Die Familie J. (1)

Er umklammert das Lenkrad, dass die Knöchel weiß werden. Ist wütend, weil er gar nicht hier sein will im Stau. Jetzt stehen sie schon seit fünfunddreißig Minuten auf der A5. Umgeben von lauter anderen Idioten mit merkwürdigen Kennzeichen. Jennifer lehnt benommen auf dem Beifahrersitz an der Seitenscheibe. Die Kinder hängen stumm in ihren Isofix-Sitzen auf der Rückbank. Nachdem sie sich vorher gut zwei Stunden nur gestritten haben, sich gegenseitig das Spielzeug an die Köpfe geworfen, geweint, geschrien. Die Klimaanlage schafft es kaum noch, die Hitze draußen zu halten. Das Außenthermometer zeigt fast fünfunddreißig Grad an diesem ersten Ferientag in dieser Region. Jens fand die Idee von Anfang blöd. Ihre erste gemeinsame Reise nach so vielen Jahren noch einmal zu machen, dieses Mal mit den Kindern. Ihn reizte es überhaupt nicht, noch einmal auf der Insel Camping zu machen. Damals war es gut, aber es würde sich nicht wiederholen lassen. Die Fähre in Genua würden sie ohnehin nicht mehr pünktlich erreichen, aber man kann ja jetzt online umbuchen.

Es war der Urlaub ihres Lebens. Sie waren jung, optimistisch und verliebt. Und er hatte ein Auto. Auf Korsika waren sie gekommen, weil Jennifer den Beinamen so schön fand: Ile de Beauté. Sie hatten viel Zeit und wenig Geld. An den ersten Tagen auf dem Campingplatz außerhalb von Calvi ging schief, was schiefgehen konnte. Beide Luftmatratzen waren undicht, und sie schliefen in den folgenden sechs Wochen auf Isomatten oder den ausgebreiteten Schlafsäcken. Der Gaskocher flog ihnen am zweiten Morgen um die Ohren. Also gab es immer nur kalte Milch zum Frühstück. Restaurants konnten sie sich nicht leisten, Cafés nur alle paar Tage. Sie ernährten sich vorwiegend von Baguette mit Käse und Schinken und hatten jede Nacht Sex. Tagsüber auch. Am liebsten draußen. Wie am Strand dieser menschenleeren, halbrunden Bucht, an dessen Rand sie zehn Tage verbrachten. Kleidung trugen sie nicht mehr, und wenn es nicht zu heiß war, taten sie es mit den Füßen im Wasser, während oberhalb ein paar Kühe zusahen. Sie kamen sich vor wie Entdecker, Abenteurer, die letzten Menschen auf Erden und die ersten. Sie suchten keinen Kontakt mit den Einheimischen und schon gar nicht mit anderen Touristen. Sie lebten im Jetzt und sprachen vorwiegend von der Zukunft. Denn die Vergangenheit hatten sie schon abgehandelt.

Jona weint leise vor sich hin, und seine Schwester brüllt: Der hat Durst! Jenny reicht ohne hinzuschauen die Trinkflasche nach hinten. Der Junge macht schwere Geräusche beim Nuckeln. Jara schreit: Ich auch! Ruhe jetzt, befiehlt Jenny kraftlos. Seit Minuten geht hinter ihnen die Sirene eines Notarztwagens, aber die Autos haben sich über die drei Spuren hinweg ineinander verkrallt. Und die besonders Rücksichtslosen blockieren die Standspur. Dabei ist die nächste Ausfahrt noch gut sechs Kilometer entfernt.

Eigentlich verstehen sie sich als Zwillinge. Dass ihrer beider Vornamen mit demselben Buchstaben beginnen und ihre Nachnamen auch. Dass sie sich ausgerechnet in Jülich begegnet sind. Und dass sie im Prinzip am selben Tag geboren sind. Während Jennifer kurz vor Mitternacht am 9. Juli zur Welt kam, gebar seine Mutter Jens genau vier Minuten nach Mitternacht am 11. Juli. Seit sie sich kennen feiern sie deshalb gemeinsam am Zehnten. Und natürlich endet ihr Autokennzeichen auf JJ 1007. Jennifer ist das ein bisschen peinlich, Jens findet es normal. Mag auch damit zusammenhängen, dass sie nicht normal aufgewachsen ist, er aber aus einem gutbürgerlichen Elternhaus stammt mit einem Unternehmer als Vater, einem sehr ernsthaften Mensch, der nicht müde wurde zu betonen, er habe das Geschäft damals ganz allein mit seinen eigenen Händen aufgebaut. Er sagte immer „das Geschäft“, obwohl es genau genommen sieben Geschäfte waren. Denn aus dem kleinen Tapetenladen in Düren war über die Jahre eine kleine Baumarktkette mit sieben Filialen und fast dreihundert Mitarbeitern geworden. Jennifer war dagegen in einer Kommune großgeworden, einer Sekte, erst auf einem großen Gut irgendwo in Österreich, dann auf einer Kanareninsel. Ihre Mutter hatte erst spät entdeckt, dass alle Mitglieder vom Guru missbraucht worden waren. Also flüchtete sie und musste Jennifer dafür sogar aus dem Kinderbereich entführen.

Jetzt laufen die Sanitäter mit ihren Notfallkoffern zwischen den Autos hindurch. Jens sieht sie im Rückspiegel kommen, und der eine hinterlässt einen langen Kratzer in der rechten Seite seines Kombis. Was war das? fragt Jenny. Die Kinder haben angefangen zu weinen. Er lässt den Motor wieder an, damit die Klimaanlage wieder genügend kalte Luft ins Wageninnere bringt. Am liebsten würde er jetzt nachsehen, wie schlimm der Kratzer ist. Aber traut sich nicht, das Auto zu verlassen. In geringer Höhe rast ein Helikopter über sie hinweg. Rechts neben der Standspur hat sich eine Gruppe von sieben, acht Männern zusammengefunden, die Zigaretten rauchen.

Natürlich sollte Jens das Geschäft übernehmen. Aber er hatte darauf bestanden, bis zum Abitur auf dem Gymnasium zu bleiben, und seine Mutter hatte ihn dabei unterstützt. Sie hatte ein eigenes Bild von ihrem Sohn, betrachtete ihn als einen sensiblen, kreativen Menschen, als Künstler. Und dass obwohl es dafür keine Indizen gab, außer dass Jens tatsächlich sehr empfindlich darauf reagierte, wenn ihn Menschen nicht ernstnahmen oder gar beleidigten. Am liebsten hätten ihn die Mutter als Musiker gesehen, den sie selbst war vor seiner Geburt auf dem Wege gewesen, den Durchbruch als Opernsängerin oder zumindest als Operettenkünstlerin zu schaffen. Jens war ihr enttäuscher Lebenstraum und ihre Hoffnung. Um das Bild aufrechtzuerhalten, half sie der Wirklichkeit mit Alkohol nach. Aber erst als Jens, damals in der Obersekunda, am Abendbrottisch verkündete, er wolle die Schule nun doch mit der mittleren Reife verlassen und eine Laufbahn als Verwaltungsbeamter einschlagen, brach sie endgültig zusammen. Sie starb mit nicht einmal vierzig Jahren in einer Klinik, in der sie einen Entzug durchführen sollte. Nachts hatte sie das Haus und das Gelände verlassen und wurde auf der Landstraße von einem Lieferwagen überfahren.

Es herrscht wieder Stille im Auto. Auch der Krankenwagen hat die Sirene abgestellt. Jenny öffnet das Fenster. Auch draußen ist es beinahe ruhig. Man hört die leisen Gespräche der Raucher am Rand der Autobahn, und aus verschiedenen Richtungen wehen Geräuschfetzen herüber, die von den Autoradios stammen, die hinter den geschlossenen Scheiben laufen. Jens kann das Lenkrad einfach nicht loslassen, so wütend ist er. Sie könnten schon seit Stunden im gewohnten Ferienhäuschen am See oben in Holstein sein, wo sie seit der Geburt der Kinder jedes Jahr zweimal hinfuhren. Er hätte schon den Grill vorbereitet. Während die Kinder im umzäunten Garten friedlich spielten, hätte Jenny schon ihren legendären Nudelsalat angerührt. Und das Bier stünde kalt. Am liebsten würde er einfach hier und jetzt runter von der Schnellstraße. Einfach querfeldein und weg. So wie Wolfram das getan hat, als er einmal mit seinen Motoradkumpeln in einen Stau geraten war.

Jens wurde auf Anhieb angenommen und begann seine Ausbildung in Aachen. Sie waren zu sechst. Sechs Männer zwischen sechzehn und vierundzwanzig wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können. Das einzige verbindende Element war der Wunsch nach Sicherheit. In der Region waren die angestammten Industrien in kurzer Zeit zugrunde gegangen. Außer der Landwirtschaft boten sich nur wenige Branchen an. Tatsächlich waren drei von ihnen Bauernsöhne, die auf diesem Weg in die Stadt kommen wollten. Völlig aus dem Rahmen aber fiel Wolfram. Ein schmaler, großer Kerl mit langen Haaren, Schnäuzer, der immer eine Lederjacke trug und nichts ernstnahm. Natürlich hatte der ein Motorrad, eine Zweihundertfünfziger. Jens sah in dem Kollegen, der gut fünf Jahre älter war als er, eine Art Outlaw und fragte sich, weshalb eine solche Type unbedingt in die Verwaltung gehen wollte. Als sie auf einem Lehrgang in der Nähe von Kleve waren, erklärte Wolfram die Gründe. Sie waren noch auf ein paar Bier in den Ort gegangen und saßen in einer rauchgefüllten Gaststube am Stammtisch in der Ecke. Ist doch ganz einfach, begann Wolfram, brauchst dir nie wieder Sorgen um Geld zu machen. Hast einen Job und regelmäßig Kohle. Und wenn du keinen Ehrgeiz hast, dann sitzt du deine vierzig Stunden pro Woche ab, und tust außerhalb der Dienstzeit, was du willst.

Jemand klopft an die Seitenscheibe. Ein Kerl mit geflochtenem Bart und kleiner schwarzer Brille. Ey, fahr mal deinen Karren paar Zentimeter nach rechts; dann kommen wir durch. Im Rückspiegel sieht Jens eine Kolonne Motorräder und die Biker, die mit den Autofahrern sprechen. Plötzlich werden alle Motoren angelassen, und jeder versucht, seinen Wagen so zu manövrieren, dass doch eine Gasse entsteht. Er touchiert die Stoßstange des Reisemobils vor ihm nur leicht, trotzdem lockert sich das darauf befestigte Fahrrad. Jenny ruft: Was machst du? Ich muss mal, gibt Jona bekannt.

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