Das Skurrile an der folgenden Geschichte ist, dass kein lebendes Wesen sie jemals wird lesen können. Denn während ich diesen Text schreibe, bin ich schon tot. Und recht eigentlich schreibe ich die Wörter und Sätze auch nicht. Ich denke sie. Das ist auch das Einzige, was uns Toten übrig bleibt, nachdem wir den Körper losgeworden sind. Zu Lebzeiten habe ich nie an einen Gott, an irgendein höheres Wesen oder eine höhere Mächte geglaubt. Alles Religiöse, Spirituelle und Esoterische war mir zuwider. Jetzt nach meinem Tod weiß ich, dass ich damit richtig lag. Bis auf eine Ausnahme vielleicht: Ja, es gibt die Seele. Jeder Mensch, jedes Tier, beinahe jedes Lebewesen hat sie, und alle möglichen biologischen Formen von außerhalb unseres Sonnensystem auch. Und diese Seele ist unsterblich, also ewig.
Man muss sich das einmal vorstellen: Die Seelen aller jemals gelebt habender Wesen existieren weiter und weiter. Ein Forscher hat errechnet, dass bisher gut 75 Milliarden Menschen gestorben sind. Dazu kommen die Seelen aller Wirbeltiere und einiger anderer Spezies. Diese Mengen sind schwer unterzubringen, vermutlich wäre das uns bekannte Universum zu klein dafür. Keine Sorge, die Seelen existieren in einer eigenen, unendlich großen Sphäre, die ich einmal die zwölfte Dimension nennen möchte. Da schweben sie herum, friedlich, zeitlos und ja, glücklich.
Bevor ich weiter vom Leben der Seelen berichte, möchte ich aber von meinem Tod erzählen. Der fand an einem angenehm warmen Sommertag statt. Es war Ferienzeit, die Stadt ziemlich leer, und ich spazierte durch mein Viertel, um etwas zu erledigen; ich weiß nicht mehr, was es war. Vorher kehrte ich im Stammcafé ein, nahm zwei Croissants und einen Milchkaffee, saß damit auf der Bank vorm Fenster und sah den Leuten zu. Manche schlenderten entspannt die Straße entlang, andere hatten es eilig, und die Autos, die Roller und die Fahrräder schoben sich in gleichmäßigen Abständen an mir vorbei. Zu dem Zeitpunkt war ich bereits ein halbes Jahr im Ruhestand, und nachdem ich anfangs Angst davor hatte, mich zu langweilen, war es mir überraschend schnell gelungen, mich in einem Leben ohne Druck und Stress und feste Termine einzurichten.
Mir ging es gut. Zumal mir im Frühjahr Monika über den Weg gelaufen war, eine Mitschülerin aus den Tagen der Grundschule, in die ich mit zwanzig, einundzwanzig heftig, aber unglücklich verliebt war. Wir hatten uns gut fünfzehn Jahre nicht mehr gesehen, obwohl sie auch in der Stadt wohnte. Nun war sie Witwe, so wie ich seit dem Tod Erikas drei Jahre zuvor Witwer war. Immer noch fand ich Monika attraktiv. Weil sie einsam war, schloss sie sich mir an, und wir besuchten gemeinsam Ausstellungen und Konzerte und gingen alsbald einmal die Woche zusammen zu einem gepflegten Abendessen ins Restaurant. Dass wir eines Nachts nach einem fröhlichen Abend in meiner Stammkneipe, an dem viel Alkohol konsumiert wurde, in ihrer Wohnung in ihrem Bett landen und Sex haben würden, damit hatte ich nicht gerechnet. Wir wurden also ein Paar, und kurz vor dem Tag meines Todes hatten wir beschlossen, eine gemeinsame Wohnung zu suchen, um spätestens im Herbst zusammen zu ziehen.
Gleich nach Pensionierung hatte ich, der neun Jahre vorher das Rauchen von einem auf den anderen tag aufgegeben hatte, wieder begonnen Zigaretten zu paffen – gegen den ausdrücklichen Rat meiner Ärztin, die mir hohen Blutdruck attestiert und eine Schwäche der Blutgefäße prophezeit hatte. Es war eine Entscheidung für den Geschmack, für das bittere Aroma des schwarzen Tabaks meiner Lieblingsmarke, von der ich früher mindestens eine Schachtel pro Tag geraucht hatte. Nun war ich bei zwei, drei, selten vier Kippen am Tag, und vertrat die Ansicht, das bisschen Nikotin und Teer könne mir altem Mann nicht mehr schaden. Ich hatte die Hörnchen verzehrt und den Kaffee beinahe geleert und zündete mir eine dieser herrlichen Zigaretten an. Ich genoss es, den Rauchschwaden nachzuschauen. Wie immer rührte sich mein Darm nachdem ich die Kippe ausgedrückt hatte. Ich ging ins Cafè und dort zur Toilette. Irgendetwas stimmte nicht. Mir schien es, als ob ich schräg gehen würde, als ob meine linke Schulter tiefer hinge als die rechte. Ich hörte ein Summen im linken Ohr und merkte plötzlich, dass ich mit dem linken Auge nichts mehr sehen konnte. Ich rettete mich in eine Kabine und setzte mich auf den geschlossenen Klodeckel.
Dort begann mein kurzes, schmerzloses Sterben. Es fühlte sich an, als würde jemand nach und nach die Lampen in einem Haus ausschalten. Zuletzt sah ich mit dem rechten Augen das Plakat an der Innenseite der Tür. Es war rot mit einer schwarzen Schrift und einem Symbol, das ich nicht mehr identifizieren konnte. Dann ging über meinem Kopf ein grelles, kaltweißes Licht an, und ich spürte einen Sog in diese Richtung. Etwas drang in meinen Schädel ein, eine weiche Kraft. Heute weiß ich, dass auf diesem Wege meine Seele aus dem sterblichen Körper gezogen wurde. Und, nein, man sieht dann nicht auf die leere Hülle hinab, man sieht überhaupt nichts. Man hört nichts mehr, man riecht und spürt auch nichts. Es ist vorbei mit den Sinnesorganen und den Eindrücken, die sie aufnehmen und ans Hirn weitergeben.
Allerdings weiß das Bewusstsein sofort Bescheid und wundert sich nicht über den neuen Zustand. Beim Transfer scheint bei mir etwas nicht ganz glatt gegangen zu sein. Andere Menschenseelen berichten, dass ihnen jedwede Erinnerung an ihr Leben abhanden gekommen ist – und sie sind darüber nicht einmal traurig. Um ehrlich zu sein: Ich habe bisher noch gar keine andere Seele mit einer Vergangenheit getroffen. Könnte sein, dass ich die einzige mit diesem Defekt bin. Zumal die Mehrheit der Seelen, die durch die zwölfte Dimension schweben, stumm ist. Auf mich wirken die wie glückliche Idioten. Ohne Erinnerung ist es aber unmöglich, sich gegenseitig zu erkennen, wenn man sich nach einer Zeit wieder trifft. Der Zustand der menschlichen Seelen nach dem Tod ähnelt so einer schweren Demenz. Apropos Zeit: In der Ewigkeit tickt auch die Uhr. Genau wie in der Endlichkeit des Lebens verläuft sie in Zyklen, die aber nicht in Minuten, Stunden, Tagen, Monaten oder Jahren gemessen werden. Mir kommt es so vor, als gebe es eine gigantische Energiequelle, die sich im Verlauf von – sagen wir einfach – Jahrmillionen leert, aber dann aus sich heraus wieder auflädt. Tatsächlich spüre ich, dass manchmal weniger Schwung hier in der zwölften Dimension ist und manchmal mehr. Mein Hauptproblem mit der Zeit ist, dass ich keine Ahnung habe, wie lange mein Tod her ist. Es können Jahre sei, Jahrhunderte oder Jahrmillionen. Spielt aber auch keine Rolle.
Weil mir im Gegensatz zur Mehrheit der Seelenkollegen ein Bewusstsein geblieben ist, kann ich mir auch eine Vorstellung von dieser Sphäre machen, in dem wir Seelen umher schwimmen. Ich stelle mir den Raum bläulich und hell vor, strukturiert durch Verdichtungen von Materie, die dann schwarz oder grau, selten weiß erscheinen. Ich nenne diese Knoten der Einfachheit Wolken. Weil dieser Ort multidimensional ist, gibt es natürlich kein Unten und kein Oben und keine Himmelsrichtungen. Irgendwann bin ich darauf gekommen, dass ich mir dieses Koordinatensystem aber einfach vorstellen kann. Und als ich so weit war, begann ich mir ganz langsam eine eigene Welt zu imaginieren, ich würde sogar sagen: zu erschaffen. Weil ich mich an nichts anderes erinnern konnte und kann, sieht diese Welt so aus wie die, in der ich gelebt habe – beziehungsweise wie ein Ausschnitt davon. Ich sehe also eine Stadt an einem großen Fluss, die ziemlich genau so beschaffen ist wie meine Heimatstadt. Es gibt dieselben Straßen und Plätze und Gebäude und sogar die Kneipen, Restaurants und Cafès.
Und weil es ohne Leute einigermaßen langweilig ist, stellte ich mir die Menschen vor, die in dieser Stadt leben, und vermutlich ähnelt jede einzelne Person einem Individuum, das ich zu Lebzeiten gekannt habe. Lange habe ich überlegt, mir Erika vorzustellen, habe mich dann aber doch für Monika entschieden. Die treffe ich in meiner Imagination nun an den schönsten Orten in der Stadt, ich lasse es uns gutgehen, und mittlerweile kann ich mir auch wieder ausmalen, wie es ist, mit ihr Sex zu haben. Das macht vielleicht deutlich, dass ich mit meinem Zustand als Seele mit Bewusstsein sehr zufrieden bin. Je mehr ich darüber nachdenke, desto weniger verstehe ich Menschen, die an die Wiedergeburt glauben, besonders diejenigen, die sich davon ein besseres nächstes Leben erhoffen. Denen rufe ich zu: Besser als das ewige Seelenleben nach dem Tod werdet ihr es nie haben.