Seine Freundin

Stell dir einen Typ am Biertisch vor. Anfang Fünfzig, eine ordentliche Wampe über ziemlich dünnen Beinen, imposanter Schädel, dichter, schwarzer Vollbart und eine dicke Brille mit dunklem Gestell. Nennen wir ihn Matthias. Wie er da so am Stehtisch draußen vor der Hausbrauerei steht und sein Bier trinkt. Er war mein Freund, und ungefähr einmal im Monat trafen wir uns da, um miteinander zu reden. Selten oder nie ging es um persönliche, um private Dinge. Meistens erzählten wir uns Geschichten über Ereignisse, die wir miterlebt oder beobachtet hatten, oder über die politische Situation oder was uns sonst aufgefallen war. Eigentlich sind wir erst sehr spät Freunde geworden. Über Jahre waren wir Kollegen, im Beruf auch Kontrahenten, aber im Streit lagen wir nie miteinander. Matthias hatte seine berufliche Laufbahn unter meiner Leitung begonnen. Später war er bei einem großen Unternehmen angestellt, während ich freiberuflich wirkte. Einige Male, eine Zeit lag sogar regelmäßig, schob er mir Aufträge zu.

Und Jahre später, als er ebenfalls die Selbstständigkeit gewählt hatte, war ich über zwei, drei Jahre Untermieter in den Büroräumen seiner kleinen Firma. Da saß er hinter einer Schreibtischlandschaft wie in einer Festung, freien Blick auf einen Fernseher, auf dem fast immer Spielfilme liefen, oft auch ohne Ton, beinahe wahllos: Hollywood-Zeug, Action- und Horrorfilme, cineastisches Kino und was es sonst noch so auf Videokassetten und DVDs gab. Und wenn er nicht wild auf die Tasten seines Computers eindrosch, dann beschallte er die Etage mit klassischer Musik, gern Opern, besonders gern Wagner, aber manchmal auch tagelang einfachste Pop-Schlager. Ich wusste, dass er in diesen Perioden dasaß und nachdachte. Matthias war gebildet, belesen, vielseitig interessiert. Einer der mit der Sprache spielte, ein brillanter Formulierungskünstler mit feinem Witz, manchmal auch albern. Immer aufgelegt, seine Zuhörer mit Anekdoten und Sottisen zu unterhalten.

So begann unsere Abende beim Bier oft damit, dass er mit einer Geschichte aus dem Örtchen präsentierte, in dem er wohnte. Die dortige Kneipe nannte er „das Wasserloch“, eine Anspielung darauf, dass sich dort die Männer trafen, um nach des Tages Last – so drückte Matthias es aus – ein, zwei, drei Bier zu trinken und sich über die Dinge des Lebens auszutauschen. Natürlich nahm er bei seinen Stories gern die Lokalpolitiker aufs Korn, die Silberrücken, die Honoratioren, die Protagonisten des Brauchtums. Und wenn ich an Matthias denke, dann sehe ich dieses feine Schmunzeln, mit dem er seine Geschichten meist einleitete. Und wenn wir uns gegenseitig nichts mehr zu erzählen oder kein aktuelles Thema zum Diskutieren mehr hatten, dann gaben wir uns Tipps, was man lesen, hören oder sehen sollte. Und ganz selten redeten wir auch über die Technik, mit der wir beide zu tun hatte, die Neuigkeiten, und welche Geräte wir angeschafft oder getestet hatten.

Als Matthias in meine Abteilung kam, machte er sich zunächst keine Freunde. Seine Intelligenz, sein schnelles Denken und seine scharfe Schnauze, die er nicht immer unter Kontrolle hatte, gefielen den weniger schlauen und schlagfertigen Kollegen nicht. Weil er aber so gut war in seinem Job, eroberte er sich manches Privileg. Vielleicht hatte er von all den Nachwuchskräften in meinem Team am stärksten die Karriere im Blick, das persönliche Fortkommen. Ohne viel nachzufragen oder zu berichten, meist hinter meinem Rücken, knüpfte er Kontakte und brachte sich bald bei diesem oder jenem Unternehmen ins Gespräch. So blieb er kaum zwei Jahre bei uns, bevor er zu seinem der Marktführer wechselte, wo er ungefähr das Achtfache dessen verdiente, was wir ihm zahlen konnten.

In den folgenden fünf, sechs Jahren hatten wir wenig Kontakt miteinander. Zumal die wenigen Begegnungen nicht erfreulich waren, weil sich Matthias in dieser Phase als großer Angeber und, ja, man muss es so nennen, eitler Fatzke entpuppte. Beim Kollegenstammtisch, zu dem ihn eine alte Bewunderin eingeladen hatte, brüstete er sich mit seinem Recht, auf Firmenkosten in der Business Class fliegen zu dürfen, prahlte mit seinem Dienstwagen, einem todschicken Kombi mit sehr viel PS, und vergaß nie zu erwähnen, mit welchem Topmanager er gerade noch zum Lunch aus war. Lief er früher eher in braun-beiger Studentenkleidung herum, hatte er nun die Herrenmode für sich entdeckt, trug bunte Hemden mit noch bunteren Krawatten unter mutig geschnittenen Anzügen. Außerdem ging er nicht mehr ohne Hut.

Dass wir überhaupt Freunde wurden, war einer Zufall. Noch in meiner Zeit als Untermieter bei ihm sprachen wir kaum miteinander und gingen auch nicht abends auf ein Feierabendbier in den Brauereiausschank gegenüber. Im Grunde trafen wir uns im Büro nicht einmal allzu oft; höchstens am Kühlschrank in der Teeküche, der immer randvoll mit Cola lite in Dosen war, denn das war damals sein Lieblingsgetränk. Und dann gründete er eine Satire-Website, für die er tagtäglich Dutzende kurzer Beiträge verfasste, unterstützt von einem stillen, aber enorm witzigen Typen, er später als Gagschreiber fürs Fernsehen einigermaßen berühmt wurde. Rund um diese Website gründete er einen Stammtisch, der sich einmal im Monat traf. Eingeladen waren Leser, Freunde und Förderer, Kollegen. Ich ging nie hin, aber als ich eines Tages auf dem Heimweg am Biergarten vorbeikam, in dem der Stammtisch abgehalten wurde, war das zufällig an einem dieser festen Termine.

Matthias stand allein am Biertisch mittendrin. Er war ein schneller, intensiver Trinker, der in einer Mittagspause im Sommer bisweilen drei, vier Weizen in einer Stunde konsumierte, ein Genussmensch, der gern kochte und aß, der über viele Jahre unmäßig rauchte, dreißig, vierzig Selbstgedrehte am Tag, sich dann das Rauchen abgewöhnte und auf eine teure Zigarillomarke umstieg, die er dann aber auch auf Lunge quarzte, bei unserem Treffen kamen davon dann an einem Abend auch sieben, acht, neun, zehn Stück zusammen. Dass er bei diesem ungesunden Lebenswandel gleichzeitig radikaler Radler war, blieb mir immer unverständlich. Jeden Tag legte er die gut zwanzig Kilometer aus dem Vorort zum Büro auf dem Fahrrad zurück, bei beinahe jedem Wetter. Meist besaß er mindestens ein halbes Dutzend Räder, denn an den Wochenenden drehte er auf dem Rennrad, allein oder in einer Gruppe Gleichgesinnter, Hundertkilometerrunden bis weit nach Holland hinein.

Zugegeben, lächerlich sah er aus in quietschbunter Radlerkleidung, denn auch in den Zeiten als er im Jahr mehr als zehntausend Kilometer auf dem Velo zurücklegte, trug er eine deutliche Wampe vor sich her, sah überhaupt nicht sportlich aus, aber keiner der Kollegen war ihm beim Radeln auch nur annähernd gewachsen – manche haben es probiert und sind gescheitert. Und nun stand er da allein am angeblichen Stammtisch. Ich trat hinzu und grüßte. Matthias grüßte zurück und sagte: Alle schon weg. Erst da erinnerte ich mich daran, dass eigentlich Scharen von Mitarbeitern und Fans herumstehen oder -sitzen müssten. Auf seinem Deckel sah ich ein gutes Dutzend Striche. Der Kellner brachte uns beiden Bier, und Matthias bedeutete ihm, die fälligen Striche bei ihm zu machen. Wir kamen langsam ins Gespräch, und es stellte sich heraus, dass überhaupt nie irgendwelche Leute zu seinem Satire-Stammtisch erschienen. Worüber er gleich eine ganze Reihe von Witze machte, sodass ich vor Lachen mein Bier verschüttete.

So wurde ich Mitstreiter bei seinem Satire-Magazin – und einziger Stammgast bei den regelmäßigen Treffen, zu denen nie jemand erschien. Wir machten uns über alles und jeden lustig. Wir erfanden Figuren, unter deren Namen wir dann Kolumnen verfertigten, wir überlegten neue Formate und Serien, und wenn ich beitragen konnte, dann tat ich das. Nur zwei Themen, darauf bestand Matthias, blieben ihm vorbehalten: die kurzen Glossen zum Tagesgeschehen und die Kochrezepte. Was er außerdem tat, um das Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, wusste ich nicht, und ich fragte auch genauso wenig danach, wie ihn interessierte, wie ich mich über Wasser hielt.

Auf den ersten Blick hätte man meinen können, Matthias sei ein Spießer. Irgendwann bemerkte er ganz beiläufig, dass er tief gläubig sei und jeden Sonntag in die Messe ginge. Er hatte mit Anfang Zwanzig seine Jugendliebe geheiratet, mit ihr – als das Einkommen es hergab – in schneller Folge drei Kinder gemacht und ein Reihenendhaus im besagten Vorort erworben. Tatsächlich würde ich das aus heutiger Sicht überhaupt nicht spießig nennen, Matthias war einfach ein beständiger Typ, zuverlässig und treu, ein Familienmensch. Irgendwann fiel mir nur auf, dass er eigentlich nie öffentlich mit Corinna, seiner Gattin, auftrat. Ich war ihr in den gute dreißig Jahren vielleicht zweimal begegnet; eine stille, beinahe schüchterne Frau, Lehrerin von Beruf, die dank ihrer Zurückhaltung fast geheimnisvoll wirkte.

In den letzten Jahren lief sein Geschäft sehr schlecht. Was er aus den Jahren mit dem enormen Einkommen zurückgelegt hatte, war beinahe aufgebraucht, aber immerhin hatten Corinna und er alle Hypotheken auf das Häuschen bereits abgezahlt. Das weiß ich auch nur, weil er bei einem unserer Treffen ziemlich unvermittelt fragte, ob ich keinen festen Job für ihn wüsste. Natürlich dachte ich nach und fragte herum, aber es ergab sich nichts für ihn. Zwei Monate später, er traf immer vor mir ein und hatte immer mindestens drei Biere Vorsprung, sah ich bei der Ankunft, dass sein Deckel schon stark mit Strichen versehen war, und fragte: Alle von dir getrunken? Er nickte, und aus seinem Schmunzeln wurde ein Grinsen: Gibt was zu feiern. Tatsächlich war er durch Vermittlung eines Nachbarn, dem er am Wasserloch sein Leid geklagt hatte, an einen einigermaßen schillernden Unternehmer geraten, einen Multimillionär, der seine Millionen mit Im- und Export von und nach Russland gemacht und sich inzwischen als Privatier niedergelassen hatte. Und der suchte einen Ghostwriter, weil er einerseits seine Memoiren schreiben lassen wollte und sich außerdem in der Wohltätigkeit engagieren wollte, wo es einiges an Reden zu halten gäbe.

Der hat eingesehen, sagte Matthias, dass er zu dumm für so etwas ist. Also hat er mich engagiert. Es stellte sich heraus, dass er an drei Tagen in der Woche für je drei Stunden rausfahren musste an den Niederrhein, wo der Neureiche ein Gestüt besaß. Dort musste er seinem Kunden dann geduldig zuhören, sich Notizen machen, um aus denen dann Kapitel für das zukünftige Buch zu erzeugen. Mit leichtem Lallen und seinem Schmunzeln gab er zu, dass er zwei Versionen schrieb: Eine, die dem Auftraggeber gefallen würde, und eine ungeschönte, leicht überzeichnete Variante. Wenn etwas typisch für Matthias, dann das.

Dass es ihm gesundheitlich nicht gut ging, fiel mir über fast ein Jahr nicht auf. Erst als er nebenbei bemerkte, dass er kaum noch radfahre, schöpfte ich Verdacht. Tatsächlich rauchte er bei unseren Treffen kaum noch, und irgendwann war ich es, der beim Bezahlen mehr Striche auf dem Deckel hatte als er. Wie gesagt: Über Privates sprachen wir so gut wie nie. Bis er eines Tages nach dem üblichen Geplänkel ganz ernst wurde und sagte: Mir ist etwas Merkwürdiges passiert. Kein Wort zu niemanden darüber, hörst du? Kannst die Sache rumerzählen, wenn ich mal tot bin. Wir tranken schweigend unsere Gläser aus. Dann begann er: Ich habe eine Frau kennengelernt, eine sehr junge Frau, eine sehr schöne Frau. Vielleicht muss ich dazu sagen, dass Matthias alles Mögliche war, aber kein Womanizer. Meine damalige Gefährtin meinte einmal, sie kennen kaum einen anderen netten Kerl, der so unerotisch sei wie er.

Natürlich lösten seine Worte bei mir schon Phantasien aus, aber dass er eine Geliebte haben könne, dass er eine Affäre eingegangen sei, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Nicht was du denkst, sagte er. Es sei im Frühjahr des vorletzten Jahres, also vor ungefähr fünfzehn Monaten gewesen. Nach Feierabend sei er langsam runter zum Fluss geradelt, um dort im Biergarten kurz und auf ein Bier Station zu machen. Er habe sich mit seinem Glas auf das Mäuerchen gesetzt und der Sonne beim Untergehen zugesehen. Ganz in Gedanken sei er gewesen und habe nicht bemerkt, dass sich jemand kaum einen Meter von ihm entfernt ebenfalls auf die Mauer gehockt habe. Dann sei der letzte Rest des Sonnenballs hinter den Dächern am anderen Ufer verschwunden, und die Person neben ihm habe begonnen zu applaudieren. Er habe sich umgedreht, und da habe sie gesessen. Mit dem letzten Klatschen habe sie ihm ihr Gesicht zugewandt und ganz ohne Ironie gesagt: Mei, ist das schön.

So sei er Mona begegnet. Und – so drückte er es aus – als habe jemand bei ihm einen Schalter umgelegt, habe er begonnen von und über sich zu erzählen, über sein Leben, seine Ängste, seine Träume und Wünsche, Dinge, über die er nicht einmal mit Corinna je redete, geschweige denn irgendwer anderes. Sie habe ihm konzentriert zugehört, manchmal genickt, kurze Zwischenfragen gestellt, und irgendwann ihre Hand auf seinen Arm gelegt. Erst da habe er sie ansehen können, also richtig hinschauen können. Zuerst sei ihm ihr Profil aufgefallen, das ihn an die Nofretete erinnert habe, dann ihre Hautfarbe, ein heller Bronzeton mit einem Hauch Olive in den Schatten, vielleicht verfälscht durch das Licht der Dämmerung. Und dann habe er mit einem Hauch Erschrecken festgestellt, wie jung Mona war. Eigentlich, sagte er, habe ich mich darüber erschrocken, wie alt ich schon bin; also im Vergleich. Dann habe er geschwiegen, aber sie habe nur sehr oberflächlich davon berichtet, woher sie komme – aus Oberbayern -, was sie so mache – Grafikdesign studieren – und warum sie ihn angesprochen habe. Er, also Matthias, habe eine derart intensive Sehnsucht ausgestrahlt, dass sie es wie eine Hitzewelle auf ihrer Haut gespürt habe.

Lacht jetzt nicht, sagte Matthias, du weißt, dass ich an keinerlei esoterischen Quatsch glaube. Aber… Er hielt eine Weile inne. Ich fürchte, Mona und ich sind Seelenverwandte. Dass mein Freund, dieser durch und durch rationale Mensch, der über alles Witze reißen konnte und wenig ernstnahm, dieses Wort benutzte, schockierte mich nachhaltig. Ich bestellte zwei Schnäpse, und wir stießen schweigend an, indem wir uns kurz zunickten. Und jetzt? fragte ich. Wie, gab er zurück, und jetzt? Nichts. Seit unserer erste Begegnung treffen wir uns regelmäßig zweimal die Woche. An ganz verschiedenen Orten, zu ganz verschiedenen Uhrzeiten, und unternehmen dann ganz unterschiedliche Sachen. Manchmal gehen wir mittags essen, dann wiederum machen wir abends einen langen Spaziergang. Im Kino und im Theater waren wir auch schon zusammen. Und wenn es sein muss, dann rufe ich sie mitten in der Nacht. Dann nehm ich mein Handy und geh auf die Straße, um ungestört mit ihr reden zu können.

Natürlich, fügte er später an, wisse er inzwischen alles über sie. Und weil sie so stark miteinander verbunden seien, könne er ihr Ratschläge erteilen, die sie auch annehme. Und umgekehrt. An manchen Tagen fühle es sich an, als seien sie schon seit vielen, vielen Jahren ein Paar. Manchmal aber sähen sie sich wie Vater und Tochter, dann wieder wie Geschwister mit großem Altersunterschied. Und ganz selten sei klar, dass sie seine Geliebte sei und er ihr Geliebter. An solchen Tagen träfen sie sich dann nicht. Er habe so viel von ihr gelernt. Über eine andere Art zu leben, eine andere Art, Beziehungen zu haben und zu pflegen. Wieder fragte ich: Und jetzt? Nichts, antworte er, gar nichts; es ist einfach wie es ist. Weiß Corinna davon? Natürlich nicht. Niemand weiß davon außer dir. Außerdem planten sie, also Mona und Matthias, demnächst für ein paar Tage in ihre Heimat zu reisen, sie habe ihm dort Orte zu zeigen und Geschichten dazu zu erzählen, so wie er sie zu Orten in der Stadt geführt und erklärt habe, was sie ihm bedeuteten.

Ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, an die Stunde und an die Umstände, unter denen ich von Matthias‘ Tod erfuhr. Mein Handy läutete. Hier ist Stefan. Welcher Stefan? Der Kollegen von Matthias. Und? fragte ich. Weißt du schon, dass er gestorben ist? Und ohne dass ich etwas sagte oder irgendetwas fragte, erzählte er, dass Matthias zwei Wochen zuvor beim Feierabendbier am Wasserloch plötzlich zusammengebrochen sei. Sein Sohn sei dabei gewesen. Man habe den Notarzt gerufen. Man habe ihn reanimiert und ins Krankenhaus gebracht. Ein Infarkt. Er habe im Koma gelegen. Dann sei er wieder aufgewacht. Habe sich erholt, habe gegessen und getrunken. Seine Familie sei zu Besuch gewesen. Und gestern, schloss Stefan, hat es ihn noch einmal erwischt. Die Ärzte hätten nichts mehr für ihn tun können. Danke, sagte ich, und legte auf.

Bei aller Trauer ging mir in den nächsten Tagen nur ein Gedanke durch den Kopf: Mona würde nicht wissen, dass ihr Freund tot sei. Aber, dachte ich, sie muss das doch erfahren. Ich begann nach ihr zu suchen. Fragen konnte ich niemanden, denn es würde ja nicht ein Mensch wissen, dass es sie gab und was sie mit Matthias verbunden hatte. Ich trieb mich in der Stadt herum, immer wieder an Orten, von denen ich wusste, dass die Beiden sich dort getroffen hatte, vor allem in diesem Biergarten am Fluss. Sicher habe ich ein Dutzend Sonnenuntergänge dort gesehen, mit einem Bier auf der Mauer, und gehofft, sie würde kommen und sich dazusetzen. Aber niemand setzte sich je zu mir. Und wenn es Mona gewesen wäre, hätte ich sie vermutlich nicht erkannt, denn so genau hatte Matthias sie mir nie beschrieben. Was wird sie denken, dass er nicht mehr kommt, dass er sie nicht mehr anruft? Über Monate versuchte ich mich in sie hineinzuversetzen, überlegte, Zettel an die schwarzen Bretter aller Institute anzuheften, in denen sie möglicherweise studierte. Aber was hätte ich auf diese Zettel schreiben sollen: Mona, Matthias ist gestorben? Inzwischen gehe ich alle paar Monate an sein Grab, und wenn ich dann dort stehe, flüstere ich immer: Mona lässt dich grüßen, alter Freund.

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