Mit gemischten Gefühlen erinnerte ich mich dieser Tage eines Erlebnisses im vergangenen Sommer, an dem Thibaud entscheidend beteiligt war. Während in der Schweiz und in Österreich die Fußball-Europameisterschaft ausgetragen wurde, waren wir mit dem Auto unterwegs nach Frankfurt, um Freunde zu besuchen und mit ihnen gemeinsam das Spiel der Türken gegen Kroatien anzuschauen. Wir waren in diese eigenartige WG eingeladen, in der sich eine Gruppe von Leuten versammelt hatten, die samt und sonders von Eltern aus den Teilnehmerländern dieser EM stammten. Thibaud, der sonst nicht sehr am Fußball interessiert war und bis dahin keine der Partien gesehen hatte, freute sich auf den Abend. Er sah es als Experiment und redete die ganze Fahrt über davon, welche Nationalitäten wohl eher zu den Kroaten und welche zu den Türken halten würden. Mit fiel die Wahl leicht, ist doch meine Gefährtin Zilly Tochter eines rheinischen Vaters und einer kroatischen Mutter. Außerdem gefiel mir der kroatische Trainer und sein Rocksong zur Meisterschaft. Natürlich war Thibaud unparteiisch. Wir waren auf der A3 unterwegs, das Wetter war schön, aber der Verkehr an diesem späten Freitagnachmittag war ziemlich dicht. Ich war gerade auf die äußerste linke Spur gewechselt, um eine Karawane aus Wohnmobilen zu überholen, da passierte es.
Von hinten rauschte ein dunkler Wagen mit aufgeblendetem Licht heran und fuhr bis auf wenige Meter auf. „Meine Güte, was für ein Arschloch,“ sagte ich, und Thibaud drehte sich um. Als er die Situation erfasst hatte, wurde er wütend und startete eine heftige Hasstirade, die mit übelsten Schimpfwörtern gespickt war. Endlich konnte ich wieder auf die mittlere Spur einbiegen. Ein schwarzer Audi A4, ein Kombi, zog vorbei, scherte knapp vor mit ein und bremste an. Mit blieb kaum Zeit zu reagieren. Der Fahrer, der alleine im Auto saß, gestikulierte wild, gab dann Gas und zog davon. Thibaud wollte sich gar nicht beruhigen: „Diese bepissten Dienstwagenterroristen,“ begann er, „lauter selbstgewisse Mit- oder Enddreißiger, die meinen, sie hätten es geschafft, weil sie so eine Kiste fahren dürfen. Und zuhause haben sie eine Mutti, der sie ihren schrumpeligen Schwanz reinstopfen, wenn ihnen danach ist. Ich hasse diese Sorte, ich hasse sie wirklich!“
Dann staute sich der Verkehr, und der schwarze Audi landete zwei, drei Wagen vor uns in der Schlange. Wenig später nutzte der Fahrer eine Lücke und nahm die ganz rechte Spur. „Folg dem,“ sagte Thibaud, und aus irgendeinem verqueren Grund tat ich, was er wollte. So landeten wir an der Raststätte Heiligenroth. Wir parkten wenige Meter vom Feind entfernt, der ausstieg und zum Rasthaus ging. Wir folgtem ihm. Natürlich hatte er uns nicht erkannt. Da stand er an der Kasse, ein schmächtiger Schnösel in Anzughose und hellblauem Hemd, die Ärmel ein wenig aufgekrempelt, sodass man seine protzige Uhr an der rechten und ein Gliederarmband an der linken Hand sehen konnte. Seine dünnen blonden Haare gaben am Hinterkopf den Blick auf die beginnende Glatze frei. Er trug eine modische Sonnenbrille, die er abnahm und zwischen den Zähnen hielt als er an der Reihe war.
Dann ging er zur Toilette. Thibaud folgte ihm. Nach ein paar Minuten kam er zurück und sagte nur: „Komm, lass uns abhauen.“ Als wir wieder auf der Autobahn waren, fragte ich, was er dem Typen denn auf dem Klo gesagt habe. „Nichts,“ antwortete Thibaud, „ich hab ihn eine Kabine heschoben, die Tür geschlossen und ihm einen Satz Maulschellen verpasst. Der war so verblüfft, dass er gar nicht reagiert hat.“ Leider, gestand er, habe er wohl zu fest zugeschlagen, denn der Schnösel habe sofort Nasenbluten bekommen. Die Suppe sei nur so auf sein schickes Oberhemd getropft. Ehrlich gesagt war ich mit der Aktion nicht einverstanden. Aber Thibaud gab mir gute Gründe, mit denen sich die Gewalt rechtfertigen ließ: „Weißt du, solche Kerle leben im Zustand des hormonellen Vorbewusstseins. Die denken pausenlos an ihren Pimmel und sind sich sicher, dass der ihnen besondere Rechte verleiht. So haben sie es als Kinder zuhause erfahren, später in der Schule, beim Sport, im Freundeskreis; wem was zwischen den Beinen baumelt, der ist stärker. Im Beruf stellten sie fest, dass Schwanz allein nicht reicht. Also entwickeln sie einen verschwurbelten Darwinismus. Sie meinen, Erfolg zu haben. Weil sie es aber nicht genau wissen, brauchen sie sichtbare, handfeste Belege – einen Firmenwagen, zum Beispiel. Haben sie den, fühlen sie sich als Herren der Welt. Sie nehmen sich das Recht des Stärkeren. Und weil sie vom Tod noch nichts wissen, vom Verfall und von der Erfolglosigkeit, den Niederlagen und Demütigungen, werden sie immer größere Arschlöcher. So eine Faust im Gesicht, wahlweise ein Tritt in die Eier oder eben Ohrfeigen können da als Weckruf wirken. Dass sie in dem Augenblick körperlich merken, dass sie sich nicht alles erlauben können. Wenn die Aktion leistet, was sie soll, werden sie danach nie wieder dieselben sein. Vielleicht fangen sie sogar an, andere Menschen zu respektieren.“ Das leuchtete mir ein.
Beim Spiel hielten übrigens alle Nordeuropäer zu den Türken, während die Spanier, Italiener und Griechen in der WG eher die Kroaten anfeuerten. Zwei Freunde kroatischer Herkunft gerieten nach der Niederlage in einen hitzigen Streit mit den türkischstämmigen Zuschauern, bei denen es um das ging, was die Islamisten auf dem Balkan angerichtet hatten. In dieser Auseinandersetzung ergriff dann niemand mehr Partei für die eine oder andere Seite.