Von seiner Vergangenheit erfuhren wir erst lange nach seinem Tod. Onkel Paul war nach dem Tod seiner Frau nach Holstein gezogen, in einen Ort, der zu groß war für ein Dorf und zu klein für eine Stadt. Dort galt er als der Kommunist. Mit dem evangelischen Pfarrer hatte er sich angefreundet und einige Nächte hindurch diskutiert, über Gott und die Welt. Der Pastor war es auch, der mir die Geschichte von Onkel Paul erzählte als ich nach Jahren zufällig in diesem Ort strandete. Mir fiel die bewegende Grabrede, die der Geistliche bei der Beerdigung gehalten hatte.
Während die vielen Tanten und Onkeln, die es nach dem Krieg auch in den Westen verschlagen hatte, auf ungezählten Bildern in den vielen Fotoalben zu sehen sind, gibt es nur eine einzige Aufnahme von Onkel Paul aus den Fünfzigerjahren. Ein großer, breiter Mann mit kugelrundem, fast kahlen Schädel, der im Hintergrund stand und auf eine Art grinste, die man schelmisch nennen könnte. Von Beruf war er Ofensetzer und stammte aus Ostpreußen. Seinen breiten Akzent verlor er nie, und er pflegte ihn auch sehr. Meine Mutter war seine Nichte, weil er nach dem Krieg ihre Schwester Ida geheiratet hatte, eine Kriegerwitwe mit drei Söhnen. Es hieß immer, Onkel Paul sei wie aus dem Nichts aufgetaucht, habe Ida bei einem Tanzvergnügen im Sommer 1949 kennengelernt und sei wenige Wochen später mit ihr aufs Standesamt gegangen. Zusammen hatten sie dann noch eine Tochter, der sie den Namen Roswitha gaben.
Onkel Paul hatte schnell eine Stelle bei den Kesselwerken gefunden und eine Werkswohnung kaum einen Steinwurf von der Fabrik entfernt zugeteilt bekommen. Unter dem Dach hatte er einen Taubenschlag gebaut und hielt die Vögel vor allem, um sie zu schlachten und zu braten. Wir Kinder begleiteten ihn oft zu den Tauben, die er fütterte, pflegte und ausgesprochen liebevoll behandelte. Wenn aber die halbe Verwandtschaft zu Besuch war, dann erhob er sich irgendwann und sagte: Ich geh mal Täubchen holen. In der Küche rupfte er die Vögel, nahm sie aus und bereitete sie zu. Wir durften zuschauen und taten das mit gemischten Gefühlen.
Sie haben erwähnt, sagte der Pastor, Paul sei quasi aus dem Nichts gekommen und habe nie über seine Zeit im Krieg erzählte. Ich nickte. Wissen Sie, er hat sehr lange gebraucht, mir zu berichten, was er zwischen 1939 und 1948 erlebt hat. Wir saßen im Hinterzimmer im Dorfkrug, hatten reichlich gegessen und die Mahlzeit mit ein paar Schnäpsen begossen. Jetzt zündete sich der Pfarrer eine Shag-Pfeife an, nahm ein paar Züge und fuhr fort. Er wird ein sehr wilder Jugendlicher gewesen sein, der mit seinem Stiefvater überkreuz war. Mit vierzehn ist er ausgerissen. Kam bis Berlin, wo ihn ein älterer alleinstehender Herr aufnahm und sich fortan um ihn kümmerte wie um einen eigenen Sohn. Der besorgte ihm auch die Lehrstelle in einem Betrieb, der Kachelöfen herstellte. Paul erzählte, es habe da einen Gesellen gegeben, der nicht müde wurde, auf die Nazis zu schimpfen. Das wird sich Mitte der Zwanzigerjahre abgespielt haben. Über diesen Kollegen kam ihr Onkel zur KPD.
Ich bestellte noch zwei Bier und fragte: Gibt es irgendwelche Belege für diese Geschichte? Kann doch sein, dass Onkel Paul sich das nur ausgedacht hat. Er nickte bedächtig und klopfte seine Pfeife aus. Knapp ein Jahr vor seinem Tod saßen wir bei ihm im Garten, tranken Schnaps und freuten uns schweigend an der schönen Natur. Da sagte er plötzlich: Komm mal mit, ich will dir was zeigen. Im Schuppen kramte er ein wenig herum und kam dann mit einer stabilen Kiste zur Tür, die mit einem starken Schloss ausgestattet war. Er öffnete die Schatulle, in der sich irgendwelche Papiere befanden. Hier, sagte er, hast du den Zweitschlüssel. Wenn ich mal nicht mehr bin, dann nimmst du den Kasten an dich. Versprichst du das? Natürlich gab ich ihm mein Ehrenwort, und er verstaute die hölzerne Kassette wieder. Als wir wieder am Tisch saßen, fragte ich, was das denn für Papiere seien. Paul winkte ab und sagte bloß: Wirst schon sehen. Und? fragte ich neugierig. Für jede seiner Geschichten gab es mindestens ein Dokument in der Kiste. Das fand ich heraus, als ich mich drei Jahre nach seiner Beerdigung dazu durchrang, die Schatulle zu öffnen und den Inhalt zu studieren.
Wir schwiegen eine Weile. Am verstörendsten war die Urkunde mit seinem Todesurteil, sagte der Pastor. Es stammte vom Oktober 1940. Die Anklage lautete auf Fahnenflucht. Nach allem, was ich weiß, wurde er Ende 1939 eingezogen. Natürlich war er Kriegsgegner und seit 1931 auch KPD-Mitglied. Ob er auf irgendeine Weise im Widerstand aktiv war, weiß ich nicht, aber sein Parteibuch und diverse Bescheinigungen waren bei den Unterlagen. Die Bedienung brachte unaufgefordert zwei Klare. Wir prosteten uns zu. Wie, in drei Teufels Namen, ist er denn an das Urteil gekommen. Das mit den drei Teufeln habe ich überhört, antwortete der Geistliche, das andere ist eine geradezu unglaubliche Geschichte und der Grund, warum Paul schließlich bat, ihm die Beichte abzunehmen. Gibt es das bei den Protestanten auch? fragte ich nach. Nun, holte er aus, Luther hat die Beichte nicht abschaffen wollen, nur den Zwang dazu. Protestanten beichten in der Regel beim gemeinsamen Gebet, aber in besonderen Fällen nehmen Pfarrer Gläubigen auch die Ohrenbeichte ab.
Aber, hakte ich nach, wenn er doch Kommunist war und im Dorf auch als Kommunist galt, dann war er doch wohl Atheist. Wie kam er dann darauf beichten zu wollen? Wissen Sie, sagte der Pastor, Paul liebte Traditionen und Rituale. So weit links er politisch stand, so sehr liebte er das Brauchtum in seiner alten Heimat und auch hier. Natürlich war er im Schützenverein, wo er sich gern und ausgiebig mit den konservativen Bauernschädeln stritt. Und, ja, er kam gelegentlich auch in den Gottesdienst. Dann setzte er sich in die letzte Bank, verschränkte die Arme vor der Brust und hörte zu. Selbstverständlich sang und betete er nicht mit und blieb beim Vaterunser und beim Segen sitzen. Letztlich glaube ich aber, dass er bei mir eine Beichte ablegen wollte, weil ich sein bester Freund war.
Der Pastor war etwa in meinem Alter, groß und hager mit einem plumpen Haarschnitt und einem merkwürdigen Kinnbart. Wenn er sprach, bewegte sich nicht nur sein Mund, sondern verschiedene Partien seines Gesichts, selbst die Ohren tanzten im Rhythmus mit. An diesem feuchten, kühlen Februartag, der mit Schneeregen begonnen hatte, trug er eine tabakbraune Cordhose und einen dunkelgrauen Troyer, sodass man ihn für einen Seemann an Land hätte halten können. Seiner Sprachmelodie nach kam er nicht von dort, sondern eher aus Westfalen oder dem Emsland. Während er redete, legte er die Handflächen auf den Tisch und unterstrich Sätze, in dem er die Linke drehte und wenige Zentimeter anhob. Hörte er zu, richtete sich seinen Blick auf einen Punkt an der Wand hinter mir, ein Stück weit über meinem Kopf. Dabei nickte er unmerklich und gleichmäßig. Wollen wir morgen weitereden? fragte er. Ich habe am Vormittag eine Beerdigung und eine Trauung, da muss ich mich noch vorbereiten. Ich stimmte zu, und er lud mich nachmittags ins Pfarrhaus zu Kaffee und Kuchen ein. Meine Haushälterin backt einen wunderbaren Streuselkuchen mit Rosinen, den ich gern noch warm esse. Mögen Sie Streuselkuchen?
Von Pauls Beerdigung wusste ich, dass das Gotteshaus ein schmuckloser Bau aus den Sechzigern war, eine Art Scheune mit Waschbetonfassade und schmalen, hohen Fenstern darin. Dazu ein spitzer Giebel und die Andeutung eines Glockenturms. Als Pfarrhaus diente ein Bungalow aus Backstein auf der anderen Straßenseite. Der Pfarrer begrüßte mich in Jeans und Fischerhemd und bat mich in sein Studierzimmer. Kaffee und Kuchen kommen gleich, sagte er. Wir hatten kaum Platz genommen, da trat die Haushälterin ein, die ich mir ganz anders vorgestellt hatte. Das ist Kamilla, sagte der Pastor und stellte mich vor. Sie war eine ausgesprochen gutaussehende Frau mittleren Alters, die durchaus seine Gattin hätte sein können. Sie fragen sich vielleicht, warum ich keine Ehefrau habe, begann er und rückte nach vorne auf die Sesselkante, alle evangelischen Pfarrer haben doch eine. Ich will es einmal so ausdrücken. Die Frau, die ich für mein Leben gern geheiratet hätte, hat sich einen anderen genommen. Danach war das Thema für mich durch.
Etwas Ähnliches traf wohl auch auf Onkel Paul zu, von dem die Mutter immer sagte, er sei ein unsteter Junggeselle, der Ida nur geheiratet habe, weil er sich Söhne gewünscht hatte. Tatsächlich war die Frage, wer denn Roswithas leiblicher Vater war, eine Art Familiengeheimnis, über das nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen wurde. Reine Zweckehe, hatte der Vater oft gesagt, und selbst uns Kindern war aufgefallen, dass sich Ida und Paul nicht wie andere Eheleute miteinander umgingen. Hat Onkel Paul mit Ihnen auch über seine Ehe gesprochen? fragte ich. Der Pfarrer hatte mir bereits Kuchen aufgetan und Kaffee eingeschenkt und sagte: Selbstverständlich. Vielleicht war es diese Gemeinsamkeit, die uns zu Freunden gemacht hat. Bei ihm war es eine Genossin, die er 1932 bei einer Parteischulung in Wien kennengelernt hatte. Eine verheiratete Frau mit zwei kleinen Kindern, die wohl auch in ihn verliebt war, aber, seine Bitte, Ihren Mann wegen ihm zu verlassen, rundheraus ablehnte. Sie sahen sich nie wieder. Er nahm an, sie sei samt Familie nach Moskau in die dortige KP-Untergrundzelle gegangen.
Aber eigentlich wollte ich Ihnen doch die Geschichte erzählen, wie Paul sein Todesurteil in die Hände fiel. Warten Sie, ich habe mir Notizen gemacht. Der Pastor trat an seinen Schreibtisch und zog eine Mappe aus der Schublade. Oh, und hier habe ich noch ein Foto von ihm, aufgenommen ungefähr zwei Jahre vor seinem Tod beim Schützenfest. Er gab mir das Bild. Ich hatte ja nur meine Erinnerung an den Onkel wie er in den frühen Sechzigerjahren war, also mit knapp fünfzig Jahren. Aber den alten Mann auf dem Foto erkannte ich sofort wieder. Er stand mitten zwischen Schützenbrüdern, die dem Fotografen mit Schnapsgläsern zuprosten, als einziger nicht in Uniform, sondern im schwarzen Anzug. Während die Schützen grienen, schaut Onkel Paul relativ ernst, beinahe feierlich in die Kamera. Er hat ja immer mitgemacht beim Schützenfest, sagte der Pfarrer als ich ihm das Foto zurückgab, aber eine Uniform zu tragen oder zu schießen, das kam für ihn nicht in Frage.
Mein Gastgeber setzte seine Brille auf und öffnete die Mappe. Natürlich, begann er, wurde Paul in Abwesenheit zum Tode verurteilt, er war ja desertiert. Wie man der Urkunde entnehmen kann, handelte es sich um ein sogenanntes Schnellurteil. Beweisaufnahme, Anklage, Verhandlung und Urteil wurden am selben Tag durchgeführt und verkündet. Als Vorsitzender Richter hat ein gewisser Dr. Gerhard Zanusius unterschrieben, einer dieser fürchterlichen Juristen, die Todesurteile im Akkord fällten. Auch der Offizier Hans-Josef Kürten als Ankläger, das wissen wir inzwischen, war einer dieser Männer, die nichts dabei fanden, junge Männer umbringen zu lassen. Man findet beide Namen in den einschlägigen Listen der Kriegsverbrecher.
Paul hatte sich im August 1940 nach Südfrankreich abgesetzt. Er sei, so berichtete er, mit dem Zug über Umwege nach Freiburg gereist und habe nach einer dreitägigen Wanderung illegal die Grenze zur Schweiz überschritten. In Basel hätten ihm dann Genossen weitergeholfen, ihn mit Geld und vor allem einem falschen Schweizer Pass ausgestattet. Als Uri Zerlett sei er dann südwestlich von Genf nach Frankreich eingereist, wo ihn kurz hinter der Grenze wieder kommunistische Parteigenossen in Empfang nahmen. So wurde er Mitglied der Resistance, landete in einem geheimen Ausbildungslager bei Bordeaux, wo er auch die französische Sprache erlernte. Daran erinnerte ich mich, dass Onkel Paul gern Wendungen einflocht, die sich für meine Kinderohren irgendwie französisch anhörten – Ausdrücke wie Mon dieux oder Bien sur oder Allors.
Der Pfarrer blätterte in den Seiten, blickte auf und sagte dann: Wissen Sie was, ich gebe ihnen diese Notizen. Machen sie etwas darauf. Bei mir verschimmelt das Papier nur in der Schublade. Ich will ihnen nur noch schnell erzählen, wie Paul an die Urkunde mit seinem Todesurteil kam. Nach Kriegsende war er in Strasburg gelandet, und beinahe wäre er französischer Staatsbürger geworden, die Papiere lagen schon bereit auf der Präfektur. Aber dann kam die Nachricht von der Gründung der DDR, des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden. Da wollte Paul dabei sein, da wollte er Zukunft aktiv mitgestalten. Also machte er sich auf den Weg durch das zerstörte Land und kam auf Umwegen nach Berlin, wo er selbstverständlich sofort in den sowjetischen Sektor wechselte, um sich bei der dortigen KP zu melden.
Die gab es zwar nicht mehr, aber auch die Staatspartei hatte Verwendung für ihn. Man stattete ihn mit gefälschten Papieren aus und schickte ihn nach Westberlin. Paul wurde Spion. Angesetzt war er auf männliche Personen, die den Krieg und die Entnazifizierung unbeschadet überstanden hatten und die man für maßgebliche Leute beim Aufbau Westberlins hielt. In deren Kreise sollte er sich einschleichen, um so zu erfahren, wie es mit den westlichen Sektoren politisch und wirtschaftlich weitergehen würde. Diese Politik wurde offiziell von den neugegründeten Volksparteien bestimmt, tatsächlich in Hinterzimmern diskutiert, wo man dann die große Linie festlegte. Einer der führenden Männer in diesen Zirkeln war ein gewisser Dr. Zanusius, von Hause aus Jurist, von dem es hieß, er sei nie etwas anderes gewesen als Syndikus großer Firmen und deshalb nicht belastet.
Man traf sich, man debattierte und man trank auch gern gemeinsam. Paul und der Jurist, ein Mann, der vom Alter her sein Vater hätte gewesen sein können, freundeten sich miteinander an und trafen sich außerhalb der geheimen Zusammenkünfte. Nach mehr als einem Jahr, die beiden waren im Weinhaus Trautmann versackt, gestand Zanusius Paul, dass er in Wahrheit Militärrichter gewesen sei und in dieser Eigenschaft Dutzende Todesurteile gefällt habe – das erste im August 1940, das letzte Ende April 1945. Paul ahnte sofort, dass er den Juristen damit in der Hand hätte und zeigte sich nicht nur interessiert, sondern hilfsbereit. Wie man denn die Vergangenheit manipulieren könne, fragte er. Ganz einfach, gab Zanusius zurück, die Akten müssten verschwinden. Wo die denn seien, hakte Paul nach.
Es stellte sich heraus, dass sämtliche Urteile samt zugehöriger Unterlagen der Division, bei der Zanusius tätig war, in einem Aktenkeller im französischen Sektor lagerten, wo sie darauf warteten gesichtet und archiviert zu werden. Da könne er helfen, versprach Paul dem Richter. Wie er es letztlich schaffte, einen Job bei den Franzosen zu bekommen und damit Zugang zum Aktenkeller zu haben, machte Paul widersprüchliche Angaben. Es müssen wohl französische Frauen eine Rolle gespielt haben. Vielleicht war er für die Verwaltung auch nur deshalb interessant, weil er fließend Französisch und Deutsch sprach – ich weiß es nicht. Jedenfalls fand Paul die Kiste mit den fraglichen Akten. Beim wahllosen Durchblättern stieß er tatsächlich auf das Todesurteil, das Zanusius im August 1940 über ihn gefällt hatte. Es war erst das zweite Urteil dieser Art.
So erfuhr ihr Onkel, dass er zum Tode verurteilt worden war und dass ausgerechnet sein Kontaktmann der Richter war, der ihn hatte hinrichten lassen wollen. Woher Paul die Waffe hatte und wo und unter welchen Umständen er Gerhard Zanusius erschoss, ist mir nicht bekannt. Auch hier machte er Angaben, die nicht zusammenpassten. Sicher ist nur, dass Paul Kauschinat im September 1946 den Militärrichter a.D. der deutschen Wehrmacht, Dr. Gerhard Zanusius, durch Schüsse aus einer Handfeuerwaffe umbrachte und die Leiche am Ort der Tat verscharrte. Wissen Sie, ich habe ja teilweise in Berlin studiert und kenne mich in der Stadt recht gut aus. Ich vermute stark, dass der Mord im Tegeler Forst stattfand, westlich vom See in einem immer schon recht unwegsamen Teil des Waldes.
Sie haben, begann ich, Paul also diese Beichte abgenommen. Haben Sie ihm denn auch die Absolution erteilt? Er dachte einen Augenblick nach, und seine Hände tanzten Ballett auf den Armlehnen des Sessels. So etwas gibt es ja bei uns Protestanten nicht. Ich habe ihm zu verstehen gegeben, dass Gott ein gnädiger Gott ist, der dem vergibt, der bereut. Dann habe ich Paul aufgefordert, mit mir gemeinsam zu beten. Aber das lehnte er ab. Ehrlich gesagt, ich bin auch nicht sicher, ob er seine Tat bereut hat. Während er berichtete, kam es mir manchmal so vor, als habe er nur einfach einmal jemandem diese Geschichte erzählen wollen. Er machte nicht den Anschein, als wolle er sein Gewissen entlasten. Der Pastor hielt inne, lehnte sich zurück und strich sich mit dem Handrücken über die Stirn. Unsere Freundschaft hat unter dieser Beichte sehr gelitten. Ich fühlte mich hintergangen und missbraucht, konnte mich aber nicht durchringen, ihn darauf anzusprechen.
Ich dachte an die vielen Familienfeiern damals in den Fünfzigerjahren, bei denen nach dem Essen die Männer mit ihren Bierflaschen und Schnapsgläsern am Tisch saßen und redeten, während die Frauen sich in die Küche zurückzogen. Wir Kinder blieben selten dabei, wenn Vater, die Onkeln und die Nachbarn stundenlang über den Krieg und die aktuelle Politik debattierten. Manchmal stritten sie lautstark, aber Onkel Paul fiel mir dabei nie besonders auf. Als Herr Fischer aus dem vierten Stock bei dieser Gelegenheit bekanntgab, dass er vorhabe, sich für die neugegründete Bundeswehr zu bewerben, da stand Paul auf, nachdem er mit der Faust auf den Tisch gehauen hatte, dass die Flaschen und Gläser klirrten. Du bist ein Idiot, Peter! brüllte er, hast du denn überhaupt nichts gelernt aus dem Krieg? Glaubst du wirklich, man kann Frieden machen mit Gewehren und Panzern? Was machst du, wenn man dich mal wieder an eine Front schickt? Wenn du auf Menschen schießen musst, die auf der anderen Seite stehen? Wenn du dabei einen abknallst? Glaubst du, davon wird die Welt besser? Glaubst du, danach wirst du noch ruhig schlafen können? Ein Mörder wirst du sein, nicht mehr. Ich sah den Vater nicken, während Onkel Paul das Zimmer verließ. Nach dem Tag bei Pfarrer Klüssmann in Holstein verstand ich ihn.