Herr Schilling und Jullie

Sich selbst hält Herr Schilling für ganz normal. Aus seiner Sicht führt er ein normales Leben, hat einen normalen Beruf, normale Hobbys, eine normale Familie und so weiter. Eine Vorstellung davon, was andere Leute von ihm halten, hat er nicht. Auch kann er nichts damit anfangen, wenn ihn jemand gelegentlich Spießer nennt oder Langweiler. Ihm hat der Ausdruck Otto Normalverbraucher immer gut gefallen. Wobei ihm nie ganz klargeworden ist, was das Normale mit dem Verbrauchen zu tun hat. Eigentlich führt Herr Schilling so lange er denken kann ein normales Leben und ist sehr zufrieden damit. Inzwischen hat er eine Frau, zwei Kinder, einen Passat als Dienstwagen und ein Eigenheim. An Umstände, über die sich andere vielleicht beklagen würden, hat er sich gewöhnt.

Er hat nach der Mittleren Reife eine Ausbildung zum Großhandelskaufmann in einem örtlichen Unternehmen, das mit Kacheln, Fliesen und derlei handelt, absolviert. Man hat ihn übernommen, und seit gut fünfzehn Jahren ist er im Außendienst tätig. Sein Verkaufsgebiet umfasst das Emsland, den Westen des Landes Nordrhein-Westfalen, den deutschsprachigen Teil Belgiens und die grenznahen Regionen der Niederlande. Üblicherweise reist er zwei Wochen am Stück, hat dann zehn Tage Innendienst und anschließend sechs Tage frei. Früher durfte er nur in Pensionen und Landgasthöfen übernachten, dann waren auch Motels und Häuser ein Billigkette zugelassen. Mittlerweile kann er sich das Hotel frei aussuchen, so lange der Preis für eine Übernachtung eine gewisse Höhe nicht überschreitet. Natürlich könnte er die Differenz zwischen diesem Limit und dem tatsächlichen Preis aus eigener Tasche ausgleichen, aber das sieht er gar nicht ein. Nicht dass er geizig wäre, aber er hält lieber sein Geld zusammen. Man weiß ja nie, sagt er, wann man es wirklich nötig braucht.

So fährt er von Baumarkt zu Baumarkt, von Baustoffhandlung zu Baustoffhandlung und nimmt die Bestellungen entgegen. Überzeugen muss er seine Kunden nie. Nur manchmal nötigt ihn der Verkaufsleiter, neue Kollektionen anzupreisen. Er hasst es, anderen Menschen irgendetwas schmackhaft machen zu müssen. Zumal ihn Fliesen und Kacheln nicht interessieren. Er ist fit in technischen Daten, aber über Farben und Muster kann er nicht stundenlang philosophieren wie sein junger Kollege Özgür. Ihm kommt zugute, dass er es auf Kundenseite hauptsächlich mit gestandenen Männern zu tun hat, die ähnlich lang im Geschäft sind wie er.

Über seine Kinder weiß er wenig. Er vermutet, dass die Tochter kurz vor dem Abitur steht und dass der Sohn, der etwas jünger ist, lieber nach der zehnten Klasse abgehen will. Das sind Themen, um die sich seine Frau kümmert, die nett ist und lieb und zum Glück sehr wortkarg. Sie streiten nie, tauschen sich aber auch kaum über Dinge aus, die der jeweils andere erlebt hat. Höchstens im Urlaub, wenn sie bei einer guten Flasche Wein und schönem Wetter vor dem Vorzelt sitzen, reden sie freundlich miteinander.

Herr Schilling mag Niederländer. Nicht nur, weil sie seine Neigung zum Camping teilen, sondern wegen ihrer bodenständigen Art. Dass sie nie auffallen wollen und zu einem gleichförmigen Leben neigen. Jedenfalls nimmt er das an, denn alle Niederländer, die er kennt, sind ungefähr so. Er selbst ist praktisch im Wohnwagen großgeworden, weil seine Eltern schon in den frühen Sechzigern den ersten Camper kauften, ihn an den Familien-Opel hängten und mit ihm und seinem jüngeren Bruder ans Meer fuhren. Immer auf denselben Platz hinter den Dünen bei B., nicht nur in den Sommerferien, sondern auch Ostern und über Weihnachten. Und weil die Familie so oft in Holland war, hatte er Grundkenntnisse der niederländischen Sprache erworben, die letztlich der Grund für den Zuschnitt seines Verkaufsgebiets waren.

Tatsächlich stellten zwei eher altmodische Baustoffhandlungen in Hengelo und Almelo seine Lieblingskunden dar. In beiden Fällen hatte er zunächst mit dem jeweiligen Seniorchef zu verhandeln bevor dann im einen Fall die Tochter, beim anderen der Schwiegersohn das Geschäft übernahmen. Vor gut zehn Jahren hatte er ein wunderbares Hotel auf dem Land entdeckt, etwa auf halber Strecke zwischen den beiden Städten, aber auch geeignet als Ausgangspunkt für seine Besuche bei Kunden in Westfriesland, Overijssel, Drenthe und auch Gelderland. Obwohl eindeutig zur Luxusklasse zählend, waren die Zimmer bezahlbar und so komfortabel wie er es sonst nirgendwo zu diesem Preis gefunden hatte.

***

Es ist Sommer. Seine erste Reise nach dem Jahresurlaub. Herr Schilling ist froh, wieder unterwegs zu sein. Er liebt seine Familie, aber kann sie nur über einen gewissen Zeitraum hinweg ertragen. Natürlich ist er im Swarte Ruijter eingekehrt, hat sich sogar das große Menü geleistet und es draußen unter den Linden eingenommen. Nur drei andere der acht Tische sind besetzt. An einem sitzt eine größere Gruppe Leute verschiedenen Geschlechts im Alter zwischen etwa fünfunddreißig und fünfzig, die viel lachen und laut reden. Hinten hat sich ein älteres Paar niedergelassen, das beim Essen schweigt. Und am dritten Tisch sitzt eine junge Frau ganz allein. Herr Schilling kann sie gut beobachten. Sie dürfte kaum dreißig Jahre alt sein, ist ausgesprochen hübsch und schwarzhaarig. Anscheinend hat sie das Dinner schon beendet, sitzt aber noch vor dem Digestif und einem Kaffee.

Sie trägt ein dünnes, geblümtes Kleid, die Frisur hochgesteckt, über der hohen Stirn die Sonnenbrille im Haar. Ab und an blickt sie auf das Smartphone, dass neben dem Cognac-Schwenker liegt. Dann nimmt sie es hoch, liest sehr aufmerksam und tippt eine Antwort. Dann entspannt sich ihr Gesicht, sie lächelt und legt das Mobiltelefon wieder weg. Herr Schilling ist beim Dessert angelangt, während die Kellnerin die junge Frau nach ihren Wünschen fragt. Sie spricht und deutet mit dem Kinn in Richtung von Herrn Schillings Tisch. Nach einer Weile kommt die Bedienung aus dem Haus, zwei Gläser auf dem Tablett, tritt an seinen Tisch und sagt: Die Dame möchte sie einladen, zu ihr an den Tisch zu kommen und mit ihr einen Drink zu nehmen.

Natürlich hat Herr Schilling keinerlei Erfahrung darin, mit einer Frau zu flirten. Seine Gattin ist ihm mit Mitte Zwanzig zugefallen, er hatte nicht um sie werben müssen. Nach einem Fest, bei dem sie beide zu viel getrunken hatten, waren sie im Bett gelandet. Und als sie sich nach zwei Tagen noch mochten, wurden sie ein Paar. Rein professionell, so sagt man ihm nach, geht er sehr gut mit weiblichen Kunden um. Kollegen behaupten sogar, er sei bei den Damen besonders beliebt. Aber er selbst kann das nicht beurteilen. Genauso wenig wie er überprüfen kann, ob er gut aussieht. Das behaupten Kolleginnen gelegentlich bei Firmenfesten und sagen, er ähnele Matt Damon, sei der jungenhafte Typ. Tatsächlich hat er keine Mühe, auch ohne Sport das Gewicht zu halten. Er kleidet sich einfach, aber sorgfältig und pflegt sich über das Maß hinaus, das ihm sein Job vorgibt. Aber noch nie hat eine Frau ihn aufgefordert, sich zu ihr zu setzen.

Die Luft ist lau, das Essen war hervorragend, er fühlt sich vom Urlaub ausgeruht und ein wenig wagemutig. Also geht er hinüber, deutet eine Verbeugung an und sagt: Goede avond. Prettig met Uw kennis te maken. Sie lächelt ihn an: Lieber auf Deutsch. Und hält ihm die Hand hin, als erwarte sie einen Handkuss. Darf ich Platz nehmen? Natürlich, sagt sie mit einem Akzent, den er nicht zuordnen kann, deshalb habe ich Sie ja eingeladen. Die Kellnerin serviert den Brandy. Sie prosten sich zu. Schilling, mein Name, stellt er sich vor. Angenehm, gibt sie zurück, ich heiße Jullie. Ein ungewöhnlicher Nachname, merkt er an. Ist der Vorname, sagt sie und lacht leise. Sie trinken und schweigen ein bisschen. Herr Schilling ist von sich selbst überrascht, wie souverän der die Situation meistert. Er kommt sich sehr weltmännisch vor, wie ein weitgereister Mann, der es gewohnt ist, von Damen eingeladen zu werden. Er beschließt, nicht über das Wetter zu plaudern, sondern fragt: Zum ersten Mal hier? Sie nickt: Und vermutlich zum letzten Mal. Ich mag Holland nicht besonders. Jedenfalls nicht auf Anhieb. War vorher noch nie in den Niederlanden. Und Sie?

Herr Schilling berichtet in knappen Worten von seiner Berufstätigkeit, flicht ab und an einen kleinen Scherz, wie er das bei Kunden auch oft tut, und gesteht dann seine Vorliebe für Land und Leute. Sie hört aufmerksam zu und stellt zwei, drei Zwischenfragen. Es ist kühl geworden im Garten. Gehen wir rein? fragt sie, an die Bar? Auf ein Bier? Er hat nicht das Gefühl, er könne jetzt noch absagen. Außerdem hat Jullie ihn neugierig gemacht. Er will mehr von ihr wissen. Also schlendern sie ins Haupthaus in die Bar, um diese Zeit noch menschenleer. Einen Cocktail, Wein oder Bier? fragt er. Sie entscheidet sich für das Bier, und er bestellt. Was treibt sie in diese Gegend? Sie schaut ihn an, lächelt dann und schüttelt leicht den Kopf: beruflich. Und was machen Sie so beruflich? Das wüssten sie zu gern, Herr Schilling, sagt sie. Ja, antwortet er, das wüsste ich gern.

Sie haben einen Platz am hinteren Ende des Tresens gefunden, mit freiem Blick auf den Eingang, sitzen auf Barhockern. Sie ist sehr schön, denkt Herr Schilling. Aber älter als ich dachte. Hast du auch einen Vornamen? fragt sie ohne ihm zu antworten. Den wüsstest du zu gern, antwortet er und setzt ein freches Grinsen auf. Pass auf, Herr Schilling, ich bin im Escort-Business. Ich weiß nicht, ob du weißt, was das ist. Du scheinst mir so naiv, dass ich nicht sicher bin, dass du das kennst. Ich bin hier gestrandet, nachdem mich ein Kunde gelinkt hat. Glatt verarscht. Hatte mich für fünf Tage gebucht, hierher gebracht, zwei Nächte mit mir, und dann hat er sich verpisst. Ich lass das Essen und Trinken auf ihn anschreiben. Hoffe das geht ohne Ärger ab. Natürlich weiß er, was eine Escort-Dame ist. Er hält das für eine besonders teure Version einer Prostituierten. Ich weiß, was du denkst, Herr Schilling. Dass ich nur eine teure Nutte bin. Ist aber falsch. Ich begleite Herren auf Reisen, die es nicht aushalten, allein zu sein, allein im Auto zu fahren, allein im Bett zu liegen. Dafür bezahlen die mich, dass sie nicht mehr allein sind. Nicht fürs Vögeln. Ich schlafe nur mit Kunden, wenn sie es unbedingt wollen und extra bezahlen. Wenn ich mir vorstellen kann, auch sonst mit so einem eine Affäre zu haben, lass ich mich ficken.

Es ist dieses Wort, dass dafür sorgt, dass er Jullie nicht mehr besonders sympathisch findet. Es ist ein Wort, das er hasst. Er findet es gemein, ja, gewalttätig, und er hat keine Vorstellung davon, dass Sex etwas mit Gewalt zu tun haben könnte. So wie er überhaupt nur wenig Ahnung davon, was Sex ist und sein kann. Er möchte das Gespräch auf andere Themen lenken. Weißt du, das jullie im Niederländischen ein persönliches Fürwort ist? Was? Na, so etwas wie im Deutschen Ich, Du, Er, Sie, Es, Wir, Ihr, Sie… Es bedeutet Ihr, also zweite Person Singular. Sie sieht in verständnislos an. Also, wenn du dich mit dem Namen einem Holländer vorstellst, wird der vielleicht grinsen. Das ist mein Name, also eine Form meines Namens. Wie heißt du denn richtig? Jolanthe, sagt sie, ich bin getauft auf den Namen Jolanthe. Eigentlich Jolanta, weil ich ja aus Polen komme. Aber die Familie meiner Mutter ist deutsch, und sie besteht darauf, dass ich Jolanthe heiße. Weil so aber sonst nur Kühe heißen, nenne ich mich Jullie. Verstehst du? Er nickt langsam und denkt nach. Auch sie schweigt und schaut dabei dem Schaum auf dem Bier zu wie er zusammenfällt.

Nach dem dritten schweigenden Bier wendet sie sich ihm zu und fragt: Wie lange bist du noch hier? Herr Schilling antwortet: Noch drei Nächte. Und dann? Weiter nach Belgien. Nimmst du mich mit? Als Escort-Dame, aber kostenlos. Und ohne Ficken. Okay? Wieder dieses unschöne Wort. Er trinkt und fragt erst dann: Warum? Jullie antwortet schnell: Weil du dann nicht einsam bist und ich dann nicht einsam bin. Weil wir dann abends zusammen essen können und danach ein Bier trinken. Ohne Verpflichtung. Einfach so, weil wir uns mögen. Wie kommt sie darauf, dass ich sie mag, denkt er. Oder magst du mich nicht, Herr Schilling? Er wartet einen Moment zu lange bevor er sagt: Doch, doch. Findest du mich wenigstens schön? Er nickt und versucht ein Lächeln. Dann ist ja alles klar, sagt Jullie, steht auf, küsst ihn auf die Wange und verlässt die Bar.

***

Erst am nächsten Tag – sie ist abgereist, das hat der Rezeptionist ihm berichtet – fallen ihm Dutzende Fragen ein, die er ihr gern gestellt hätte. Auf der Fahrt nach Drochten denkt er darüber nach, ob sie ihn hat anmachen wollen oder ob sie ihn nur als potenziellen Kunden betrachtet hat. Vielleicht hätten sie Freunde werden können, wobei sich Herr Schilling nicht sicher ist, ob ein Mann und eine Frau überhaupt Freunde sein können. Er selbst hat keine Freundinnen, und seine Frau würde er niemals als Freundin betrachten. Bestenfalls als Gefährtin. Also als die Person, mit der gemeinsam ein Mann sein Leben oder Teile davon leben kann, ohne Erwartungen erfüllen zu müssen. In diesem Fall könnte Jullie eine gute Reisegefährtin sein, denn er hat sich gern mit ihr unterhalten, aber auch gern geschwiegen. Natürlich findet er sie hübsch, also attraktiv, reizvoll, ja, sexy. Und Herr Schilling merkt, dass es an dieser Stelle gefährlich wird, dass sein normales Leben bedroht ist. Schon allein durch diese Gedanken.

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