Komm, süße Depression

„Trauer ist ein Tier mit braunem Fell und großen Kinderaugen, das an meinem Brustbein aufwärts kriecht und mir dann direkt ins Gesicht starrt. Das rührt mich zu Tränen.“ Thibaud stand auf und ging ein paar Schritte hin und her. „Vermutlich nennt ihr den Zustand, wenn das Tier namens Trauer kommt, Depression. Im Rheinischen sagt man von einem, der deprimiert ist: Er hat dar ärme Dier.“ Er hatte sein Glas Wein vom Tresen geholt und sich wieder hingesetzt. Zilly fand, er sähe erholt aus, entspannt und auf unbestimmte Weise klar und sicher. „Die Menschen verstehen immer weniger, je mehr an fundierter Information ihnen zur Verfügung steht. Sie wollen lieber auf ihren Bauch hören. Und um jeden Preis fröhlich sein. Nur Idioten sind immer gut drauf. Kluge Menschen brauchen Depressionen. Und nutzen sie.“

Hanshubert hatte sich vorgebeugt. Ihn schien das Thema zu interessieren, obwohl er genau einer von jenen war, die ständig und penetrant gute Laune versprühten. Über ihn hatte Thibaud einmal gesagt, so könne nur einer sein, der Substanzen zu sich nimmt. „Da steckt ja das Wort ‚Druck‘ drin, ‚Pressure‘. Und die Vorsilbe ‚de‘ zeigt an, dass sich ein Zustand in sein Gegenteil verkehrt. So betrachtet bedeutet eine Depression, dass der Druck nachlässt, der auf einem lastet. Ich kann das bestätigen.“ Die meisten von uns wussten, wovon Thibaud sprach, auch Hanshubert. Noch wenige Wochen zuvor hatten Zilly und ich lange mit Clemens über diese Gefühl geredet, dass einem alles zu viel wird, dass all die Ansprüche und Pflichten, die auf einem lasten, beginnen den Atem abzuschnüren. Als säße man in einer Druckkammer. Andere nennen es Stress, aber das ist nicht dasselbe. „Stress leitet sich ab vom lateinischen ’stringere‘,“ hatte Clemens erklärt, „das bedeutet ‚anspannen‘.“

Genau darauf wollte Thibaud hinaus, dass eine Depression hilft, den Druck abzubauen. die Kanäle frei zu spülen, um sich wieder fähig zu fühlen, am Leben anderer Menschen teilzunehmen. Stress ist dagegen zu nichts nütze. „Wenn das Tier namens Trauer kommt, dann setze ich mich hin und lasse es an mir hochkrabbeln. Ja, manchmal streiche ich ihm sanft übers Fell und sage: ‚Schön dass du da bist‘. Dann beginnt auch das Tier an zu weinen. Genau wie ich. Wir seufzen tief und synchron. Und wenn wir alle Tränen los sind, kriecht die Trauer zurück in seine Höhle. Ich habe dann wieder Hoffnung, stehe auf, strecke mich, reiße die Augen auf und lass den Blick über die Welt schweifen.“

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