Es kam in diesen Zeit nicht besonders häufig vor, dass Thibaud mit einem Grinsen im Gesicht zu unserem Treffen in der Stammkneipe kam. Dieses Mal war er nicht nur gelaunt, sondern geradezu albern. Er riss einen Witz nach dem anderen und machte zu jedem Thema lustige Bemerkungen. Als das Gespräch auf die kommenden Wahlen kam, sagte er plötzlich: „Ich hatte Sex mit Angie.“ Die Reaktion der Gruppe fiel müde aus. Also hob er die Stimme: „Ich hab die Kanzlerin gevögelt!“ Erwartungsvolles Schweigen breitete sich aus, weil wir alle natürlich hören wollten, was sich hinter dieser abenteuerlichen Aussage verbarg. Und Thibaud fing an zu erzählen. „Es war bei einer Party. Beziehungsweise einem obskuren Open-Air-Festival, das auf einem ehemaligen Fußballplatz stattfand. Gruppen gealterter Pseudo-Punker machten schlechten Krach mit fürchterlichen deutschen Texten. Bands aus Pubertätsbubis gaben üble Cover-Versionen von Tote-Hosen-Schlagern zum Besten. Und eine Truppe Afrikaner quälte das Publikum mit selbsterfundener Folklore im holprigen Reggae-Stil. Über allem hing eine Wolke Marihuana-Dampf und Bierdunst. Rasch wurde mir klar, dass ich alter Sack keine der hübschen jungen Dinger, die überall mherumlungerten, anbaggern und abschleppen würde und sah mich nach Damen meiner Generation um. Da fiel sie mir sofort auf. Sie trug eine weite, bunte Weltmusikhose, ein verwaschenes blaues T-Shirt und wiegte sich ganz unabhängig von der jeweiligen Live-Musik gleichförmig in den Hüften.
Die Frau, die ich auf Ende Fünfzig schätzte, war nicht sehr groß und ein wenig pummelig. Ziemlich große Brüste schwangen halterlos im Takt. Ihr Gesicht kam mir vage bekannt vor. Sie lächelte mehr oder weniger beseelt und hatte die Augen halb geschlossen. Auffällig ihre ziemlich altmodische Bob-Frisur. Ich tanzte mich in ihre Nähe und versuchte herauszufinden, woher ich sie möglicherweise kannte. Und dann fiel es mir ein. Wenige Tage zuvor war ich auf ein Schwarzweiß-Foto gestoßen, das im Web kursierte. Es zeigte drei nackte junge Frauen, offensichtlich von einem Amateur irgendwo an einem FKK-Strand geknipst, vielleicht irgendwann in den Siebzigerjahren, vielleicht an der Ostsee, vielleicht in der DDR. Zwei der Mädels waren sehr blond. Die eine Dame dagegen brünett. Der mitgelieferte Text behauptete, es handele sich um Angela Merkel, aber selbst ohne Lupe war die stümperhafte Fotomontage als solche zu erkennen. Man hatte das Gesicht der jungen Merkel auf den altersmäßig passenden Körper montiert.
Aber: Von den drei Frauen auf dem Bild fand ich die Brünette am attraktivsten. Und so überdeckte sich das Bild ihres jungen Körpers mit dem Gesicht der Kanzlerin, und zusammen ergab das die Frau auf dem Fest. Dann fiel die Musikanlage aus, und es herrschte wohltuende Stille, unterbrochen nur vom leisen Getuschel der Zuschauer. Ich sprach sie an: Hey, du gefällst mir. Du tanzt so schön. Darf ich dich Angie nennen? Sie sah mich unter ihren schweren Lider hervor an, schüttelte den Kopf und sagte: Ja. Ich bin der Thibaud, fuhr ich fort, willst du auch einen Wein. Wieder schüttelte sie den Haarschopf und sagte: Ja. Ich ging Getränke holen, und als ich ihr den Becher mit dem fuseligen Weißwein reichte, setzte der Krach von der Bühne wieder ein. Ein Lemmy-Imitat kreischte zu den falschen Akkorden, die ein verkrümmter Langer schrammelte, die Aces of Spades ins Mikro. Sie nahm den Wein, ich griff ihren Unterarm und führte sie ab. Knapp außerhalb des Geländes fanden wir eine Stelle, an der man sich gegenseitig verstehen konnte und unterhielten uns. Das heißt: Ich erzählte, sie schüttelte bisweilen den Kopf und sagte ab und zu: Ja. Wenn sie nicht lächelte, rutschten ihre Mundwinkel scharf nach unten, und sie sah aus wie eine Hippie-Version der Kanzlerin. Na ja, und dann lief alles so ab wie das beim Abschleppen auf solchen Festen schon seit der Jungsteinzeit abläuft. Man wird sich einig, man versucht, das Gegenüber attraktiv zu finden. Dann klärt man die Frage: Zu mir oder zu dir? Und macht sich auf den Weg. Den Rest könnt ihr euch denken.“
Thibaud legte einer seiner spannungsfördernden Kunstpausen ein. Wir warteten geduldig bis er fortsetze und die Pointe seiner Geschichte lieferte. „Und wisst ihr was? Sie hieß tatsächlich Angie! Allerdings als Abkürzung für Angelika. Das Dollste aber: Auch sie war ein rattenscharfes Pfarrerstöchterlein…“