Nicht länger als

Auf dem Boden liegen. Atmen. Die Arme neben dem Körper, die Handflächen nach oben. Auf einem Teppich. Träumen. Nie länger als eine halbe Stunde. Langsamer Übergang in eine sitzende Position. Mit den Händen über das Gesicht streichen. Die Gerüche wahrnehmen. Sich erinnern. Alles, was du bist, bist du seit gestern. [Lesezeit ca. 5 min]

Du gehst in deine Routine über. Kochst Kaffee. Machst Milch warm. Eine Schale, drei Stück Zucker. Die Küche aufräumen. Die Tiere füttern. Das Gemüse für die Mahlzeit ernten. Dabei langsam durch den Garten schreiten. Nicht nachdenken, welche Vögel gerade singen. Den lauwarmen Milchkaffee trinken draußen auf der Veranda. Den kommenden Regen riechen. Keine Bewegung zu viel. Über nichts nachdenken, keine Pläne. Dein alter Freund kommt. Zusammen Kaffee trinken. Schweigsam sein. Zusammen nach den Wolken sehen. Nicht über das Wetter reden. Nicht darüber reden, wie es euch geht. Den Wein holen und zwei Gläser. Ihm wortlos ein Glas anbieten. Nie länger als eine Stunde mit ihm zusammen sein.

Mit den Hunden in den Wald gehen. Einen umgestürzten Baum sehen, der gestern noch stand. Wie das Sonnenlicht durch die Blätter auf den weichen Boden fällt. Bis zum See. Kein Mensch, kein Boot. Fisch springen. Der Rüde geht ins Wasser und schaut hinaus. Im Gebüsch wachsen weiße Bovisten. Essbare Pilze in der Nähe finden. Abschneiden und mitnehmen. Der Bauer hat Milch und Sahne ans Tor gestellt. Käse im geölten Papier und zwölf frische Eier. Der Regen ist mild und fällt senkrecht in gleichmäßigen Tropfen, denn der Wind hat sich gelegt. Die Regenrinne reparieren und Holz für den Kamin in die Hütte holen. Es ist Zeit für den Schlaf zur Mittagszeit. Nie länger als eine Stunde.

Du warst lange draußen. Bis zum Felsen und zurück. Zwei Briefe liegen auf der Schwelle. Leg sie zu den anderen. Du heizt den Herd an und bereitest das Abendessen vor. Möhren bleiben ungeschält. Die Suppe sanft köcheln lassen. Zwischendurch wieder auf dem Teppich liegen. Die Arme neben dem Körper, die Handflächen nach oben. Die Hündin legt sich dazu. Sie atmet schneller als du. Vor dem Essen wäschst du dich an der Pumpe. Frische Radspuren in der Auffahrt. Dann ein Glas Wein. Brot vom Vortag, in der Glut geröstet. Langsam die Mahlzeit genießen. Dann ein Lied singen. Vor der Tür eine Zigarette rauchen. Regen setzt ein. Du setzt dich auf die Bank am Kamin und nimmst das Buch zur Hand. Nie mehr als zehn Seiten lesen.

Nebliger Morgen. Du lässt die Hunde raus und machst Wasser heiß. Trägst es eimerweise zum Bottich. Nimmst ein Bad vor dem ersten Kaffee. Dann die Gartenarbeit. Später kommt dein alter Freund vorbei. Er wirkt bedrückt und so, als wolle er etwas erzählen, als habe er ein Problem, als ginge es ihm nicht gut, als suche er Rat oder Trost. Du lässt ihn reden, nickst ab und zu. Holst den Schnaps und die Gläser. Der Freund redet lange und wiederholt sich dabei, seine Geschichte dreht Kreise und Spiralen, sodass du irgendwann nicht mehr zuhörst und nicht merkst, dass er aufgehört hat. Er wartet darauf, dass du etwas sagst, aber dir fällt nichts ein. Du machst ein paar vage Handbewegungen und brummst. Ihr trinkt ohne euch zuzuprosten. Dann verabschiedet er sich, setzt sich aufs Rad und fährt davon. Du versuchst dich zu erinnern, warum ihr Freunde seid. Nie länger als drei Minuten über die Vergangenheit nachdenken.

In der Nacht kommt ein schwerer Traum. Menschen sterben, Gebäude stürzen ein. Und du bist derjenigen, der alle begraben und die Häuser wiederaufbauen soll. Eine Botin hat dir einen Umschlag gebracht, und darin ist der Auftrag. Sie sieht aus wie die Frau, die du geliebt hast. Erinnerung ist Qual. Du wachst nass von Tränen auf und legst dich auf den Boden, die Arme neben dem Körper, die Handflächen nach oben. Die Hunde träumen immer, wenn sie schlafen. Der Rüde jault leise oder fiept, und es hört sich verzweifelt an. Die Hündin rennt im Schlaf, ihre Augen und Ohren zucken, die Hinterläufe bewegen sich schnell. Du beschließt, nie mehr länger als vier Stunden zu schlafen.

Im November kommt der Winter. Du hast ausreichend Holz geschlagen, genug Kartoffeln eingelagert, Obst und Gemüse eingemacht und Fleisch gedörrt, damit die Hunde etwas zum Fressen haben, wenn die Jagd nicht mehr möglich ist. Der Bauer wird nur noch alle zwei Wochen kommen, und dein Freund hat sich schon im Oktober verabschiedet, denn er bleibt nie über den Winter im Wald. Bei seinem letzten Besuch hat er dir Zigaretten, Wein und Schnaps mitgebracht. Du hast dich bedankt. Der erste Schnee kommt langsam, einzelne dürre Flocken, dann dichter und schneller, und am Morgen liegt eine weiße Decke über dem Garten. Die Hunde toben im Schnee. Zeit, einen letzten Kontrollgang zu machen und festzustellen, was noch rechtzeitig winterfest gemacht werden muss. Der Winter dauert hier nie länger vier Monate.

Fast alle Briefe sind von ihr. Jeden Abend öffnest du einen und liest ihn. Danach legst du dich auf den Boden. In den Tagträumen ist sie immer jung, so wie sie mit dreißig war. Mehr als hundert Briefe hat sie dir über die Jahre geschrieben, aber du hast nie geantwortet. Was sollst du ihr auch schreiben? Dass dein Leben hier im Wald gut ist? Dass es dir gut ist? Will sie Antworten auf ihre Fragen? Die doch alle eine Vergangenheit betreffen, die du mit allen Mitteln verdrängst, die du bei der Gartenarbeit vergräbst und beim Schwimmen im See ertränkst. Sie berichtet in jedem Brief detailliert, wie es ihr geht, was sie tut, was sie erlebt. Es interessiert dich nicht. Es würde auch nichts an dem ändern, was geschehen ist. Sie ist hartnäckig und schreibt dir, obwohl sie nicht einmal weiß, ob du noch lebst. Nicht länger darüber nachdenken.

Kurz nach Weihnachten verschwindet die Hündin. Sie ist morgens mit dem Rüden wie jeden Tag in den Wald gelaufen und kam nicht mit ihm zurück. Am nächsten Morgen folgst du ihren Spuren. Bis zum See. Pfotenabdrücke auf dem feinen Schnee auf dem Eis. Du weißt, dass es dich nicht tragen wird und schickst den Rüden. Der geht nur ein paar Schritte hinaus und kehrt dann zurück. Vermutlich ist sie eingebrochen und ertrunken. Über Tag betrinkst du dich. Als der Bauer kommt, öffnest du nicht. Später wirfst du ihre Briefe ins Feuer. Nach zwei Nächte und einem Tag bist du wieder so weit, mit dem Rüden auf die Jagd zu gehen. Ihr bringt zwei Feldhasen zur Strecke. Nie wieder trauern, nie wieder.

Es ist April, und dein alter Freund ist noch nicht wieder da gewesen. Am zweiten Mai machst du dich mit dem Hund auf den Weg einmal rund um den See zu seiner Hütte. Nach dem Schnee kam der Regen, und die Wege sind aus Schlamm. Vier Stunden brauchst du bis ans Ufer. Ihr legt eine Pause ein. Das Wasser ist ein Spiegel, denn es ist völlig windstill. Du bemerkst, dass die große Buche an der Bucht fehlt, vermutlich unter der Schneelast umgestürzt. Tee aus der Thermoskanne für dich, eine Handvoll Dörrfleisch für den Rüden. Am frühen Nachmittag trefft ihr am Haus des Freundes ein. Du rufst nach ihm, du klopfst an die Fenster und Türen und du suchst ihn im Garten. Es scheint, als sei er nach dem Winter nicht wieder zurückgekehrt. Du hinterlässt einen Zettel mit einer Botschaft und machst dich auf den Rückweg. Du musst dich dazu zwingen, nicht darüber nachzudenken, weshalb der Freund nicht da ist. Nicht ungeduldig werden, nie länger als ein paar Minuten darüber nachdenken.

Wildschweine sind über den Rüden hergefallen und haben ihn schwer verletzt. Getragen hast du ihn, zwei, drei Stunden aus dem Revier jenseits des Felsens. Er hat viel Blut verloren, aber offensichtlich hat die Bache ihm keine Knochen gebrochen. Du versorgst seine Wunden, der Hund wimmert und legt sich in die dunkle Nische. Du bringst ihm Wasser und zwingst ihn zu trinken. Du fütterst ihn mit dem Löffel. Er schaut dir dabei direkt in die Augen und du erkennst, dass er Angst hat. In der Nacht schaust du jede Stunde nach ihm. Gegen sechs Uhr stirbt er in den deinen Armen. Du schreist vor Schmerz und Wut und verfluchst den Schöpfer. Dann legst du dich auf den Teppich, die Arme neben dem Körper, die Handflächen nach oben. Du erkennst, dass es keinen Trost gibt in dieser Welt. Und dass du nicht länger in der Hütte im Wald bleiben kannst.

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