Zilly war es zuerst aufgefallen. „Ich mache mir Sorgen,“ sagte sie eines Abends zu mir, „Albert macht einen schlechten Eindruck. Ist total schlecht drauf. Und um Jahre gealtert.“ Um ehrlich zu sein: Albert war einer aus der Runde, mit dem ich nie viel zu tun hatte und der mich auch nicht sonderlich interessierte. Er gehörte zu dieser Sorte Mann, bei denen immer alles prima lief und die nur von ihren Erfolgen erzählten. Selbst wenn herumgesprochen hatte, dass be ihm wieder einmal irgendein Projekt in die Hose gegangen war. Über die Jahre betrachtet hatte er seine Betätigungsfelder gewechselt wie andere Kerle die Partnerin. Zilly, die öfter mit ihm geredet hatte, wusste zu berichten, dass er eigentlich städtischer Angesteller gewesen sei, das auch so gelernt habe und in seinen Zwanzigern wohl auch auf irgendeinem Amt Dienst geschoben habe. In den frühen Siebzigern hatte er die Brocken dann hingeschmissen und war als Hippie rund ums Mittelmeer auf Achse. Unterwegs hatte er den Drüsch kennengelernt, einen genialen Gitarristen, der mal einer der prominentesten Beat-Musiker der Stadt gewesen war, und dann Gründer der Band „Unterbach“ wurde. Albert wurde Manager der Band, gründete eine Plattenfirma, hatte irgendwann zwanzig Projekte unter Vertrag, residierte in einer Villa mit Park am Fluss
Lernte Ulli kenne, die war gelernte Schneiderin und entwarf junge Mode, die Albert anschließend über eine neugegründete Firma sehr erfolgreich vertrieb. Die Beziehung zerbrach, und Albert stürzte ziemlich ab. Tauchte drei, vier Jahre später auf als Wirt vom „Peppo“, der Vorortkneipe, die rasch zum angesagten Treff der hiesigen Mode- und Musikszene wurde. Übernahm auch den Sternhof, das Mischkatt und später sogar die Kogge, holte Top-Köche und war irgendwann Betreiber von drei der besten Restaurants in der Stadt. Heiratete mit knapp 50 die achtzehnjährige Lilly, die er nach Kräften förderte. Lilly bekam bald ihre erste Hauptrolle in einem deutschen Film. Dann noch eine und noch eine. Als sie nach Hollywood ging, verkaufte Albert seine Betriebe und folgte ihr. Fand Gefallen am Gambling, düste mehrmals die Woche nach Las Vegas und verlor sein Vermögen in kaum einem Jahr an den Pokertischen der Hi-Roller in den großen Casinos.
Lilly hatte sich längst mit J.D. zusammengetan und wurde ein Weltstar. Albert kam mit 56 Jahren völlig mittellos zurück nach Deutschland und übernahm, weil ihm nichts Besseres einfiel, eine Versicherungsagentur. Dann schrieb er einen Krimi, der ganz gut lief. Es blieb bei dem einen, weil er fürs Schreiben eigentlich kein Talent hatte. Wurde von seinem Partner gelinkt und saß plötzlich da mit einem Haufen Schulden, allein, über 60 und nicht mehr ganz gesund. Das alles sah man Albert auch an, wenn man seine Geschichte nicht kannte. Also setzten wir uns eines Abends – Thibaud hatte abgesagt – zu Albert, der schon einige Gläser Wein intus hatte und nicht mehr sehr deutlich sprach.
„Ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich Sorgen hab. Früher war alles immer ganz leicht. Ich war ja eine Mischung aus Candide und Sisyphos. Rannte naiv in alles hinein, wurde den Berg hochkatapultiert, fühlte mich klasse – und stürzte ab. Rollte den Fels wieder den Hügel hoch. Und wieder runter. Rauf und runter. Immer wieder. Konnte mir alles die Laune nicht verderben. Ich war mir meiner Kraft immer bewusst. Meiner – wie sagt man?- mentalen Stärke. Mir konnte keiner. Ich konnte mit jedem. Was ich anfasste, wurde zu Gold. Aber nie für lange. Aber jetzt…“ Er trank das halbe Glas auf einen Zug leer und bestellte mit einer Handbewegung Nachschub bei Zaza. „Ich mach mir Sorgen. Was soll werden? Bin jetzt 63. Hab keinen Job und keine Aussichten. Mit dem, was ich mal gelernt habe, kann ich nichts mehr werden. Und ich hab ja nur das gelernt: Verwalten! Was soll ich noch verwalten? Wo ich noch nicht mal richtig mit dem Computer umgehen kann? Würd ja nicht mal n Job im Archiv kriegen oder in der Poststelle. Wär ich mal Verwaltungsmensch geblieben, dann wäre wenigstens meine Rente sicher.“ Er legte eine theatralische Geste hin, bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen. Zilly war näher herangerückt an Albert, und er legte seinen Kopf leicht an ihre Schulter. Muss mal ein sehr attraktiver Kerl gewesen sein, dachte ich, ist aber schlecht gealtert.
„Wovon lebst du denn jetzt?“ fragte Zilly. Albert lachte auf: „Von meinen Sponsoren! Lilly schickt mir manchmal Bargeld. Wenn sie dran denkt. Und J.D. es ihr nicht verbietet. Die Frau vom Drüsch zahlt meine Miete, die hat’s ja, nachdem sie diesen Scheißgroßbäcker geheiratet hat. Das war’s. Versuche gerade, die Rechte an diesem ganzen Material von Unterbach zu verkaufen. Interessiert kein Schwein. Und das alles angesichts Verbindlichkeiten in Höhe von einhundertvierundzwanzigtausenddreihundertneunzehn – oder warens es -zwanzig? – Euro. Fetter Schufa-Eintrag. Verfüge über ein Zwnagskonto. Nicht kreditwürdig. Könnte vermutlich nicht einmal selbst eine Wohnung mieten. So sieht’s aus.“ Er nippte am Weinglas und starrte mich an. „Ja?“ fragte ich. „Du, du siehst aus als ob bei dir alles in Butter wäre. Tolle Frau hast du. Bestimmt n geilen Job. Ausreichend Kohle. Karre geleast. Eigentumswohnung bald abbezahlt.“ Ich schüttelte den Kopf.
Er schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte: „Jedenfalls!“ Und schwieg eine Weile. „Ey, ich hab Schiss. Vorm Altwerden. Vorm Armsein. Ich mach mir Sorgen. Tag und Nacht. Die fressen sich in meine Seele wie Säure in einen Stahlklotz.“ Mehr sagte er an diesem Abend nicht. Er kam dann auch nicht wieder zu unseren Treffen. Gut ein Jahr später erzählte Zaza, die Kellnerin, Albert sei tot aufgefunden worden im Park. Vermutlich Herzversagen.
Eine Antwort auf „Sorgen sind wie Säure“