Die Nadel

Keine Ahnung, wie ich hier hochgekommen bin. Wundert mich auch, dass hier an der Spitze dieses eigenartigen Bauwerks ein Sitz angebracht ist. Man hat mich zum Glück angeschnallt. Und gut, dass ich keine Höhenangst habe, denn in gut fünfundsiebzig, achtzig Metern auf der Spitze einer Nadel zu hocken, ist nichts für furchtsame Gemüter. So überblicke ich die Stadt, die selbst aus dieser Höhe bis über den Horizont hinausreicht. Es geht ein leichter Wind, und die Nadel bewegt sich erstaunlicherweise nicht ein bisschen. Muss an der Konstruktion liegen, wozu immer die gut sein mag. Nur daran, wie ich wieder herunterkommen, darf ich nicht denken.

Soweit ich die Nadel abwärts überblicken kann, ist sie vollkommen glatt, keine Öffnungen. Man wird mich also wieder abholen müssen. Ich erinnere mich nur, dass mich etwas am Hals traf, als ich aus dem Laden kam, also diesem Shop-in-Shop für Outdoor-Zeug in der Mall meines Viertels. Und dann bin ich hier oben aufgewacht. Dieser Teil der Stadt hat keine Straßen, keine Häuserblocks, besteht nur aus einer endlosen Dachlandschaft. Und dazwischen eigenartigen, hoch aufragenden Bauwerken wie meine Nadel.

Gut zweihundert, dreihundert Meter entfernt erhebt sich eine schwarze, quadratische Säule. Oben steht ein Mensch. Es gibt weitere Nadeln und Säulen, manche eckig, manche rund oder elliptisch. Vermutlich sitzen oder stehen überall Leute darauf und fragen sich, wie in drei Teufels Namen sie dorthin gekommen sind. Über den Dächern schweben die Personendrohnen, aber nie höher als vielleicht dreißig Meter. Die Luft ist diesig und summt. Da, wo ich Süden vermute, steht ein runde Wolke über der Stadt und regnet.

Links an meinem Sitz hängt ein Proviantsack. Ich finde einen Behälter mit Wasser und einen Beutel Esspaste und stärke mich. Zuhause hatte ich noch ausgiebig gefrühstückt und die Fische gefüttert. Wollte mir einen Allwetteroverall besorgen, weil ich eine Fahrt in den Naturpark gebucht hatte. Es war aber keiner in meiner Größe am Lager. Britt hatte abgesagt. Sie wollte lieber raus aufs Meer, wofür ich vollstes Verständnis zeigte.

Der Mann auf der schwarzen Säule winkt. Nehme an, er meint mich, und winke zurück. Er legt die Hände als Trichter um den Mund und ruft etwas. Ich kann ihn nicht verstehen. Gleich nebenan schiebt sich langsam ein dreieckiges Gebilde aus einem der Dächer, unten breiter als oben, aber mit einer abgeflachten Spitze. Darauf ein Gestell. Jetzt kommt eine Drohne und senkt sich bis auf wenige Zentimeter auf dieses Gebäude hinab. Männer in gelben Anzügen heben einen Menschen aus dem Gefährt und schnallen ihn in dieser Halterung fest. Dann fliegen sie weg.

Die Person ist kaum zwanzig Meter Luftlinie von mir entfernt, genau in meiner Blickrichtung, eine Frau in einem dieser fleischfarbenen, enganliegenden Bodys, die dieses Jahr in Mode sind. Man hat sie mit den Füßen und den Händen an die Stangen gefesselt. Ihr Kopf liegt seitwärts auf der Schulter. Dann erwacht sie und beginnt sofort zu schreien und rüttelt mit Armen und Beinen an den Kabelbindern. Sie ist eindeutig in einer schlechteren Lage als ich, denn mich hat man nur mit einem Haltegurt, der mir über die Schultern läuft und dann zwischen den Beinen bis zum Sitz, fixiert.

Sie hat sehr langes, dunkelrotes Haar und eine tolle Figur. Ich höre sie weinen. Ganz ruhig, rufe ich ihr zu, alles wird gut. Erst jetzt bemerkt sie mich, wird still und starrt mich an. Ich heiße Mike, sage ich mit lauter, fester Stimme, und wie heißt du? Sie spricht ziemlich leise, und ich verstehe nur Minana. Was hast du zuletzt gemacht bevor sie dich geholt haben, Minana? Sie sagt irgendetwas mit Beauty. Sie bewegt die linke Hand in der Schlinge, und plötzlich kommt sie frei, schafft es auch die anderen Fesseln zu lösen und springt.

Das ist natürlich eine Option in einer solch aussichtslosen Lage. Aber ich bin kein Typ für einen Suizid. Selbst in der aktuellen Situation bin ich sicher, dass irgendwer mich irgendwann irgendwie von hier wegholen wird. Deshalb stelle ich mir auch nicht die Frage, warum man mich auf der Spitze der Nadel abgesetzt hat. In unserer Gesellschaft geschieht vieles ohne besonderen Grund, aber in der Regel kommt niemand zu Schaden. Die Zeiten sind vorbei. Der Staat sorgt für uns, beschützt uns und will immer nur unser Bestes. Vermutlich handelt es sich um eine Fehlfunktion im System, die über kurz oder lang repariert wird. Und dann kommt eine Drohne, um mich zu retten.

Langsam senkt sich die Dämmerung über die Stadt und die Dächer beginnen sanft zu glühen. Ich trinke einen Schluck und verspeise eine weitere Portion der Nahrung aus dem Sack. Der Typ auf dem quadratischen Gebilde hat sich hingelegt, seine Arme und Beine ragen über die Ränder der Plattform hinaus. Vielleicht ist dies auch ein Spiel. Ich habe einmal gelesen, dass vor langer, langer Zeit Menschen Wettbewerbe im Pfahlsitzen ausgetragen haben. Da saßen Leute auf Pfählen, und wer als letzter oben blieb, der hatte gewonnen. Im Gewinnen bin ich ganz gut, war ja sogar Mitglied der Nationalmannschaft im Röhrentauchen. Und im Urlaub wandere ich manchmal zweiundsiebzig Stunden am Stück, ganz ohne Pause. Durchhalten ist eine meiner Stärken.

Wo der Mond stehen müsste, gibt es nur einen blassen Fleck am Himmel. Der Wind hat aufgefrischt, und es ist ziemlich kalt geworden. Die Bürger in der Stadt da unten kennen das ja gar nicht, verschiedene Temperaturen, Wind, Regen und solche Sachen. Langsam tut mir der Hintern weh, weil der Sitz nicht gepolstert ist und sich die harten Querstangen ins Fleisch drücken. Ansonsten finde ich es sehr schön hier oben ganz allein. Brauche eh nicht viel Gesellschaft, mir reichen die fünfzehn Stunden in der Woche mit den Kollegen im Job. Und natürlich die Zeit mit Britt.

Sie hat eine ähnliche Haltung zum Leben wie ich und mag es, sich Risiken auszusetzen. Deshalb wohnen wir auch nicht in der Stadt, sondern auf dem Land. Da gibt es nicht nur Dächer, sondern Straßen und Wege, ja, auch Plätze, wo sich manchmal Leute versammeln, einfach um zusammen an einem Ort zu sein. Sobald bei uns mehr als zwanzig Bürger auf einem Platz zusammen sind, setzt das Unterhaltungsprogramm ein, und es gibt Barbecue.

Es dürfte auf Mitternacht zu gehen. Erst jetzt merke ich, dass es hier oben nach nichts riecht. Kein Hauch von irgendwas ist in der Luft, absolut neutral. Ich finde eine Ampulle Somnix im Proviant. Ein paar Stunden Schlaf wären nicht schlecht. Also nehm ich das Zeug und bin in Sekunden weg. Im Traum fahre ich mit einem Motorrad, also einem Zweirad mit Verbrennungsmotor, eine Küstenstraße entlang. Die Sonne schwebt über dem Meer, es duftet nach Pinien. Und spüre, dass Britt ihre Arme um mich gelegt hat, während wir mit gleichbleibender Geschwindigkeit durch die sanften Kurven schwingen. Ich habe so etwas mal in einem sehr alten Film gesehen.

Eine Art Vibration weckt mich auf. Der Tag ist angebrochen, der Himmel hat dieses gleichmäßige Graublau. Ich schau mich um, und alle Nadeln, Säulen, Stelen und Pfeiler sind verschwunden, außer der Spitze, auf der ich sitze. Man hat in der Nacht meinen Futtersack aufgefüllt, und ich nehme ein Frühstück aus Kaffeepaste und Energieriegeln. Mir geht es ganz gut, ich fühle mich erfrischt. Aus irgendeinem Grund musste ich bisher nicht auf die Toilette. Erst jetzt erkenne ich, dass es meine Nadel ist, die vibriert, weil sie ganz langsam weiter in die Höhe fährt.

Es muss sich um ein Experiment handeln. Und falls ja, dann sollte ich stolz sein, dafür ausgewählt worden zu sein. Offensichtlich habe ich die erste Phase erfolgreich überstanden und bin der einzige, der noch im Rennen ist. Ich liebe meinen Job, aber Ehrgeiz entwickle ich bei der Arbeit nicht. Zumal mir nie jemand erklärt, was genau ich da mache und wann ich die an mich gestellten Erwartungen erfülle und wann nicht. Ich sitze in der Mitte einer 360-Grad-Bildwand, die das Geschehen auf einem Platz in irgendeiner Urbanisation irgendwo im Land zeigt. Meine Aufgabe ist es, immer dann den Knopf an meinem Joystick zu drücken, wenn ich eine Person wahrnehme, die eine rote Mütze trägt. Nach drei Stunden wird das Display dunkel, und ich habe Feierabend.

Inzwischen hat man mich so weit nach oben geschoben, dass ich die Ränder der Stadt erkennen kann und, ja, den Ozean. Sogar die Einfahrt in den unterirdischen Frachthafen kann ich erkennen. Eine Fünftausenderplattform nähert sich von See her. Einmal habe ich das Meer aus der Nähe gesehen, das muss gut zehn Jahre zurückliegen. Auf einer Wanderung hatte ich den vorgeschriebenen Pfad verlassen, um diesem speziellen Geruch zu folgen. Ich kam zu einer Betonebene, die abrupt endete und einige hundert Meter senkrecht nach unten abfiel. Und da war der Ozean, so wie ich ihn aus Spielfilmen und Dokumentationen kannte.

Hier oben ist es ziemlich kühl. Im Proviantbeutel findet ich eine Isojacke, die ich mir überziehe. Das geht ganz gut, weil ich nicht mehr angeschnallt bin. Außerdem hat man mir ein weiches Porodex-Kissen untergeschoben. So lässt es sich aushalten. Vielleicht ist es besser, nicht nach dem Sinn der Aktion zu fragen, sondern mich einfach in mein Schicksal zu fügen. Und den Augenblick zu genießen. Der Tag vergeht ereignislos. Erst spät am Abend passiert etwas. Ein ziemlich großes Gebäude in der Stadtlandschaft fällt in sich zusammen, eine freie Fläche entsteht. Ich bin in zu großer Höhe, um irgendwelche Geräusche gehört zu haben, die diesen Vorfall begleiteten.

Am nächsten Morgen bin ich so hoch, dass ich die Erdkrümmung erkennen und das Gebirge im Osten sehen kann. Man hat mich in einen Schutzanzug gesteckt und mir eine Sauerstoffmaske übergezogen. So kann ich unter diesen feindlichen Umgebungsbedingungen überleben. Aber Spaß macht die ganze Sache nicht mehr. Ich würde jetzt gern mit einem Verantwortlichen für das Experiment sprechen, aber ein Sprechgerät habe ich noch nicht gefunden. Immerhin fährt die Nadel nicht weiter aufwärts. Die gute Nachricht: Ich bin frei zu tun und zu lassen, was ich will. Mir ist es sogar gelungen, aufzustehen. Meine Füße stehen auf einem Querrohr, unterhalb des Sitzes. Ich halte mich mit einer Hand fest und strecke mich.

Nur einmal bin ich verhaftet worden. Damals im Wald. Ohne es zu wollen, hatte ich die virtuelle Linie zwischen dem Teil, den wir Bürger betreten dürfen, und dem geschützten Bereich übertreten. Einfach, weil ich so glücklich war zwischen den Bäumen inmitten des Aromas der Pflanzen und der Geräusche der Vögel, dass ich nicht auf meinen Orter und seine Warnsignale geachtet hatte. Man sieht ja die Sicherheitskräfte in solchen Situationen nicht. Sie nähern sich geräuschlos von hinten und setzen einen Schuss mit der Sedierpistole. Und weg bist du. Die Zellen sind lang und schmal, sodass du dich kaum drehen kannst. Man stellt dir über einen Lautsprecher ein paar Fragen, du antwortest, und dann dauert es ein paar Minuten bis das Urteil gesprochen ist.

Man hatte mich zu zehn Tagen Freizeit verdonnert. Zehn Tage lang musste ich mich vergnügen wie die normalen Leute. Es war schrecklich. Wie froh war ich, als ich wieder an meinen Arbeitsplatz zurückkehren durfte. Weil man mich dieses Mal nicht verhaftet, verhört und verurteilt hat, dürfte es sich bei meiner aktuellen Lage nicht um eine Strafe handeln. Denn in diesem Staat wird niemand ohne Anhörung und Urteil bestraft. Im Gegenteil: Vielleicht handelt es sich sogar um eine Belohnung. Wenn das so ist, dann reicht es mir jetzt aber auch wirklich.

Ich nehme eine doppelte Dosis und schlafe augenblicklich ein. An die Träume kann ich mich nicht erinnern. Aber als ich wieder aufwache, hat sich die Lage dramatisch verändert. Die Stadt ist mitsamt dem Hafen und allen Dächern verschwunden. Unter mir nur ödes, verdorrtes Land. Niemand hat meinen Proviantsack aufgefüllt, die Sauerstoffflasche scheint leer zu sein. Zum Glück befinde ich mich nur noch auf maximal einhundert Meter Höhe. Die Stille ist erschreckend, kein Windhauch geht. Es wird Zeit, dass ich mir selbst helfe, von dieser Nadel herunterzukommen. Vielleicht kann ich mich ja abseilen. Tatsächlich ist an der Rückseite des Sitzes eine dicke Rolle Rugged-Leine angebracht. Keine Ahnung, ob die lang genug ist.

Vorher setze ich mich aber einfach noch einmal hin und genieße die Aussicht. Denke dabei an Britt, den Menschen, der mir Zeit meines Lebens am nächsten war. Ich weiß trotzdem so gut wie nichts über sie, woher sie kommt, was sie arbeitet und was sie sich von ihrem Leben verspricht. Manchmal kommt es mir vor, besonders nach dem Sex, dass sie voller geheimer Wünsche, Bedürfnisse, ja, Obsessionen steckt. Aber nach so etwas fragt man nicht. In unserer Gesellschaft nimmt man jeden so wie er oder sie ist – die totale Toleranz. Das macht einen unserer Grundwerte aus, die Geschwisterlichkeit.

In manchem der ganz alten Filmen, von denen man pro Jahr höchstens zwei oder drei ausgeliefert bekommt, gibt es Personen, die sich hassen. Die sich also wünschen, einem anderen möge es richtig schlecht gehen, die sich sogar dessen Tod wünschen oder einen Mord planen. Es ist manchmal schockierend, sich vorzustellen, dass das früher Realität war. Ich persönlich habe keine Vorstellung davon, wie es ist, jemanden zu hassen. Bei Britt bin ich mir nicht sicher, weil sie manchmal beinahe wütend ist und regelrecht über andere schimpft. Und jetzt frage ich mich, ob sie überhaupt noch lebt. Wer überhaupt noch lebt, ob es meine Siedlung noch gibt und nur die Großstadt unter mir untergegangen ist.

Da ist wieder dieses Vibrieren. Ganz offensichtlich wird die Nadel Richtung Erdboden gezogen. Ich werde abwarten, wie weit diese Bewegung geht. Es ist merkwürdig, aber der Himmel hat sich verändert, das Blau ist anders, es ziehen Wolken von West nach Ost in Gruppen. Aber es fällt kein Regen. Die Sonne scheint ungefiltert aufs Land. Jetzt bin ich kaum noch zehn Meter oberhalb der Erdoberfläche. Es sieht so aus, als habe sich eine Sandschicht über die Ruinen der Stadt gelegt. Die Bewegung wird schneller, und bei ungefähr zwei Metern springe ich ab. Lande auf dem weichen Boden. Die Nadel wird in die Erde gesogen, es entsteht ein Krater, der dann Sand anzieht.

Ich rutsche und rutsche. Wie in einem Trichter. Immer tiefer. Kein Halt. Sand rutscht nach. Da, eine kreisrunde Öffnung. Ich schaffe es, sie anzusteuern und hineinzuschlüpfen. Eine Röhre wie in einem dieser Fun-Bäder, eine Spirale abwärts, sanft beleuchtet. Rutsche schneller und schneller. Das Licht am Ende der Röhre. Als ich wieder zu Bewusstsein komme, liege ich auf dem Gehweg vor dem Sportladen in der Mall in meinem Viertel. Es geht mir gut, ich bin nicht verletzt und habe nur leichte Kopfschmerzen. Ein älterer Herr im himmelblauen Overall fragt mich, ob alles in Ordnung ist und hilft mir auf.

„Da bist du ja,“ sagt Britt als ich die Verkaufsräume betrete. „Wir waren für vier Uhr verabredet, jetzt ist es fast fünf.“ Ich bin nicht sicher, ob ich ihr erzählen werde, was mir in der Zwischenzeit geschehen ist. Vielleicht unterwegs auf unserer Wanderung. Vielleicht in dem Moment, in dem wir an der Betonküste stehen und aufs Meer hinausschauen. „Hab heute keine List auf Shopping,“ sage ich, „lass uns lieber zum Foodcourt gehen und was richtig Gutes essen und dazu einen echten Wein trinken.“ Britt zögert. Lächelt dann und sagt: „Na, gut, die Anzüge können wir auch noch nächste Woche besorgen.

Schreibe einen Kommentar