später schlug sie vor, eine Runde zu saunieren. Mir gefiel die Idee, mit ihr zusammen zu schwitzen.

Wie gesagt: Das Vorurteil besagt, dass dicke Frauen aussehen wie fette rosige Schweine. Nach dem Umziehen trafen wir uns unter der Dusche. Lisa war nahtlos gebräunt; jedenfalls soweit ich es erkennen konnte. Ihr Teint sah nicht nach Sonnenbank aus, also versteckte sie ihren Speck am Strand nicht in einem Einteiler, dachte ich. Sie ging vor mir her mit anmutigen Bewegungen, und ich fand sie plötzlich sehr sexy. Weißt du, sagte sie in der Sauna, in der außer uns nur eine ältere, hagere Dame saß, ich liebe die Sonne, ich mag Wasser und Sand auf der Haut, deswegen mache ich Urlaub nur, wo ich nackt herumrennen kann. Sollten sich dicke Frauen nicht schämen, dass sie so dick sind? dachte ich. Kann es denn wirklich sein, dass eine dicke Frau sich in ihrem Körper rundum wohlfühlt. Bei Lisa schien das eindeutig der Fall zu sein.
Wir verbrachten die Nacht zusammen, und Lisa erwies sich als entspannte, zärtliche Liebhaberin, die genau zu verstehen geben konnte, was ihr gut tat. Ich stellte fest, dass es Stellen am Körper einer dicken Frau gibt, wo die Sonne nicht hinkommt.

Am nächsten Morgen beim Frühstück begrüßten wir uns liebevoll. Wir plauderten und scherzten, aber dann wurde sie ziemlich ernst und sagte: Das war’s dann aber acuh. Thibaud. Ich denke nicht, dass es Sinn macht, diese kurze Affäre auszuweiten. Lass uns getrennte Wege gehen, und wenn uns der Zufall noch einmal zusammenbringt, dann machen wir da weiter, wo wir jetzt aufhören.
Ich habe die dicke Frau namens Lisa nie wieder gesehen.“

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