Es ist einige Jahre her, da bat mich Thibaud, ihn zu einem Kongress in Wien zu begleiten, wo er einen wichtigen Vortrag zu halten hatte. Es war ihm recht, die Strecke in zwei Tagen mit dem Auto zu bewältigen, und so reisten wir mit meinem flammneuen Saab Cabrio Richtung Süden. Das Wetter war gut, der Verkehr relativ dünn. Wir übernachteten außerhalb von Nürnberg und fuhren am frühen Morgen wieder los. Man hatte in Wien Zimmer im Hotel Herrenhof für uns reserviert, und am späten Nachmittag trafen wir ein. Wir bezogen die Zimmer und beschlossen, die innere Stadt zu Fuß zu erkunden. Später aßen wir eine Kleinigkeit in einem böhmischen Restaurant. Schließlich wollten wir den Abend in einer Bar ausklingen lassen und fanden uns eher zufällig im Planter’s Club wieder. An einem der Tresen suchten wir uns ein ruhiges Plätzchen und bestellten Mojitos. Wir redeten wenig und beobachteten das Treiben. Eine junge Frau im unauffälligen Business-Kostüm kam vorbei und setzte sich in unserer Nähe an die Bar. Der Bartender verwechselte eine Bestellung, sodass sie einen Mojito bekam und ich einen Gin-Tonic. So lernten wir uns kennen.
Sie stellte sich als Karin vor, eröffnete aber kein Gespräch. Nicht nur ihre Kleidung war dazu angetan, sie als unscheinbar zu bezeichnen. Sie war mittelgroß, mittelschlank und trug eine dieser mittellangen Frisuren wie sie in den Büros der Finanzbrache üblich sind. Ich hätte sie für eine Beraterin auf mittlerer Karriereebene gehalten. Thibaud erzählte ungefragt, was uns nach Wien verschlagen hatte. Dann fragte er: „Und, was machen Sie beruflich?“ Karin sah auf und sagte knapp: „Auftragskiller.“ Thibaud grinste breit: „Ja, schon klar, und ich bin ihr derzeitiges Ziel.“ Sie schüttelte den Kopf. „So richtig Profikiller?“ fragte ich, „wie in ‚Nikita‘ oder ‚Leon, der Profi‘?“ Sie rückte ein Stück näher: „Ja, genau. Das Tolle ist, das kann man jedem x-beliebigen Fremden einfach so erzählen, weil’s eh keiner glaubt.“ Vom Äußeren her hätte ich sie für eine Deutsche oder Österreicherin gehalten, aber ihr Akzent war ziemlich eindeutig skandinavisch, dänisch, um genau zu sein. Thibaud lachte auf: „Klasse Story. Ich liebe es, wenn sich Leute, die sich nie wieder begegnen werden, an einer Bar Lügengeschichten erzählen.“ Karin leerte ihr Glas und blickte ihn mit hartem Blick an: „Es ist die Wahrheit. Ich kann euch das sagen, weil ich momentan ohne Auftrag bin, ihr also meine Aktivitäten nicht stören könnt, und weil ihr natürlich überhaupt nichts unternehmen könnt, solltet ihr den Gedanken haben, die Behörden zu informieren.“
Ich begann Karins Erklärung für wahr zu halten. Auch wenn es mir komisch vorkam, hatte ich den Impuls, sie zu ihrer Tätigkeit so zu befragen, wie ich das bei einem Vertriebsmitarbeiter oder einer Ingenieurin getan hätte. Bevor ich mich entscheiden konnte, legte Thibaud schon los: „Ja, und wie lange übst du diesen Beruf schon aus?“ Karin hob ihre Hände und zeigte die Anzahl der Jahre mit acht Fingern an. „Oh,“ sagte Thibaud, „dann hast du aber früh angefangen…“ Ich hätte sie auf Ende Zwanzig geschätzt, aber ihre generelle Unauffälligkeit ließ mich zweifeln, ob sie nicht schon viel älter war. „Ich nehm das als Kompliment,“ antwortete sie, „aber tatsächlich habe ich erst mit einunddreißig angefangen. Aus der Not heraus, sozusagen.“ Und dann begann sie, nur unterbrochen vom Bestellen neuer Drinks, ihre Lebensgeschichte zu erzählen.
Die begann mit einer behüteten Kindheit auf der dänischen – da hatte ich richtig gelegen – Insel Bornholm. Einer Reise als Teenager nach Frankreich, wo sie einen älteren Deutschen kennen lernte, den sie ein Jahr später mit zwanzig heiratete. Ihre Jahre in einem Kaff in Niedersachsen als Hausfrau und Mutter von zwei Kindern. Einer hässlichen Scheidung, in deren Verlauf sie das Sorgerecht verlor. Dem Versuch, als Escort-Girl in Hannover Geld zu verdienen. Dann trat einer aus der Biker-Szene in ihr Leben, der von nichts lebte, aber gern große Reisen unternahm. Der stiftete sie an, ihren Ex-Gatten umzulegen, um an das Erbe der Kinder zu kommen. Wie das misslang und sie in U-Haft kam.
„Und dann bekam ich eines Tages Besuch im Knast. Zwei Herren stellten sich als Beamte des BND vor und machten mir ein Angebot. Es lief auf eine neue Identität hinaus und auf meinen Einsatz in der Bekämpfung des organisierten Verbrechens auf europäischer Ebene. Ich sagte zu und nahm an einer fünfzehnmonatigen Ausbildungsmaßnahme teil. Immer war ich dabei allein mit dem jeweiligen Trainer, und die Lektionen fanden an ständig wechselnden Orten statt. Man sprach wenig mit mir. Eines Tages übergab mir der aktuelle Ausbilder einen Pass, Bank- und Kreditkarten, jede Menge Zeugnisse und ein Mobiltelefon. Er wies mich an, nach Frankfurt zu gehen, mir dort eine Wohnung zu mieten, einen Job zu suchen und auf den ersten Anruf zu warten. Das tat ich dann auch.“ Karin saß da mit dem Gesicht dicht über dem tropischen Holz der Theke und sprach wie zu sich selbst.
„Vor fünf Jahren kam der erste Anruf. Man nannte mir einen toten Briefkasten, mehr nicht. Ich fand dort einen Umschlag mit den detaillierten Angaben zum Auftrag. Ich erschoss die Zielperson nachts auf einem Autobahnparkplatz, wo man ihn hingelockt hatte. Warum er getötet werden sollte, weiß ich nicht. Danach war wieder für zwei Jahre Ruhe.“
Wir hörten gebannt zu. Immer noch hatte ich den Verdacht, bei Karin handele es sich eher um eine Schriftstellerin oder vielleicht eine begnadete Neurotikerin. Aber was sie erzählte, hörte sich völlig schlüssig an. Als sie dann von einem Attentat berichtete, an dem sie beteiligt war, und dabei Details nannte, die nicht in den Medien verbreitet worden waren, verflog meine Skepsis und ich nahm zur Kenntnis, dass ich an jenem Abend tatsächlich einen Profikiller kennen gelernt hatte.