Wird gestorben sein

In einer nasskalten Novembernacht erwachte Bronn gegen fünf Uhr und fand sich auf dem Rücken liegend vor. Er erschrak, denn üblicherweise schlief er bäuchlings auf der rechten Körperseite. Den rechten Arm unter dem Kopfkissen hindurch ausgestreckt, die linke Hand an seiner rechten Wange. Irgendwo hatte er vor vielen Jahren gelesen, dass eine spontane Änderung der Schlafhaltung auf den nahenden Tod hinweist. [Lesezeit ca. 2 min]

In Diskussionen mit Menschen seines Alters behauptete er immer, er habe keine Angst vor dem Tod, nur vorm Sterben. Seine größte Hoffnung sei, dass die Phase des Sterbens möglichst kurz sei, idealerweise nur den Bruchteil einer Sekunde lang, an der Schwelle zwischen der gelebten Vergangenheit und der Zukunft im Nichts. Wiewohl ein durch und durch rationaler Mensch, hatte er zum Tod ein durchaus spirituelles Verhältnis.

Er glaubte an die Existenz der menschlichen Seele und konnte sich sogar vorstellen, dass auch Tiere nicht seelenlos seien. Sogar eine beinahe physikalische Theorie zur Seele schien im einleuchtend, dass sie nämlich eine Art komplexes Gebilde aus energetischen Knoten und Verbindungen sei, in der das Leben eines Menschen gespeichert sei wie in einem digitalen Speicher.

Damit sah er sich in der Nachfolge von Heisenberg und anderen Physikern, die von der Existenz einer unsterblichen Seele überzeugt sind und sie als ein Grundelement der Welt wie Raum, Zeit, Materie und Energie betrachten. Nach dieser Sichtweise ist der Tod der Moment, in dem sich die unsterbliche Seele vom Körper trennt. er hatte viel über dieses Thema gelesen und nachgedacht und war zu der These gelangt, dass die Seele nach dem Tod weiterhin einen individuellen Charakter habe wie der gestorbene Mensch, sich aber an dessen Leben nicht mehr erinnere.

Als Bronn an diesem frühen Herbstmorgen so auf dem Rücken lag, versuchte er sich zu erinnern, ob er nicht doch früher gelegentlich oder sogar öfter rücklings geschlafen habe und doch nicht gestorben sei. Aber je länger er grübelte, desto sicherer war er sich, dass dies in dieser Nacht zum ersten Mal geschehen war und dass es an der Zeit war, sich auf den Tod vorzubereiten.

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