Wir sehen einen noch nicht ganz Zehnjährigen zwischen seinen Brüdern. Sie sitzen in kurzen Hemden und Hosen auf einer Bank an der Oder und lächeln schief in die Kamera: Paul, Gerhardt und Hans. Das Bild hat ein Fotograf aufgenommen, der den Abzug mit dem Namen seines Geschäfts abgestempelt hat. Es war an einem der wenigen wirklich sommerlichen Sonntage im Juli des Jahres 1933. Da sind die Jungen schon vaterlos, wissen aber nicht wie und weshalb der Vater verschwunden ist. In Stettin war im Mai den Gauleiter Karpenstein entmachtet worden. Gegen dessen Willen hatte die SS zuvor ein Internierungslager auf dem Gelände der Vulkanwerft eingerichtet und ab Ostern damit begonnen, Sozialdemokraten, Gewerkschafter und Kommunisten zu verhaften und dorthin zu bringen – unter ihnen der Maurer Max Roggisch, Mitglied der KPD und Vertrauensmann der Baufirma Schlieske. Später würden Historiker dieses Lager als erstes KZ des Naziregimes bezeichnen.
Vati liegt auf der Couch und stöhnt manchmal ein bisschen. Dann setzt er sich auf und nimmt einen Schluck aus der braunen Medizinflasche. Hat er vorher auf dem Rücken gelegen, legt er sich nun auf den Bauch und umgekehrt. Oder auf die Seite. Die Kinder würden gern fernsehen, Fury, Lassie oder die Kinder von Bullerbü. Aber sie wollen Vati nicht stören und trauen sich auch nicht zu fragen. Es ist ein Samstagnachmittag im März 1967. „Was kommt denn?“ fragt Vati. Und dann dürfen sie Flipper gucken. Mutti bereitet das Abendbrot vor. Vati liebt es, samstagsabends besondere Sachen zu essen. Tartar zum Beispiel, das er Schabefleisch nennt und auf einem Holzbrett sorgfältig mit Eigelb, gehackten Kapern und Gürkchen sowie Salz und Pfeffer anmacht. Manchmal gibt es auch Rührei mit Schnittlauch. Und im Winter können sich die Kinder Brühe als Getränk wünschen; dann bekommt jeder einen Brühwürfel in den Kaffeebecher, und Mutti gießt mit kochendem Wasser aus dem Kessel auf.
Wir sehen Paul, Gerhardt und Hans mit der Stiefmutter. Auch diese Aufnahme stammt von einem Berufsfotografen. Die Jungen tragen weiße Hemden und Schillerschleifen, Ida Liedtke im dunklen Samtkleid lächelt, die Stiefsöhne sehen eher ernst aus. Der Mittlere ist jetzt fast vierzehn und wie seine Brüder Vollwaise, weil ihre leibliche Mutter im Sommer 1936 gestorben ist. Schon Anfang 1934 hat man Max Roggisch für tot erklärt und seiner Witwe dringend empfohlen, einen verdienten Parteigenossen zu heiraten, damit die Söhne einen richtigen Vater bekämen. Also machte Karl Liedtke der Hermine Roggisch geborene Müller im Herbst des Jahres einen Antrag, und einen Tag nach Neujahr wurden sie getraut. Dieser Liedtke war ein preußischer Verwaltungsbeamter der unteren Laufbahn, der früh in die Partei und in die SS eingetreten war, was dazu führte, dass er ab 1933 stellvertretender Leiter des Meldeamtes der statt Stettin wurde. Selbstverständlich trug er auch im Dienst Uniform.
Vati ist ein leidenschaftlicher Autofahrer. Im letzten Jahr seiner Kriegsgefangenschaft, die er auf einem Bauernhof im englischen Yorckshire verbrachte, wo er wie ein Sohn der Familie behandelt, erlernte er das Autofahren. Als einer der ersten Mitarbeiter der Brauerei bekam er einen Dienstwagen, den er sich selbst aussuchen durfte. Das war ein Opel Olympia Rekord, zweifarbig lackiert in hellgelb und weiß, mit Platz für die fünfköpfige Familie. Und wenn alle eng zusammenrückten, dann konnten Onkel Hermann und Tante Lisbeth auch noch mitfahren. Jetzt ist er Besitzer eines beigen Peugeot 403, den er den franzöischen Mercedes nennt. Jeden Samstag bringt er das Auto in die Waschhalle der Brauerei, und die Söhne dürfen beim helfen. Im Radio läuft die Übertragung der Fußballspiele der Oberliga West. Vati hat Gummistiefel an und einen grauen Hausmeisterkittel. Die Spezialbürste wird auf den Wasserschlauch geschraubt. In die Bürste kommt ein Stäbchen Waschmittel, das den reinigenden Schaum erzeugt. Walter, der Ältere, darf mit einer langstieligen Bürste die schwierigen Stellen einschäumen, während sein jüngerer Bruder Uwe den Wasserhahn bewacht. Später wird der Lack mit Lederlappen getrocknet, und zuletzt polieren die Jungen alle Chromteile, während Vati eine technische Überprüfung durchfüjrt.
Wir sehen Gerhardt in Wehrmachtsuniform in einer Gruppe von sieben Kameraden, die wie er eine Unteroffiziersausbildung in Treptow an der Riga absolvieren. Sie stehen auf einer Treppe und versuchen, erwachsen auszusehen. Er ist jetzt siebzehn und hat sich gleich nach dem Ende seiner Maurerlehre freiwillig gemeldet. Mit dem Stiefvater hat er sich nie gut verstanden, und als die Mutter starb und Karl Liedtke nur fünf Monate nach dem Tod der Hermine erneut heiratete, litt er von den drei Brüdern am meisten unter dem Tod der Mutter. Zumal Gerhardt die neue Frau, seine Stiefmutter nicht mochte. Ganz im Gegensatz zu Paul, der sich schnell mit den neuen Familienverhältnissen arrangierte und wie der Stiefvater eine Beamtenlaufbahn einschlug. Dann Karl Liedtke war im heißen Sommer 1939 gestorben. Eine Wunde, die er sich bei einem Sturz während einer Geländeübung zugezogen hatte, hatte sich entzündet. Und selbst die Amputation des Unterschenkels hatte den Mann nicht mehr retten können. Ida, selbst eine überzeugte Nationalsozialistin, die sehr darunter litt, keine eigenen Kinder bekommen zu haben, führte die Familie mit harter Hand, sodass Gerhardt keine andere Möglichkeit sah, der unerträglichen Situation zu entkommen, als zur Wehrmacht zu gehen.
Unter der Woche sehen die Kinder Vati so gut wie nie. Er arbeitet viel und ist häufig unterwegs. In den Ferien dürfen ihn Walter oder Uwe auf seinen Dienstreisen begleiten. Und an den Wochenenden unternimmt die Familie Ausflüge. Zum Beispiel um Kriegskameraden zu besuchen wie einen Landarbeiter namens Karl, der auf einem Bauernhof an der holländischen Grenze lebt und arbeitet. Bevor sie dorthin kommen, machen sie einen Abstecher nach Venlo, um billig Butter und Kaffee einzukaufen. Die Männer gehen dann in den Gasthof, die Frauen führen Frauengespräche, und die Kinder müssen die Zeit mit den vier Töchtern des Bauern verbringen, die sich allerdings nicht leiden können. Wenn Vati autofährt, zieht er seine Autofahrerjacke an, gestrickt mit Wildlederapplikationen. Dazu eine helle Schlägermütze und braune Autofahrerhandschuhe. Manchmal fahren sie aber auch in die Eifel oder ins Bergische Land, wo sie Spaziergänge unternehmen, die Vati Wanderungen nennt. Dann hat er einen Gehstock bei sich, auf dem eine Reihe Plaketten angebracht sind wie man sie in den Andenkenläden der Ausflugsorte kaufen kann.
Wir sehen Gerhardt Liedtke, der gar nicht mehr weiß, dass er eigentlich Roggisch heißt, weil der Stiefvater alle Einträge im Geburts- und Melderegister, die auf diesen Namen lauten, nachträglich hat ändern, ja, sogar neue Geburtsurkunden hat anfertigen lassen, bei einer Schießübung im Gelände. Er trägt einen Helm, an dem Laub befestigt ist, und es sieht aus, als wolle er kontrollieren, ob sein letzter Schuss das Ziel getroffen hat. Das wird kurz vor seiner Versetzung zum Afrikakorps gewesen sein. Da hat sein älterer Bruder in den Anfangstagen des Frankreichfeldzugs bereits die erste Verwundung erlitten und tut nach der Entlassung aus dem Lazarett Dienst auf der Schreibstube in der Etappe.
Nach dem Umzug macht die Familie zum ersten Mal Urlaub in Bayern. Ein Kollege, ein Braumeister aus dem Altmühltal, hat ihnen einen Gasthof empfohlen. Der Sommer ist heiß, der Fluss aber kalt genug, um sich darin zu erfrischen. Abwechselnd unternehmen Vati, Mutti und die drei Kinder Wanderungen in der Umgebung oder machen Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten der Region. Vati trägt am liebsten kurze Hosen und dazu kurzärmlige Hemden sowie geflochtene Sandalen. Eines Morgens erscheint Vati nicht zum Frühstück, und Mutti erklärt, dass es ihm nicht gutgehe, er habe sich wohl den Magen verdorben und wolle im Bett bleiben. Also gehen sie mit Mutti an den Fluss. Sie selbst kann nicht schwimmen, besitzt nicht einmal einen Badeanzug und sitzt den ganzen Vormittag im Schatten auf einer Decke. In diesem Herbst lässt sich Vati erstmals von Professor Dewelag in der Privatklinik am Wald untersuchen. Der rät ihm, zur Schonung des Magens auf schwere und fette Speisen zu verzichten, das Rauchen aufzugeben und auch keine Spirituosen mehr zu konsumieren. Die Arztkosten hat einer der Juniorchefs der Brauerei aus eigener Tasche bezahlt.
Wir sehen einen Wehrmachtssoldaten in Wüstenuniform vor einem Zelt. Er grinst in die Kamera. Die schwarzen Haare sind streng nach hinten gekämmt und mit Pomade befestigt. Man erkennt deutliche Geheimratsecken, untypisch für einen jungen Mann von nicht einmal zwanzig Jahren. Es bleibt das einzige Foto aus seiner Zeit beim Afrikakorps, denn bei seinem ersten Fronteinsatz gerät er mit seiner Einheit in einen Hinterhalt und wird von britischen Truppen gefangen genommen. Er wird später oft und mit Stolz erwähnen, dass er nicht einen einzigen Schuss auf einen feindlichen Soldaten abgegeben hat. Weil die Briten ab 1942 mit der Masse an deutschen Kriegsgefangenen überfordert sind, überstellen sie rund dreitausend Wehrmachtssoldaten direkt aus Nordafrika nach Australien, wo sie auf drei oder vier Gefängnisse im Umkreis von Adelaide verteilt werden. Gerhardt lernt schnell Englisch, durch Gespräche mit dem Wachpersonal und aus den Büchern der Gefängnisbibliothek. 1943 wird Gerhard Liedtke zusammen mit etwa einhundert Kameraden in das Kriegsgefangenenlager bei McLean in Texas überstellt.
Manchmal gehen Vati und Mutti gemeinsam aus. Dann heißt es immer, es gebe eine Eröffnung. Vati ist als Architekt und Bauleiter bei der Brauerei angestellt und zuständig für den Wiederaufbau, die Renovierung und auch den Neubau von Gastwirtschaften. Zwischen 1956 und 1964 wird er für mehr als vierzig solcher Projekt verantwortlich gezeichnet haben. Zwischendurch und später plant und baut er dann das Mietshaus, in deren fünften Etage die Familie einzieht, einen Häuserblock in einem Vorort, das Verwaltungsgebäude der Brauerei und die Halle mit der Flaschenabfüllanlage. Sein Büro befindet sich zunächst in einem wiederaufgebauten Haus neben dem Brauereigelände, später hat er dann einen Raum samt Vorzimmer in der neuen Verwaltung. Weil er aber fast immer auf den Baustellen zu finden ist, nutzt er das Büro eigentlich nur an wenigen Tagen im Monat. Seine Sekretärin heißt Barbara, eine alleinstehende Frau um die Dreißig, von der Mutti immer sagt, sie sehe apart aus.
Wir sehen Gerhardt in einem schwarzen Vorkriegsauto. Er trägt einen Anzug, hat die Seitenscheibe heruntergekurbelt und den Ellenbogen in die Öffnung gelegt. Gerhardt lächelt. Es ist Cockley Cley, einer ländlichen Gemeinde in Norfolk, wohin er Ende 1946 als Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter überstellt wurde. Die Familie, bei der er untergekommen ist, behandelt ihn wie einen Verwandten, und Gerhardt fühlt sich sehr wohl bei den Leuten. Er lernt Autofahren, und allzu schwer wird die Arbeit nicht gewesen sein, die er zu verrichten hat. Von hier aus schreibt er an den Suchdienst des Roten Kreuzes, um seine Stiefmutter und die Brüder zu finden. Er weiß nur, dass Paul wegen seiner Verwundung nach 1941 Deutschland nicht mehr verlassen hat, und vermutet, dass die Stiefmutter mit dem nun neunzehnjährigen Hans vor der Roten Armee nach Westen geflohen ist. Eigentlich will er nur wissen, ob seine Verwandten noch leben und ob es ihnen halbwegs gut geht, denn insgeheim hat er sich vorgenommen, auch nach dem Ende seiner Kriegsgefangenschaft in England zu bleiben.
Vati hat bereits ein uneheliches Kind gemacht. Ungefähr gleichzeitig im Frühjahr 1952 hat er Mutti und deren Cousine Lisbeth geschwängert. Allerdings wird Lisbeths Sohn Michael knapp drei Wochen geboren, bevor Mutti den zweiten Junge zur Welt bringt. Sie weiß, wer Michaels Vater ist, weil Lisbeth ihr brühwarm erzählt hat, dass es Vati war, kaum dass sie sicher wusste schwanger zu sein. Mutti wird Vati den Fehltritt verzeihen, und Vati wird vom Januar 1953 an bis zu seinem Lebensende Unterhaltszahlungen an Lisbeth leisten. Die aber wird vom Rest der Verwandtschaft geschnitten und zieht weg. Im Sommer 1965 bekommt Barbara, Vatis Sekretärin, ein Kind, und alle in der Firma ahnen, wer es ihr gemacht hat. Unmittelbar nach der Geburt verschwinden Mutter und Kind, aber Vati wird auch in diesem Fall die gesetzlich vorgeschriebenen Alimente zahlen.
Wir sehen ein Mädchen mit sehr dunklen Augen und dicken, schwarzen Zöpfen in einem gemusterten Kleid, das unsicher in die Kamera lächelt. Wir sehen dasselbe Mädchen auf der Schulbank. Und dann mit ungefähr zwölf Jahren in einem sommerlich hellen Hänger vor einem Backsteingebäude. Wir finden Fotos von Gerda Holzmann in den Armen ihrer Mutter, einer Masurin mit strengem Mittelscheitel, umgeben von ihren sieben Geschwistern, im Kreise ihrer vier Schwestern vor dem Haus in einer ostpreußischen Kleinstadt, in dem sie groß geworden ist und solche, die sie in BDM-Uniform während der Ausbildung zur Telefonistin in Hildburghausen zeigen. Wir erkennen eine schöne Frau, Nesthäkchen und Nachzüglerin eines ehemaligen Tagelöhners, der nach dem ersten Weltkrieg in den Staatsdienst übernommen wurde und als Hausmeister und Gärtner einer Irrenanstalt arbeitet.
Vati rauchte Ernte 23 und hatte ein typische Art die Zigarette zu halten. Falls möglich, legte er die Hand auf die Tischkante, sodass die Fingerspitzen mit der brennenden Zigarette nach oben zeigten. Später stieg er nach Ermahnungen durch den Arzt auf Zigarren um, die er vor dem Entzünden mit einem glänzenden Werkzeug sorgfältig anschnitt. Während er Zigaretten immer mit einem goldglänzenden Feuerzeug anzündete, benutzte er bei Zigarren immer nur Streichhölzer. In der Wohnzimmerecke stand ein nierenförmiges Tischchen, aus dem eine gebogene Lampe wuchs, daneben zwei Sitzgelegenheiten in blassen Farben, die man Cocktailsessel nannte. Auf dem Tisch standen ein schwerer gläserner Aschenbecher, ein weiterer Aschenbecher, in dem der Zigarrenschneider lagerte und ein bronzefarbener Halter für Zündholzschachtel, der so beschaffen war, dass man ein Streichholz mit einer Hand entnehmen und anreißen konnte. Immer wenn Onkel Paul zu Besuch kam, nahm er dort Platz und rauchte abwechselnd drei HB und dann eine Rothhändle.
Wir sehen Gerda mit ihrer mittlerweile weiß gewordenen Mutter, die aber immer noch ausschließlich schwarze Kleider trägt, vor einer großen Scheune im Sonnenlicht. Der Reichsarbeitsdienst hatte sie nach der Ausbildung nach Minsk versetzt in die zentrale Telefonvermittlung für den Rußlandfeldzug, und sie erzählt später, dass sie sogar zwei- oder dreimal ein Führergespräch vermittelt habe. Und als sie sich durch die Arbeit eine schwere Sehnenscheidenentzündung zugezogen und vom Arzt eine große Flasche mit der passenden Medizin bekommen habe, die sie dann durch ein Stück Brachland zu ihrer Unterkunft tragen musste, da sei ihr ein Einheimischer, also einer aus Weißruthenien, gefolgt und sie habe schreckliche Angst gehabt und sei schneller gegangen, aber ihr Verfolger habe auch beschleunigt und sie schließlich eingeholt und sie habe gedacht, mein Gott, er wird mich vergewaltigen, aber der Kerl stellt sich als ansehnlicher junger Mann heraus, der höflich die Mütze abnimmt und in schlechtem Deutsch fragt, ob er ihr nicht die schwere Flasche abnehmen und für sie tragen soll.
Vati geht auf eigenen Füßen und guter Laune ins Krankenhaus, wo er sich einer Magenoperation unterziehen sollte. Die Klinik liegt nur zwei Häuserblocks von der Brauerei entfernt, in der arbeitet und der gegenüber seine Frau und die Kinder in einem Mietshaus wohnen, das er im Auftrag seiner Firma entworfen und dessen Bau er organisiert hat. Immer öfter hat er auf dem Sofa gelegen und gestöhnt, immer weniger gegessen, und bis zu diesem Frühjahr in seinem dreiundvierzigsten Lebensjahr schon vier oder fünf Kilo abgenommen. Der Schmerz hat sein Gesicht gezeichnet, und es kommt immer seltener vor, dass er einen Witz reißt und dann auf eine Weise grinst, die man schelmisch nennen könnte. Die Ärzte haben ihm Mut gemacht und gesagt, eine gelungene Operation würde dazu führen, dass er wieder vollkommen schmerzfrei leben, dass er wieder alles essen und trinken könne, sogar scharfgewürzte Speisen und die Spirituosen, die er so sehr mag. Mutti dagegen ist sehr besorgt, versucht das aber vor den Kindern zu verbergen.
Wir sehen Ida, die Stiefmutter, vor derselben Scheune bei tiefstehender Sonne, die schwere Schatten der großen Platanen auf die Wände zeichnet. Die Scheune gehört zum großen Hof des Bauern Johannsen bei Langenhorn in Nordfriesland, den man gezwungen hat, vier Familien aufzunehmen, die vor den Russen aus Pommern und Ostpreußen geflüchtet sind. Hier und überall auf dem Land zwischen der dänischen Grenze und Niederbayern werden die Flüchtlinge bei den Bauern untergebracht, weil die Städte zerstört sind. Je reicher ein Bauer ist, sagt man, desto weniger gern nimmt er Flüchtlinge auf. Das gilt besonders für Hinnerk Johannsen, dem das alles überhaupt nicht recht ist und der die Einquartierten deshalb schlecht behandelt und sie ganz gegen das geltende Recht zu schwerer oder schmutziger, aber immer unbezahlter Arbeit zwingt. Außerdem hat er den Menschen aus dem Osten die schlechtesten Behausungen zugewiesen, die der Hof überhaupt zu bieten hat. Im Dorfkrug gehört er zu denen, die immer über die Flüchtlinge schimpfen, die – wie er sagt – ihre Heimat im Stich gelassen hätten, die keine Kultur hätten, dumm und faul seien. Ida als älterer, alleinstehender Frau geht es noch relativ gut, weil sie ein Zimmer für sich allein hat und zudem über einen nicht geringen Schatz an Goldschmuck verfügt, mit dem sie sich Stück für Stück Privilegien erkaufen kann.
Vati übersteht die OP gut. Das sagt jedenfalls der Arzt, und Mutti gibt das so an die Kinder weiter. Auch die Chefs in der Brauerei und die Kollegen erfahren davon, und ab dem zweiten Tag sind nie weniger als ein Dutzend Leute in den Besuchszeiten in seinem Zimmer. Natürlich hat Vati ein Einzelzimmer, dafür haben seine Chefs gesorgt, die bei ihrem ersten Besuch gleich einen Kasten Bier mitgebracht haben. Ein nicht zu kühles Alt, hat der Oberarzt gesagt, wäre für den frisch operierten Magen beinahe so etwas wie eine Medizin. Die Kinder halten es nie lange aus im Krankenzimmer, Vati im Bett liegen zu sehen, das kannten sie nicht. Die Kleinste beginnt nach wenigen Minuten zu weinen, und der Große nimmt die Geschwister bei den Händen und geht mit ihnen vor die Tür.
Wir sehen Gerda und Gerhardt, ebenfalls vor der Scheune des Bauern Johannsen. Der Weg dorthin ist leicht mit Schnee gepudert, ein diffuses Licht malt weiche Schatten. Sie trägt einen altmodischen Mantel mit Pelzkragen, er steht da in seinem dunklen Anzug, aber mit Hut. Sie lächeln sich an. Vermutlich haben sie sich am Heiligabend kennengelernt. Gerhardt hatte von Cockley Cley aus eine Suchanfrage beim Roten Kreuz nach all seinen Verwandten gestellt und erfahren, dass seine Stiefmutter in Holstein untergekommen ist. Paul befand sich laut desselben Bescheids noch in amerikanischer Kriegsgefangenschaft, und Hans, der Jüngste, sei in Hamburg gelandet, Adresse unbekannt.
Natürlich ist Vati nicht als Christ großgeworden. Max Roggisch, der Kommunist, war Atheist aus Überzeugung, und die Stiefmutter als Anhängerin der NSDAP war strikt gegen die Kirche. Auch bei Mutti spielte Religion kaum eine Rolle. Ob ihr Vater zur Kirche ging, ist unbekannt, die Mutter als Angehörige einer ethnischen Minderheit, die auf dem Trakehner Gestüt aufwuchs, zählte zur ersten Generation Masuren, die zu christianisieren sich der Pastor die Mühe machte. Viel ist dabei nicht hängengeblieben. Vati und Mutti pflegen allerdings die Rituale der christlichen Feiertage, aber ohne religiöse Überzeugung. Es gibt einen Weihnachtsbaum und Geschenke und die üblichen Lieder, aber in die Christmette geht die Familie Liedtke nie. In späteren Jahren treibt Vati eine Faszination für Mönche in diverse Klöster, die bei Urlaubsfahrten am Wegesrand lagen – heilige Männer nennt er die Bewohner.
Wir sehen Gerhardt auf einem Gruppenbild im Kreis seiner Gastfamilie im englischen Cockley Cley. Sie stehen vor einer Hecke, die Männer tragen kurzärmlige Hemden, die Frauen sommerliche Kleider. Sein Abschied von den Menschen, die ihn so freundlich aufgenommen hatten, zog sich über Wochen hin – sie wollten ihn, den sie liebgewonnen hatten wie einen eigenen Sohn, nicht gehen lassen, und er war sich nicht sicher, ob er doch besser dableiben und ein Leben als immigrieter Brite beginnen sollte. Diese Möglichkeit hatte man ihm angeboten; seine Gasteltern wollten ihn zu diesem Zwecke adoptieren. Aber kurz nach seinem vierundzwanzigsten Geburtstag im Oktober 1947 sagt er den Menschen, zu denen er als Zwangsarbeiter gekommen war, als guter Freund Goodbye und macht sich auf den Weg nach Norddeutschland. Gleich am ersten Abend auf dem Hof des Bauern Johansen lernt er Gerda kennen. Sie hat an der Zimmertür von Ida geklopft, weil sie um ein wenig Mehl bitten will. Gerhardt öffnet, und von da an ist ihr gemeinsamer Weg vorgezeichnet.
Und dann wird Vati mit dem Krankenwagen abgeholt. Nur wenige Tage nach der Rückkehr aus der Klinik. Die Söhne sind früher aus der Schule gekommen, denn es gibt hitzefrei an diesem schwülen Tag Anfang Juni des Jahres 1967. Aber da ist Mutti mit ihrem Mann schon im Krankenhaus, wo eine Notoperation vorbereitet wird. Frau Merheim, die Nachbarin hat die Brüder empfangen, kurz erklärt, was passiert ist und ihnen und der kleinen Schwester etwas zu Mittag serviert. Dann kehrt Mutti zurück, verzweifelt und erschöpft. Später kommen die Tanten und Onkel, und draußen zieht ein schweres Gewitter auf. Schweigend sitzen die Verwandten und Frau Merheim im Wohnzimmer. Die Kinder wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen. Mutti hatte Brot geschmiert, aber niemand will etwas essen.
Wir sehen ein frisches Grab und eine große Beerdigungsgesellschaft, viele Kränze mit Schleifen, aber keinen Pfarrer. Einer der Chefs der Brauerei hält die Grabrede. Man trägt schwarz, nur Toni, ein Wirt und sehr guter Freund des Verstorbenen, fällt auf in seinem hellen Trenchcoat. Der Redner spricht vom Krieg und von dem, was Gerhard Liedtke erlebt hat. Dass er das Glück hatte, nie einen Schuss auf einen britischen Soldaten abfeuern zu müssen. Davon dass Gerhard sich in Afrika mit Malaria infiziert hat, die nie ganz ausheilte. Dass die wiederkehrenden Anfälle seine Blutgefäße geschwächt hatten, dass der behandelnde Chefarzt gesagt hatte, es hätten sich massive Krampfadern im Magen gebildet, dass man einige davon in einer ersten OP habe veröden können, dass aber schließlich innerhalb kurzer Zeit einige der Gefäße geplatzt seien, dass der Patient innerlich verblutet sei. So, sagte der Chef in seiner Rede, sei Gerhard Liedtke zweiundzwanzig Jahre nach Kriegsende doch noch Opfer des fürchterlichen Regimes und seiner militärischen Aggression geworden.
Vati, der gelernte Maurer findet schnell eine Anstellung bei einer Baufirma in Kiel. Dort wohnte er in einer Baracke und kann sich jeden Samstag mittags mit dem Zug auf den Weg zu seiner Verlobten machen. Die ist nun schwanger von ihm, was den Bauern Johansen dazu bringt, sie und ihre Mutter noch schlechter zu behandeln. Dann kommt ein Bauunternehmer aus Düsseldorf und bietet den Maurern an, sie besser zu entlohnen, wenn sie für ihn arbeiten. Außerdem bekäme jeder Verheiratete eine Wohnung für die Familie im ersten Haus, das nach dem Wiederaufbau bewohnbar wird. Vati zögert keine Sekunde, und so kommen er und Mutti und deren Mutter im Juli 1948 in der Stadt im Rheinland an und werden in ehemaligen Pferdeställen in einem linksrheinischen Stadtteil untergebracht. Zuvor haben Vati und Mutti in Kiel geheiratet, eine Schnelltrauung, wie sie damals möglich ist.
Wir stellen uns vor, wie Mutti, die Kinder, die Tanten und Onkeln da sitzen, nur die Stehlampe am Rauchtisch ist eingeschaltet, kein Radio, kein Fernsehen, niemand spricht. Abweechselnd sitzt ein Erwachsener am Telefon in der Diele. Gegen Mitternacht werden die beiden Jüngsten ins Bett geschickt. Der mittlere Sohn liegt schlaflos im Mansardenzimmer und hätte lieber seinen großen Bruder gefragt, was denn nun mit Vati sei. Das Gewitter ist vorbei gezogen, man konnte Blitze hinterm Horizont sehen und fernes Grollen. Es ist sehr still geworden, und irgendwann schläft der vierzehnjährige Junge ein und träumt von einer Autofahrt mit Vati, der ihn in den Ferien ein paar Mal auf Dienstreisen, zum Beispiel nach München oder Freiburg, mitgenommen hat. Frühmorgens weckt Mutti ihn und sagt nur: Vati ist gestorben. Der Sohn richtet sich im Bett auf und fragt: Muss ich trotzdem zur Schule?