Gut im Bett

Schreckliche Tage waren das. Zilly war nun schon seit zweieinhalb Monaten als Projektleiterin in Shanghai, und die meisten Freunde aus unserer Gruppe waren im Urlaub, krank oder einfach verschwunden. Trotzdem machte ich mich jeden Abend auf den Weg zu Paco, der unsere damalige Stammkneipe betrieb. Paco war als Petra geboren und hatte als frischgebackener Mann gleich eine neue Nationalität angenommen. In der Küche wirkte Sven, ihr ehemaliger Gatte, der inzwischen erkannt hatte, dass er schwul war. So konnten die beiden prima als Paar weiterleben, wobei sich Sven die Freiheit nahm, seine Sexualität in vollen Zügen außerhalb dieser Beziehung auszuleben. Paco war das egal, denn er hatte sich auf die asexuelle Seite geschlagen. Davon hatte ich in den zwei Jahren, in denen wir dort Quartier bezogen hatten, nichts gewusst. Aber nun, wo ich oft am frühen Abend der einzige Gast war, erfuhr ich alles über die beiden Gastronomen. Zumal ich mich auch für einen Thekenplatz entschieden hatte. So saß ich Abend für Abend am kurzen Ende des Tresens, von wo aus ich nicht nur die restlichen Plätze mit den Barhockern, sondern gut Zweidrittel des Gastraums übersehen konnte. Und über einen der Spiegel hinter dem Tresen hatte ich einen guten Blick auf den Eingang. Mir entging nichts. Jedenfalls so lange ich nüchtern war.

Dieser Zustand hielt selten länger als bis zehn, halb elf. Dann hatte ich mindestens acht Gin-Tonic intus und erfreute mich einer getrübten Wahrnehmung. Nun war der November jenen Jahres besonders hässlich. Am Zweiten des Monats hatte es begonnen zu regnen, und am Achtzehnten hatte es noch nicht aufgehört. Mal schüttete es wie aus Rohren, dann fielen dicke, vereinzelte Tropfen. Manchmal nieselte es und an den besonders unangenehmen Tagen nässte einen ein feiner Sprühregen von allen Seiten. Gut dass die Temperatur selten unter 10 Grad fiel. Auf den paar Hundert Metern von meinem Appartement zu Pacos sog mein Kleidung soviel Feuchtigkeit auf, dass sie in alle den Wochen nie wieder ganz trocken wurde. In dieser unerfreulichen Gesamtsituation schien mir Alkohol eine ganz gute Lösung zu sein.

Eines Abends setzte sich ein Kerl im grauen Trenchcoat, der einen albernen Hut mit schmaler Krempe ziemlich tiefs ins Gesicht gezogen trug, auf den Hocker gleich schräg gegenüber der Thekenecke. Paco kam vorbei, ein Longdrinkglas mit dem Geschirrtuch polierend, und der Gast gab mit flüsternder Stimme seine Bestellung auf. Wenig später platzierte der Wirt eine Likörflasche und einen Glaskrug Milch samt Glas vor dem Fremden. Der goss sich drei Finger hoch eine gelblichen Flüssigkeit ins Glas und füllte mit Milch auf. Dann schlürfte er eine kleine Menge und gab einen Laut des Wohlbefindens von sich. „Na,“ sagte er plötzlich, „noch nie 43 mit Milch getrunken?“ Und ich erkannte ihn an der Stimme. Thibaud lachte schallend, stand auf und überfiel mich mit einer kräftigen Umarmung. „Mensch,“ rief er, „wie lange haben wir uns nicht gesehen?“ Ich zuckte die Achseln. Paco hatte ein zweites Glas zum Likör 43 gestellt, und Thibaud mixte mir einen Drink dieser merkwürdigen Art. Dann stießen wir an, und nach dem ersten Schluck war mir klar, dass dieser auch der letzte bleiben würde.

Thibaud hatte inzwischen Hut und Mantel abgelegt und leerte das Glas mit einem Zug. „Man sagt,“ begann er, „dass du mit diesem Zeug jede Frau zwischen zwanzig und vierzig ins Bett kriegt. Muss an der Milch liegen.“ Ich hatte noch kein Wort gesagt. Klar, nach so vielen einsamen Abenden war ich ein wenig wortkarg geworden. „Und, was macht Zilly. Seid ihr noch ein Paar?“ Ich nickte. Er hatte sich nachgeschenkt, und Paco hatte auch mir einen neuen Gin-Tonic serviert. „Was ich dich immer schon mal fragen wollte,“ sagte Thibaud, “ ist Zilly eigentlich gut im Bett?“ Bevor ich auch nur zu einer Antwort ansetzen konnte, lachte er wieder schallend. „Schon gut, schon gut, war ein Scherz. Aber einer mit ernsten Hintergrund. Neulich traf ich tatsächlich einen alten Schulfreund. Jörg hieß der und war damals zu Beginn der Siebzigerjahre ein absoluter Mädchenschwarm. Der konnte jede haben. Sah ein bisschen aus wie Barry Ryan, vielleicht ein bisschen weniger feist. Jedenfalls liefen wir uns einfach so über den Weg und kehrten ohne Umstände in dieser Bar am Bahnhof ein, wo es schon nachmittags bei jedem Wetter dunkel ist. Wir hatten uns für Whiskey entschieden und erzählten uns schnell und in Stichworten, was wir so in den knapp vierzig Jahren seit damals getrieben und erlebt hatten. Wider Erwarten war Jörg tatsächlich zum Bonvivant geworden. Hatte mit zwanzig eine reiche Witwe jenseits des Klimakteriums kennengelernt, die ihm einen aufwändigen Lebensstil bis hin zum Rolls Royce Corniche finanzierte. Was mich aber viel mehr interessierte, war die Sache mit Uli, diesem ernsten Mädchen, an die ich immer denken musste, wenn die Sängerin Alexandra im TV zu sehen war. Damals in der Tanzschule war ich haltlos in sie – wie sagte man damals? – verknallt. Ich fantasierte eine gemeinsame Zukunft, eine ewige Liebe, ein gemeinsames Leben als Weltenbummler, mit dem VW Bully nach Indien, sie würde Zwillinge bekommen, die wir on the road großziehen würden.“

Er hatte beim Reden noch ein großes Glas mit der Likör-Milch-Mischung konsumiert, hielt jetzt inne und starrte in den Spiegel an der Wand hinter der Theke. „Um ehrlich zu sein: Ich habe Uli nie auch nur ein einziges Mal angesprochen. Mir schien es völlig ausgeschlossen, dass sich dieses wunderbare Mädchen auch nur einen Hauch für mich interessieren könnte. Klar dass sie auf Jörg stand, denn alle Mädchen standen auf Jörg. Es gab dann mal eine dieser Feten, die der Tanzschulenbesitzer als Freund der Jugend zu veranstalten pflegte. Ich legte als einer von zwei Jungs die Platten auf und beobachtete das Treiben. Und dann trafen sie auf einander, diese beiden attraktiven jungen Menschen. Es war nicht zu übersehen, dass es dabei zum Funkenschlag kam. Tatsächlich verschwand erst Uli in Richtung Garderobe im Untergeschoss, und Jörg folgte ihr nur ein paar Minuten später, da unten gab es zwei Ecken, die mit schweren Vorhängen abgeteilt waren. Dahinter trafen sich die Pärchen zum Knutschen und zum Petting – so nannte man das Fummeln damals. Jedenfalls war das der Tag, ab dem Uli und Jörg miteinander gingen. Wir waren damals alle so um die siebzehn, der Duft der sexuellen Befreiung wehte schon, und jeder war furchtbar scharf darauf, endlich zum ersten Mal zu bumsen.“ Thibaud winkte Paco herbei und bestellte ein Bier.

„Daran musste ich die ganze Zeit denken als ich mit Jörg in der Bar hockte und wir nach und nach immer betrunkener wurden. Irgendwann platzte es aus mir heraus: Wie war Uli eigentlich im Bett? Jörg verzog das Gesicht, nickte und sagte bloß: Gut. Wenig später waren eh keine vernünftigen Dialoge mehr möglich. Dann bekamen wir keine weiteren Whiskeys mehr, zahlten und verließen das Etablissement. Schon an der nächste Ecke verloren wir uns aus den Augen. Ich erwachte einen halben Tag später auf meinem Sofa, ohne zu wissen wie ich dort hin gekommen war. Aber noch Tage spukte mir die Frage durch die Kopf: War Uli gut im Bett? Und dann dachte ich darüber nach, was diese Frage beziehungsweise eine Antwort darauf eigentlich bedeutet. Mir wurde klar, dass es bis zu den ersten Stunden des Feminismus eine wohl fast rein männliche Frage war. Gut war eine Frau aus damaliger männlicher Sicht im Bett, wenn sie Praktiken ausübte, die Männer sich wünschten, die aber Frauen mehrheitlich nicht gern praktizierten, Anal- und Oralverkehr zum Beispiel. Mit der beginnenden sexuellen Emanzipation der Frauen begannen sich dann auch diese darüber auszutauschen, ob ein Typ gut im Bett war. Damit war dann aber gemeint, ob der Sexualpartner so weit auf die Bedürfnisse und Wünsche der Frau im Bett eingehen konnte, dass diese rundum befriedigt war. Und diese unterschiedliche Sichweise auf die Gut-im-Bett-Frage illustriert – so meine Erkenntnis in jenen Tagen – ganz hervorragend den Unterschied zwischen weiblicher und männlicher Sexualität.“

Er nickte vor sich hin und studierte den Bierschaum. Ich dachte eine Weile nach. Dann sagte ich: „Zilly sagt immer, ich sei der beste Liebhaber, den sie sich vorstellen kann. Finde, das ist eine viel schönere Formulierung als wenn sie sagen würde: Du bist gut im Bett.“ Und in diesem Moment vermisste ich sie so sehr, dass mir eine Träne aus dem Augenwinkel direkt in den Gin-Tonic vor mir auf der Theke tropfte.

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