Bist du jüdisch? fragt Hamza. Die Gruppe hat sich vor dem Ferienheim aufgebaut. Hinten stehen die Großen, davor die Kleineren, fünf Kinder liegen im Gras. Dazu die Fahrräder. Manuela ist die dritte von links in der mittleren Reihe. Und wenn? antwortet sie. Na, sagt Hamza, dann bist du ein schlechter Mensch, weil alle Jüdischen schlechte Menschen sind. Der Fotograf ruft: Jetzt alle mal Spaghettisoße sagen! Die Teilnehmer an der Radtour lächeln oder grinsen oder auch nicht, nur Manuela und Hamza gucken nicht in die Kamera.
Sagt wer? hakt sie nach. Sagt mein Bruder. Manuela sieht ihn an: Der freitags immer mit ner Häkelmütze und Hosen mit Hochwasser rumläuft? Dann geht Amir in die Moschee. Der ist ein gläubiger Muslim, weißt du. Und der hat gesagt, dass die Juden seit vielen Jahren versuchen, die Muslime in der ganzen Welt auszurotten. Sie schüttelt den Kopf: Schwachsinn. Da löst sich die Gruppe auf. Jeder nimmt sein Fahrrad. Der Gruppenleiter gibt das Zeichen, und sie radeln los.
Antisemitismus, hat der Onkel gesagt, der Papas bester Freund ist, dürfte die dümmste Form dieser ganzen irrationalen Angst vor dem Fremden sein. Gleichzeitig die älteste. Und altmodischste, hat Papa hinzugefügt und dabei gelacht. Sag mal, Mama, woran erkennen die anderen eigentlich, dass wir jüdisch sind? Wir sind doch nicht dunkelbraun wie Afrikaner, wir tragen keine Hijab wie die muslimische Frauen, manche von uns haben schwarze Haare, manche sind blond, und Hannah Sternberg ist sogar rothaarig. Wir sprechen deutsch wie die anderen, wir wohnen wir die anderen, wir leben doch gar nicht so anders, dass man es sehen könnte. Wir feiern bloß andere Feste, und Papa und du, ihr geht am Sabat in die Synagoge und nicht am Freitag in die Moschee oder sonntags in die Kirche. Die Mutter legte den Kochlöffel beiseite, wischte sich die Hände an der Schürze ab und sagte: Sie wissen es einfach. Sie haben es immer gewusst.
Ein Sommertag wie gemalt. Der Asphaltweg führt zwischen Feldern, auf denen das Korn hoch steht, hindurch. Dann wieder kommt die Fahrradgruppe durch ein Waldstück, und schließlich machen sie Pause an einem Weiher mit einem von Schilf bestandenen Ufer. Die Älteren finden sich zusammen auf einer Lichtung ein paar Meter entfernt vom Wasser, die Jüngeren toben auf dem kleinen Stück Strand und im See herum. Manuela taucht Hamza unter, der nicht schwimmen kann. Prustend kommt der Junge hoch. Sie lässt von ihm ab, weil sie sieht, wie sauer er ist. Später hocken sie nebeneinander auf einem gestürzten Baumstamm. Sie haben sich mit Proviant versorgt und trinken Fanta aus Dosen. Dürft ihr alles essen? fragt Hamza. Ja, antwortet Manuela, alles, was Mami kocht. Und ihr? Er kaut an einem belegten Brötchen. Wir dürfen alles essen, was rein ist – halal heißt das. Und, hakt Manuela nach, ist das Brötchen halal? Hamza klappt es auf, schaut nach und sagt: Glaub schon…
Die große Schwester hat Papa und Mama mal etwas gefragt, und Manuela hat genau zugehört. Warum heiratn Juden eigentlich immer Juden? Sie saßen auf der Terrasse beim Abendessen, und der Vater nahm noch einen Schluck Bier bevor er antwortete. Kann man so nicht sagen. Vor der schrecklichen Zeit in Deutschland und der Shoa haben viele Nichtjuden Juden geheiratet. Und umgekehrt. Und dann fing das an, dass man nachmessen musste, zu welchem Anteil einer Jude war. Ich, sagt Mama, bin nach dieser Rechung eine Vierteljüdin, weil nur meine Großmutter mütterlicherseits jüdisch war. Manuela fragt dazwischen: Gibt es auch Viertelkatholiken? Nein, sagt Papa, bei den anderen Religionen fragt keiner danach.
Je länger sie nebeneinander her radeln und dabei ab und zu miteinander reden, desto netter findet Manuela den Jungen. Der ist gleichzeitig witzig und ernsthaft, denkt sie. Bei der nächsten Pause fragt sie: Wirst du eine muslimische Frau heiraten? Keine Ahnung, sagt Hamza, ich werde die Frau heiraten, die mir gefällt. Und wenn dein Bruder sagt, du musst eine muslimische Frau heiraten? Mein Bruder kann mich mal. Wenn, dann hat mein Vater zu bestimmen, und dem geht diese ganze Islam-Show von Amir ziemlich auf die Nerven. Stell dir mal vor, sagt Manuela, wir wären erwachsen. Würdest du mich dann heiraten, obwohl ich jüdisch bin. Der Junge lacht kurz, dreht sich um und geht zu den anderen.
Die Hochzeitsgesellschaft bildet den Vordergrund. Unter der Chuppa stehen die Braut in einem klassischen Hochzeitsgewand mit Schleier und der Bräutigam im weißen Mantel. Der Rabbiner steht im Hintergrund und liest. Die Verlobung und den Ringetausch haben sie schon hinter sich, das Vermählungsritual hat gerade begonnen. Der Bräutigam hat sein Kopf gesenkt, sodass man die reich bestickte, weiße Kippa mit dem hellblauen Muster erkennen kann. Jemand hat ihm den Gebetsschal umgelegt. Später sitzen alle im Kreis an den gedeckten Tischen, und dann spielt die Band auf, und jeder tanzt mit jedem: die Alten mit den Jungen, Kinder mit Erwachsenen, Frauen untereinander und natürlich das Brautpaar.
Die Tour ist zuende, die Gruppe wieder am Ferienheim angekommen. Jemand hat den Grill vorbereitet, und nun gibt es Bratwurst und Kartoffelsalat. Ein größerer Junge, der Manuela und Hamza schon eine Weile beobachtet und vielleicht auch mitgehört hat, setzt sich den beiden gegenüber an den Tisch unter der großen Linde. Die Juden, sagt er plötzlich, sind Blutsauger, die interessieren sich nur für Geld. Die nehmen die Deutschen aus wie Weihnachtsgänse. Und euch Türken auch. Überhaupt alle anderen Völker auf der Welt. Das weiß man doch. Alle Bankbesitzer sind Juden. Die meisten Häuser und Grundstücke gehören Juden. Die Mieten steigen immer mehr, weil die Juden den Hals nicht voll kriegen. Man muss sie vertreiben. Oder… Er macht eine Geste. Manuela starrt den Kerl lange an. Dann sagt sie: Komisch, meinem Papa gehört kein Haus, kein Grundstück, und Banker ist er auch nicht. Er ist Beamter bei einer Behörde. Du lügst, keift der Junge, Juden lügen immer und immer, außer wenn sie untereinander sind. Und setzt an, Manuela eine Ohrfeige zu geben. Hamza ist schneller auf der anderen Seite des Tisches als man gucken kann. Nimmt den Typ in den Schwitzkasten und reibt ihm mit den Fingerknöcheln den Schädel.
Das Bild zeigt die ganze Gruppe rund um ein großes Feuer. Zwei Jugendliche spielen Gitarre. Man sieht Manuela und Hamza von hinten, sie sitzen sehr dicht zusammen. Glaubst du an euren Gott, fragt der Junge. Sie denkt lange nach: Keine Ahnung. Manchmal bin ich sicher, dass Jehova da ist, manchmal kann ich mir so etwas wie einen Gott überhaupt nicht vorstellen. Wahrscheinlich ist Religion was für Leute, die dumm sind oder die sonst nichts haben. Und du? Hamza richtet sich auf und sagt: Klar glaub ich an Allah. Aber ich glaub auch, dass die meisten Muslime überhaupt keine Ahnung haben, was Allah überhaupt ist. Die wollen immer nur Befehle geben, die angeblich von Allah und seinem Propheten Mohammed stammen.
Fünf Jahre später radelt Manuela durch den Park zur Uni. Am Zubringer sieht sie einen jungen Manna auf seinem Fahrrad, der auf Grün wartet. Auf die Entfernung kommt er ihr bekannt vor. Sie bleibt stehen. Er überquert die Straße, und sie ruft: Hamza, bist du das? Nach der Tour mit der Jugendgruppe sind sie sich nie wieder begegnet. Er hält an und lächelt: Hey, Manuela, lange nicht gesehen. Na, immer noch jüdisch? Klar, sagt sie und strahlt ihn an, und du, immer noch muslimisch. Mehr oder weniger, also, eher weniger. Wollen wir mal einen Kaffee zusammen trinken? Gern, antwortet sie.