Kalifornien

„Ich bin jetzt nach Kalifornien umgezogen,“ schrieb Thibaud. Er hatte den Brief an Lucio’s adressiert, und wir fanden ihn an einem Freitagabend dort vor. Lucio gab Olivia den Umschlag mit der Bemerkung, den habe jemand abgegeben. Sie öffnete das Kuvert und begann, vorzulesen. Schon nach dem ersten Satz waren wir überrascht, denn niemand hätte sich vorstellen können, dass Thibaud, der die USA immer gemieden hatte, an die Westküste umsiedeln würde. Eine starke Hassliebe verband ihn mit Amerika, und er hatte es immer das Land unserer Besatzer genannt, die in unserem Land seien, um uns umzuerziehen, damit wir als Konsumenten für ihre Waren funktionieren. Auch sprach er oft von Kulturimperialismus, wenn sich einer von uns begeistert über einen Song der US-Musikindustrie oder einen Hollyvood-Film äußerte. Andererseits wusste er zu berichten, dass sein Vater, der den größten Teil der Kriegsgefangenschaft in Oklahoma verbracht hatte, immer von dem weiten, schönen Land und den netten Menschen geschwärmt hatte. Und trotzdem, das hatte Thibaud oft betont, waren die USA immer noch das Sklavenhalterland, immer noch der Ursprung allen kapitalistischen Übels.

Und wenn er die Popkultur erwähnte, dann betonte er immer, dass die Rockmusik auf der Musik der Sklaven beruht und von den weißen Herren zu Profitzwecken ausgebeutet wurde und wird. So habe er in den sechziger Jahren die britische Rockmusik gemocht, viel mehr aber noch den Soul, also die von den Afroamerikanern selbst gemachte und vermarktete Musik. Und unter den Tausenden Filmen der amerikanischen Unterhaltungsindustrie vielen ihm kaum zwei Dutzend ein, die er als sehenswerte Kunstwerke stehen ließ. Und ausgerechnet dieser Thibaud war jetzt als nach Kalifornien gezogen. Jedenfalls ging das aus seinem Brief hervor:

„Natürlich werdet ihr mich fragen, warum ich nun in den USA leben werde. Der unmittelbare Grund ist Deborah. Ich habe sie in Nizza kennen gelernt. Wir haben uns ineinander verliebt, und mir kommt es vor, als habe ich jetzt endlich die Frau meines Lebens gefunden. Ihr geht es ähnlich. Deborah ist Weltbürgerin. Hat schon mehrere Jahre in Europa und Asien gelebt und fühlt sich an vielen Plätzen wohl. Gleichzeitig ist sie aber, und das streicht sie oft heraus, eine echte Kalifornierin. Sie ist in Monterey geboren und aufgewachsen, und schon ihre Mutter und ihre Großmutter stammen von dort. In den Tagen an der Cote d’Azur hat sie stundenlang von Kalifornien erzählt, die Schönheit der Gegend beschrieben und vor allem, wie nah an der Natur man dort leben kann. Deborah ist in jeder Hinsicht ein Naturkind. Als ich sie zum ersten Mal sah, musste ich lachen, denn sie sieht so aus, wie man sich eine bodenständige California-Hippie-Braut vorstellt: Braungebrannt, mit sonnengebleichtem Haar, ungeschminkt und immer praktisch angezogen. Aber ich will nicht nur von Deborah schwärmen.

Immer wieder hatte sie erkärt, dass jetzt, da sie vierzig geworden war, der Zeitpunkt gekommen sei, das Herumreisen aufzugeben und sich für den Rest des Lebens anzusiedeln. ‚To settle down finally“ nannte sie das. Sie habe in den Jahren entdeckt, dass sie etwas habe wie eine Heimat, einen Ort, wo sie hingehöre. Und das sei Carmel. Und vor kurzem habe sie erfahren, dass ihr Großvater väterlicherseits ihr ein Haus am Strand vermacht habe, in dem er selbst sechzig Jahre seines Lebens verbracht hat. Nun käme er nicht mehr allein klar und ginge in eine Seniorenresidenz. Dieses Haus, so Deborah, solle ihre Heimat werden. Und ob ich nicht einfach mitkommen wolle. Ich hielt ihr einen langen Vortrag über meine Haltung zu Politik und Kultur der USA und wie kritisch ich dem gegenüber eingestellt sei. Sie hörte sich das mit einem milden Lächeln an. Als ich fertig war, sagte sie nur: ‚You’ve got no home. And you need one. Let me be your home.‘ Ich weinte.

Und dann überlegte ich ein paar Tage lang. Ich will nicht verhehlen, dass ich mir vor lauter Verliebtheit die Sache schön redete. Dass ich dann am westlichen Ende der Welt leben würde. Vor mir Tausende Meilen Pazifik. Dass Kalifornien anders sei als der Rest der USA. Dass wir ja weit ab von den fürchterlichen Städten wären. Und dass da, wo wir sein würden, ein friedliches Leben möglich sei. Als Deborah abreiste, versprach ich ihr, nachzukommen. Ich erledigte ein paar Dinge und flog am 27. Oktober nach San Francisco, nahm einen Mietwagen und fuhr nach Carmel-By-the-Sea. Einen schöneren Ort habe ich nie gesehen, und Deborahs Haus liegt ganz am Ende des Strandes auf einer Anhöhe, sodass wir jeden Abend den Sonnuntergang von der Terrasse aus sehen können.

Ich bin nicht sicher, ob mich Amerika mit seinem ganzen Dreck und der Gewalt nicht doch einholen wird. Mir ist klar, dass ich hier nur so lange werde leben können, wie die Liebe zu Deborah hält. Aber ich habe gute Hoffnung.“

Keiner sagte ein Wort, den jeder von uns hatte Bilder im Kopf, kalifornische Klischees, in denen wir Thibaud sahen, wie er mit einer starken, schönen Frau barfuß am Meeresrand entlang ging.

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