Streben wir nicht alle nach dem Meer? Zieht es uns nicht immer an den Strand? In die Brandung springen, unter Wasser schwimmen wie ein Fisch, auftauchen wie ein Delfin, angespült werden wie eine Echse, auf allen Vieren durch den Sand wie ein nasser Hund, dann der aufrechte Gang, Sandburgen bauen, Kanäle graben, Städte planen, Kriege führen. Klett kann nicht schwimmen und meidet das Wasser. „Vom Schwimmen“ weiterlesen
Frühling in Minsk
Wir sehen eine junge Frau mit dunklem Haar und dunklen Augen im Sommerkleid im Kreis von fünf anderen jungen Frauen. Die Dunkelhaarige ist meine Mutter. Auf der Rückseite des Fotos steht nur: Hildburghausen 1941. Sie sieht fröhlich aus auf dem Bild, beinahe übermütig, und alle sechs Frauen scheinen getanzt zu haben. Wenn ich mich recht erinnere, hat meine Mutter erzählt, dass sie ihre Ausbildung zur Telefonistin dort bekommen hat. Nach allem, was ich recherchiert habe, dauerte diese Ausbildung sechs Monate. Danach wurde sie ins besetzte Minsk, der Hauptstadt Weißrutheniens, wie Belarus in der Nazizeit genannt wurde, eingesetzt. Es war für sie eine glückliche Zeit. „Frühling in Minsk“ weiterlesen
Anziehungskräfte
Poss hatte die Arme auf den Beckenrand gelegt und sah sich von unten die Körper der Mitgereisten an, die dort standen oder gingen. Man schwamm nackt. Das hatten Julie und Meike, die Physiotherapeutinnen, so eingeführt ohne viel Aufhebens davon zu machen. Bis auf Uwe taten es ihnen alle nach. Der schlurfte gerade in Adiletten und bekleidet mit einer schlechtsitzenden Turnhose und in einem Deutschland-Trikot vorbei. Pia hatte neben Poss geparkt und ebenfalls die Arme auf den Beckenrand gelegt. [Lesezeit ca. 22 min] „Anziehungskräfte“ weiterlesen
Familienleben und Arbeitskampf
Der Wecker schellt um 5 Uhr 35. Ester erwacht und steht ohne Zögern auf. Sie trägt ein übergroßes T-Shirt mit Hello Kitty auf der Vorderseite. Die Morgenroutine: Duschen, Kaffee und Müsli. Dann rüber ins Werksschwimmbad, zehn Bahnen. Sie wohnt im Verwaltungsgebäude und fährt nur am Wochenende nach Hause. Anziehen und Make-up. Pünktlich um sieben landet der Helikopter auf dem Parkdeck. Meeting mit dem Vorstand um acht. Als Betriebsratsvorsitzende nimmt Ester Castaño-Kröner regelmäßig an diesen Sitzungen teil. Gerade jetzt in der Krise ist das wichtig. Das Management hat die Schließung von drei Fabriken und die Entlassung von mehr als 5000 Mitarbeitenden angekündigt. [Lesezeit ca. 17 min] „Familienleben und Arbeitskampf“ weiterlesen
Wird gestorben sein
In einer nasskalten Novembernacht erwachte Bronn gegen fünf Uhr und fand sich auf dem Rücken liegend vor. Er erschrak, denn üblicherweise schlief er bäuchlings auf der rechten Körperseite. Den rechten Arm unter dem Kopfkissen hindurch ausgestreckt, die linke Hand an seiner rechten Wange. Irgendwo hatte er vor vielen Jahren gelesen, dass eine spontane Änderung der Schlafhaltung auf den nahenden Tod hinweist. [Lesezeit ca. 2 min] „Wird gestorben sein“ weiterlesen
Vom Fliegen
Im Traum fliege ich wie ein Drachen durch Straßenschluchten. Ich ziehe ein Seil mit eingeknoteten schwarzen Schleifen hinter mir her. Zwischen fünf- oder sechsgeschossigen Häusern mit kleinen Fenstern und ockerfarbenen Fassaden. Manche haben Dachterrassen. [Lesezeit ca. 2 min] „Vom Fliegen“ weiterlesen
Vom Pferd
Die Kastanien der Allee haben sich dezent und leise von ihren Blättern getrennt. Klett steht frühmorgens mit der Kaffeetasse auf dem Balkon. Ein alter Mann fegt das Laub vor dem Haus gegenüber zusammen. Genau bis zur Grenze zum jeweiligen Nachbarhaus. Er hofft auf ein bisschen Bodennebel am Rhein beim Hundegang. Aber er hat beim Frühstück getrödelt, und als sie auf den Wiesen am Fluss ankommen, hat die Herbstsonne für klare Verhältnisse gesorgt. Klett sieht drei Reiter in einiger Entfernung unterm Deich entgegenkommen. [Lesezeit ca. 5 min] „Vom Pferd“ weiterlesen
Hunde und Hände
Das Beste am Menschen sind seine Hände, denkt der Hund. Damit kann er die unglaublichsten Sachen machen: Türen aufschließen, Dosen öffnen, schwere Taschen mit Futter schleppen, Autofahren, Bälle werfen. Und vor allem und kraulen und streicheln. [Lesezeit ca. < 1 min] „Hunde und Hände“ weiterlesen
Der Schuttig
Auf Kunst hatte Hauptkommissar Greiper überhaupt keine Lust. Mangels Tötungsdelikten hatte ihn die Vorgesetzte an die Kollegen von der Wirtschaftskriminalität ausgeliehen. Und die hatten ihn auf eine Kunstmesse nach Basel geschickt. Immerhin eine Stadt, die er mochte, nachdem er vor vielen Jahren dort einmal den Morgestraich miterlebt hatte. [Lesezeit ca. 8 min] „Der Schuttig“ weiterlesen
Von einem meiner Tode
Ob ich tot bin? Keine Ahnung. Kann auch nicht sicher sagen, ob ich gestorben bin. Mein Zustand: nicht bewusstlos, aber ohnmächtig. Ich bin im selben Maß bei Bewusstsein, wie ich es im wachen Zustand bin. Vielleicht handelt es sich um ein Wachkoma. Wobei die Personen, die aus einer solchen Lage zurückgekehrt sind, keine Erinnerung an diese Zeit haben. Natürlich kann ich nicht beurteilen, wie ich momentan auf andere Menschen wirke, also ob die mich als wach wahrnehmen. Denn meine Sinnesorgane sind lahmgelegt. [Lesezeit ca. 2 min] „Von einem meiner Tode“ weiterlesen
Kommt bald…
Der Essigbaum
Als Erik die Waschmaschine ausräumte und ihm ein gutes Dutzend Stoffdreiecke, die er als Stringtangas identifizierte, in die Hände fielen, wurde ihm klar, wie wenig er über seine Tochter wusste. Er fragte sich, ob sie diese Dinger aus sexuellen Gründen trug, und erkannte, dass er von Elisabeths sogenanntem Liebesleben gar nichts wusste. Schwach erinnerte er sich an drei, vier Jungs, die sie in der Pubertät gelegentlich mit nachhause gebracht hatte, und dass einer von denen ein paar Mal in ihrem Kinderzimmer übernachten durfte als sie schon siebzehn war. Und er dachte natürlich auch an Paul, diesen gutaussehenden Langweiler, ihren Ehemann, den sie vor ein paar Monaten verlassen hatte. Selbstverständlich nahm er sie wieder im Haus auf, fragte aber nicht nach den Gründen. [Lesezeit ca. 17 min] „Der Essigbaum“ weiterlesen
Edgar und das kleine Wasser
Am frühen Morgen hat sich Edgar an die Grenzen seines Grundstücks begeben. Jetzt steht er am Zaun und blickt auf das Wasser am Feldrand gegenüber, das er seinen Weiher nennt. Dabei handelt es sich bloß um eine ungewöhnlich große und tiefe Pfütze, die an den Starkregentagen im April entstanden und dank des dauernden Niederschlags im Mai nicht weggetrocknet ist. Die Sonne ist rechts von Edgar aufgegangen, und der junge Himmel spiegelt sich im Wasser. Er hat sich vorgenommen, nach dem Frühstück den alten Schuppen am anderen Ende seiner Parzelle abzureißen, um dort einen Baum zu pflanzen. [Lesezeit ca. 4 min] „Edgar und das kleine Wasser“ weiterlesen
Glücklich ist
„Vielleicht ist diese Demenz ja doch keine schlechte Sache,“ flüsterte Thibaud, der wie immer am Kopfende der Tafel saß. Und natürlich wandten sich ihm alle Köpfe zu, weil er die Stimme gesenkt hatte, einer seiner Tricks, um sich die Aufmerksamkeit zu sichern. „Es heißt doch,“ setzte er fort, „dass glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist.“ Zilly schnaufte kurz: „Das hörte sich bei dir neulich noch ganz anders an. Da hast du gejammert, du könntest dir kaum noch etwas merken.“ „Glücklich ist“ weiterlesen
Kein Grün
Peilemeier saß ziemlich breitbeinig auf der roten Polsterbank in der hinteren Ecke der Bar. Ich hockte mit einigem Abstand auf einem Stuhl ihm gegenüber. „Heißt du wirklich Pan mit zweitem Vornamen?“ Er lehnte sich noch weiter zurück. „Jan Pan Peilemeier, so heiße ich; kein Künstername, kein Pseudonym.“ – „Wer nennt seinen Sohn denn Pan?“ – „Idee meiner Mutter, die war Flötistin. Du verstehst: Pan, der Hirtengott mit der Flöte.“ JPP, so ließ er sich gern nennen, grinste. „Du sagst ‚war‘. Ist sie tot?“ – „Nein, nein, quicklebendig, nur keine Flötistin mehr. Hat es nach der Geburt meiner Schwester drangegeben.“ – „Und die heißt wohl Tuba mit zweitem Vornamen?“ Er lachte ein bisschen, und es klang als habe er einen Krümel in der Luftröhre. „Die hat keinen zweiten Vornamen. Jedenfalls so weit ich weiß.“ – „Und war dein Vater auch Musiker?“ Peilemeier kippte kontrolliert vornüber und stützte die Ellenbogen auf den Knie ab: „Nein, der ist Schlagzeuger.“ [Lesezeit ca. 11 min] „Kein Grün“ weiterlesen