Nichts davon (2)

Haben Sie überhaupt noch gesungen damals? Bea schüttelte den Kopf: Ich habe die Musik einfach beerdigt. So wie Gerd. Und weil ich keinen Beruf gelernt habe, fand ich nur einen Job als Kassiererin im Supermarkt. Meine Eltern waren inzwischen tot, meine große Schwester nach Neuseeland ausgewandert, zu alten Freunden hatte ich keinen Kontakt, und neue Freunde gab es nicht. Ich lebte allein in einer Anderthalbzimmerwohnung. Ohne Mann, ohne Kind, ohne Hund oder Katze. Mein Chef und die Kolleginnen wussten, dass ich mal ein erfolgreiche Schlagersängerin war, machten aber zum Glück kein Aufhebens davon. Es ging mir nicht schlecht, aber auch nicht gut. Wie Regine mich ausfindig machen konnte, weiß ich bis heute nicht. Man hatte sie beauftragt, mich zu finden, weil ich immer noch Inhaberin aller Rechte an der Aufnahme meines Songs war. Das war irgendwann im Sommer 1984. Da gab es diese Popmusiker aus England, die waren durch Zufall auf ein erstes Album gestoßen und wollten einen Remix von „Nichts davon“ aufnehmen und dazu die von mir eingespielte Gesangsspur verwenden. Da musste ich sie enttäuschen, Peter K. war auch schon tot, sein Studio danach pleite gegangen, die ursprünglichen Bänder verschollen. Das teilte ich Regine mit, die es weitergab. Aber nach kaum einer Woche rief sie an und sagte: Die Jungs fragen, ob du nicht Lust hast, das Lied noch einmal aufzunehmen, zusammen mit ihnen. Den Rest dürften Sie kennen.

Aber Karl kannte den Rest nicht im mindesten. In Sachen Musik erwies er sich als Purist, der sein Leben lang ausschließlich Jazzmusik gehört hatte und über die populäre Musik nicht im Geringsten Bescheid wusste. Also musste im Bea auch davon erzählen, wie die mit viel elektronischem Schnickschnack produzierte Version von „All of me“ mit ihrem Gesang zu einem weltweiten Hit wurde, dass auf der B-Seite der Single sogar die deutsche Version veröffentlicht worden war, die es in Japan bis auf Platz 2 schaffte. Wie plötzlich gigantische Summen an Tantiemen flossen, dass sie Regine als Agentin engagierte und die sie wieder auf Tournee schickte, vor allem in Clubs, in denen junge Leute feierten und tanzten. Wie sie in die Talkshows geriet, wie die talentierte Ilka eine Doku über sie schuf, die Preise gewann, und wie Wim Wenders anfragen ließ, ob sie etwas dagegen habe, dass er einen Spielfilm über ihr Leben drehte. Drei Jahre lang trat sie praktisch rund um die Uhr auf. Dann brach sie zusammen. Und begann wieder zu trinken. Landete in der Klinik. Erneut geriet sie in Vergessenheit, und erst die große Nostalgiewelle rund um den Schlager holte sie zurück auf die Bühne.

Es stellte sich in dieser Nacht heraus, dass Karl inoffizieller Mitarbeiter des Animationsteams war, engagiert quasi als Gigolo, als Tanzpartner für alleinreisende, ältere Damen. Mangels alleinreisender, älterer Damen hatte ihn seine Vorgesetzte dem Ausflugsteam zugeteilt, und er musste die Bustouren über die jeweiligen Inseln begleiten. Aber, rief sie nach dem vierten Gin-Tonic aus, dann müssen meine Jungs mehr Tanzmusik spielen! Dann muss es einen Tanztee geben oder einen Abend der Standardtänze, und Sie moderieren. Hatte Bea mehrere Stunden gebraucht, von sich zu erzählen, fasste Karl sein Leben in kaum zwanzig kurzen Sätzen zusammen. Seine Familie habe sehr ärmlich gelebt in einem Nebengebäude des Schlosses, dass dem Adelsgeschlecht einmal gehört hatte. Der Vater sei Gärtner gewesen und habe im Park gearbeitet. Er selbst habe kein Interesse an der Schule gehabt und sei nach der zehnten Klasse abgegangen. Habe eine Lehre als Großhandelskaufmann überlebt und sei dann auf Reisen gegangen, die ihn überall hin auf dem ganzen Erdball gebracht hätten. Mit den Fremdsprachen habe es einigermaßen geklappt, und so habe er in den verschiedensten Weltgegenden arbeiten können. Auf Bali habe ihm so um 1985 herum ein anderer Typ aus Deutschland die Teilhaberschaft angeboten, und so sei er Mitinhaber eines Exportgeschäfts geworden, das balinesischen Kram containerweise nach Deutschland gebracht habe. Dann sei sein Kompagnon irgendwann mit dem ganze Geld abgehauen, und er habe sich etwas anderes suchen müssen. Über die Jahre habe er verschiedene Firmen gehabt, in Venezuela, in Südafrika, auf Madeira und Malta, ja, auch in Israel und Syrien. Aber, so drückte Karl es aus, das Glück habe ihm nie so richtig gelacht.

Nie verheiratet gewesen? Keine Kinder? fragte Bea. Er schüttelte den Kopf und sagte: nie sesshaft genug. Nun sei er dreiundsechzig und schlage sich seit über zehn Jahren mit den merkwürdigsten Jobs durch und wenn es eben als Gigolo auf einem Kreuzfahrer sei, schloss er seinen Bericht ab. Karl war vermutlich das, was an einen schönen Mann nennt, aber überhaupt nicht ihr Typ, ein hagerer Mann von gut einsachtzig, leicht gebeugt, der auf eine gewisse Art schlaff und kraftlos wirkte. Melancholische Augen von ungewissem Grün in einem länglichen Gesicht mit leicht nach unten weisenden Mundwinkeln und einem grauen Schnurrbart darüber. Ihr gefiel, dass er das war, was man eine gepflegte Erscheinung nennt, dass er eine natürliche Eleganz ausstrahlte und sich mit großer Sicherheit zu bewegen wusste. Als sie sich mit ihm zum ersten Mal beim Tanz im Spiegel sah, befand sie, dass sie beide ein gutes Paar ergäben. Ihr war klar, dass sie mit ihm würde schlafen müssen, sollte eine Beziehung entstehen. Und obwohl sie jedes Interesse an Sex verloren hatte, ging sie auf seine routinierten Verführungskünste ein, und sie verbrachte eine eher zärtliche als leidenschaftliche Nacht in ihrer Kabine. Nach dem Ende der Reise blieben sie zusammen. Es wird für uns beide reichen, sagte Bea, und nahm Karl bei sich auf. Wenn sie nicht auf Tournee waren, machte er sich im Haushalt nützlich, kaufte ein, kaufte und organisierte die gemeinsame Freizeit. Schließlich ließ sie vermelden, dass sie den Mann ihres Lebens gefunden habe, und ein Jahr später heirateten sie.

Bea hat sich auf Offenbach gefreut. In der Stadthalle ist sie schon oft aufgetreten, und jeder Auftritt war ein großer Erfolg. Sie sind spät angekommen. Um vor der ersten Probe mit der Bigband im Hotel einzuchecken, reicht die Zeit nicht. Also erscheint sie pünktlich auf der Bühne, allerdings so leger gekleidet wie sie es während der langen Autofahrten mit Kurt gern hat. Über alten Jeans trägt sie einen unförmigen Kapuzenpulli. Die Haare sind nicht gerichtet, und geschminkt ist sie kaum. Sie meint, erstaunte Blicke beim Team und den Musikern festzustellen, weil sie von denen kaum je einer so gesehen hat. Die Setlist steht natürlich schon seit Beginn der Tour, also geht es mehr um einen Soundcheck als um eine Probe. Die Instrumente sind gestimmt, und sie macht einen kleinen Mikrofontest. Vom Pult aus wird gerade mit dem Licht experimentiert. Und weil es Juni ist und das Wetter so schön, beginnt sie mit ihrer Version von „Summertime“, die sie von der großen Inge Brandenburg abgeschaut hat. Die Band fängt an, der Pianist hat seinen Einsatz. Jetzt singt sie zum ersten Mal das Wort, dass dem Lied seinen Titel gegeben hat. Irgendwo über hört sie einen Knall, und dann trifft sie der Scheinwerfer auch schon an der rechten Schulter.

Die Musik bricht ab. Irgendwer schreit entsetzt auf. Dann ruft jemand nach einem Arzt. Bea liegt hinter dem Mikro. Sie spürt den Schmerz, ist aber bei Bewusstsein. Karl ist auf die Bühne gekommen. Immer mehr Menschen um sie herum. Nicht bewegen, brüllt eine Stimme. Stabile Seitenlage, eine andere. Dann ist der Notarzt da. Man bringt sie in die Notaufnahme im Ketteler Krankenhaus. Nach den Untersuchungen und dem Röntgen steht fest: nichts gebrochen, aber eine tiefe Fleischwunde von der Schulter abwärts quer über den Rücken bis zur Hüfte. Die Verletzung wird versorgt, und man bringt sie mit dem KTW in die Unfallklinik Frankfurt, wo sie drei Tage zur Beobachtung bleibt. Karl ist immer an ihrer Seite und übernachtet in ihrem Zimmer. Natürlich sagt Regine die Tournee ab.

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