Kinder machen

Zilly hatte mich gefragt, ob ich ihr ein Kind machen wolle. Irgendwie war ich heil aus der Situation herausgekommen, ohne eine Antwort geben zu müssen und ohne sie zu erzürnen. Ich fuhr spontan zu Thibaud, nicht um mit ihm die Sache zu diskutieren und seinen Rat einzuholen. Mir schien, dass einer seiner abgehobenen Monologe mich für ein paar Stunden aus diesem Dilemma befreien könnte. Ja, ich liebe Zilly sehr. Wir sind seit fast vier Jahren zusammen und es sieht so aus, als ob wir nicht nur vier weitere Jahre zusammenleben werden. Für weitreichende Pläne sind wir zu alt, unsere Niederlagen haben wir überlebt, wir wollen es uns eigentlich nur noch gut gehen lassen. Mir war immer klar, dass die Frage nach dem gemeinsamen Kind auftauchen würde. „Kinder machen“ weiterlesen

Kampfhund

Thibaud hatte sich einen Hund zugelegt. Beziehungsweise: Ihm war einer zugelaufen. Eine seiner Seminarteilnehmerinnen, ein schweres, westfälisches Mädchen, deren Mutter aufgrund sexueller Frustration zur radikalen Tierschützerin geworden war, berichtete, dass bei ihr zu Hause, einer typischen Doppelhaushälfte am Rande von Lüdenscheid, inzwischen siebzehn Hunde lebten, und dass sie fürchte, ihrer Mutter würde die Sache über den Kopf wachsen, was mit ziemlicher Sicherheit in der Psychatrie enden würde. Die junge Frau hatte einen weißen Welpen mitgeführt, den sie, genau wie einige andere Tiere aus dem Haus ihrer Mutter, weiterzugeben gedachte. Es handele sich vermutlich um das Ergebnis einer Beziehung zwischen einem Galgo und einem Pitbull-Terrier, sagte die Westfälin, der circa zehn Monate alte Rüde stamme aus einem Tierheim in Toledo und sei, wie die meisten Hunde ihrer Mutter, von einer Hunderettungsinitiative nach Deutschland transportiert worden. „Kampfhund“ weiterlesen

Lustschrei

Das hatte sich Thibaud anders vorgestellt. Er hatte sich ausgemalt, dass Tizla käme in einem schlichten, schwarzen Kleid, dass er ein wunderbares Essen und herrlichen Wein servieren würde, dass er sie verzaubern könnte und dass er dann Sex mit ihr haben würde. Tizla Tunc hieße sie, berichtete er, als wir spät in der Nacht noch zu ihm kamen, nachdem er uns angerufen und um Beistand gebeten hatte. Tizla Tunc, das könne nur ein Künstlername sein, vermutete ich, aber Thibaud schüttelte den Kopf, es sei ihr richtiger Name. Sie sei Serbin, erzählte er und schilderte sie als knabenhafte, schwarzhaarige Frau mit rauer Altstimmme. Ihr Gesicht habe etwas Asiatisches, und ihre Hüften seien ein bisschen breit, obwohl sie insgesamt schmal, ja, auch ziemlich flachbrüstig sei. Aber das spiele keine Rolle. Tizla sei noch sehr jung, kaum sechsundzwanzig Jahre, sehr selbstbewusst, und er habe sie im Seminar kennen gelernt. Sie habe seine Einladung freudig angenommen, und er habe sich sehr auf den Abend und die Nacht, das gab er zu, gefreut. Aber sie sei nicht gekommen, habe auch nicht abgesagt. „Lustschrei“ weiterlesen

Kreuzzug

“Endlich,” sagte Thibaud, “bin ich vom Bier weg. Ich habe mich dem Wein zugewandt.” Er stand vor uns, die Haare milimeterkurz geschoren, in einem olivgrünen Feldhemd mit den Abzeichen der serbischen Armee. Die schwarze Baumwollhose fiel über ebenfalls schwarze Turnschuhe, die außen einen grünen Stern trugen. “Es ist eine Häutung,” fügte er hinzu. “Das sieht man,” sagte Zilly und grinste. “Nimm es ernst, meine Liebe. Nimm mich ernst. Es ist schmerzhaft. Stell dir vor, dir würde deine Haut zu eng. Jede Bewegung tut weh. Du spürst, dass dein Körper seinen Panzer abwerfen will. Das Denken wird wild. Deine Sinnesorgane schärfen sich. Du weißt genau, dass du einen Krieg führen wirst.” Er hatte einen mächtigen Tisch aus gebürstetem Edelstahl in die Küche gestellt und öffnete eine Flasche Rotwein aus dem Kosovo. Stellte schwere Pressglasgläser hin. „Kreuzzug“ weiterlesen

Zorn & Trauer

Oft kam es mir so vor, als täte Thibaud alles, nur um uns zu beeindrucken. Jede seiner überraschenden Wendungen erschien uns zu spontan, zu unlogisch und zu radikal, als dass sie keiner Strategie folgen würde. Neulich trafen wir ihn zufällig im Café Zentral, wo er an einem Einzeltisch saß und etwas mit dem Bleistift in ein schwarz gebundenes Notizbich schrieb. Er trug ein Tweed-Sakko, das wir noch nie an ihm gesehen hatten, eines mit Lederflicken auf den Ellenbogen, dazu ein zerknittertes, dunkelblau gestreiftes Hemd. Im Aschenbecher qualmte ein Zigarette, vor ihm stand ein Glas Rotwein. Zilla sprach ihn an. Thibaud blickte kaum auf und bedeutete uns, sich zu ohm zu setzen. Dann blickte er auf und sagte: “Ihr seht, ich schreibe wieder. Um mir das zu ermöglichen, habe ich meinen Computer fortgeworfen.” Hanshubert starrte ihn ungläubig an: “Den neuen iMac?” Thibaud lächelte ihn an und bestätigte: “Ja, den brandneuen iMac.” Auch ich war erstaunt, hatte sich Thibaud doch bisher als jemand erwiesen, der jede technische Neuerung begeistert angenommen und zu nutzen versucht hatte. Ja, er hatte uns alle von tragbaren Mp3-Playern überzeugt, von LCD-Fernsehern, Digital-Kameras und Multifunktions-Handys. Wir hatten angeschafft, was er empfahl. „Zorn & Trauer“ weiterlesen

Fleischwolf

“Wenn wir das, was wir mit unseren Hirnen anstellen, nämlich auf der Ebene permanenter Selbstreferenz das bereits Gedachte immer wieder denken, mit unseren Körpern täten, würden wir uns innerhalb kürzester Zeit selbst verdauen”, sagte Thibaud als Einleitung. Wir waren alle eingeladen in seine neue Küche. Er stand an der Herdinsel, hatte einen schwarze Kochjacke an und die langen grauen Haare unter einem schwarzen Kopftuch verborgen. Seit ein paar Monaten war er der Kocherei verfallen und hatte sich von uns zum Geburtstag alle möglichen Utensilien für die Küche gewünscht. Und an diesem Abend wollte er uns vorführen, was er damit zu erzeugen in der Lage war. Auf der Arbeitsplatte hinter ihm stand der schwere stählerne Fleischwolf. „Fleischwolf“ weiterlesen

Gerechtigkeit

Thibaud hatte sich in Rage geredet. Er fuchelte mit den Händen in der Luft herum, und was er sagte, klang atemlos: “Gerechtigkeit, ihr fordert Gerechtigkeit! Dabei wisst ihr doch gar nicht, was das ist. Im Wörterbuch der Gebrüder Grimm finden sich dreizehn Bedeutungen des Wortes. Wenn ihr Gerechtigkeit fordert, dann wollt ihr in Wirklichkeit nur ausdrücken, dass ihr einen bestimmten Zustand ungerecht findet. Ungerecht fühlt ihr euch behandelt, weil ihr nicht das bekommt, von dem ihr annehmt, dass es euch zusteht. Nach Recht solltet ihr verlangen! Nach dem Einhalten der Gesetze! Denn ihr bekommt das, was ihr euch wünscht, was ihr wollt oder braucht, oft nicht, weil Andere die Gesetzte nicht einhalten. Wenn ihr für Gerechtigkeit wäret, dann müsstet ihr aufstehen und Gerechtigkeit für alle fordern. Aber ihr seid dermaßen in eurem Anspruchsdenken verhaftet, dass ihr über euren kleinen, uninteressanten egoistischen Tellerrand nicht hinaus zu blicken vermögt. Das Recht bringt Klarheit über das, was die Teilnehmer eines sozialen Systems im Rahmen der Verwirklichung ihrer eigenen Interessen tun dürfen. Das Recht beschränkt das Handeln. Denn täte es das nicht, dann würde das Mädchen die alte Frau erschlagen, weil ihr deren Armreif gefällt und sie ihn besitzen möchte. Gäbe es kein Recht, gäbe es auch keinen Handel, den jeder würde jeden betrügen. Wenn jemand euch erklärt, dass ihr auf dieses oder jenes keinen Anspruch habt, dann regt ihr euch grundsätzlich auf. Ihr seht nicht, dass die Durchsetzung euren Anspruchs die Rechte anderer Menschen verletzten würde. Ihr seid zu beschränkt, überhaupt wahrzunehmen, wie oft ihr andere Menschen schädigt, weil ihr eure Interessen über die anderen stellt. Das beginnt doch schon damit, dass ihr eure überdimensionierten Autos einfach auf der Fahrbahn abstellt und damit Hunderte anderer Autofahrer behindert, nur weil ihr mal eben was besorgen wollt. Und das endet noch lange nicht, wenn ihr fordert, man möge euch eine Rente zahlen, während eure Nachbarn hungern.” „Gerechtigkeit“ weiterlesen

Tyrannenmord

Thibaud kam spät und machte einen gehetzten Eindruck. Er schob sich auf den Platz neben mir und blieb unruhig. Auch schien er mir ein wenig derangiert, zumindest ungewöhnlich gekleidet. Unter dem üblichen Tweed-Sakko mit den Lederflicken auf den Ellenbogen trug er ein knallrotes T-Shirt mit schwarzem Aufdruck. Ich bemühte mich zu lesen, was darauf stand, aber mein Blickwinkel war ungünstig. Außerdem nestelte Thibaud ständig am Jackett. Zilly hatte ihre Präsentation schon begonnen, und das Auditorium folgte ihren Ausführungen mit großer Konzentration. Dann hatte sie den letzten Satz gesagt und ihr Manuskript zusammengerafft. Das Publikum honorierte den Vortrag durch lautes Klopfen auf den Pulten, die an den Rückenlehnen der Stühle angebracht waren. Während Zilly gerade das Podium verließ, drängelte sich Thibaud an mir vorbei und eilte zur Bühne. Er nahm den Platz hinter dem Rednerpult ein, bog das Mikrofon zurecht und sagte: “Auch wenn dies ein Kongress zum Thema ‘Gewaltloser Widerstand in den Zeiten der schwachen Repression ist’, habe ich nur einen Kommentar abzugeben.” Er trat einen Schritt beiseite und zog das Sakko aus. Auf dem roten T-Shirt stand in schwarzen Lettern der Satz: ‘Tyrannen stürzen nur durch Terror’. [Lesezeit ca. 2 min] „Tyrannenmord“ weiterlesen

Tätowierungen

In vielen Fällen war niemandem von uns klar, worauf Thibaud mit seinen Aktionen hinaus wollte. An seinen ständig wechselnden Kleidungsstil, an seine verschiedenen Frisuren hatten wir uns über die Jahre gewöhnt, auch die Tatsache, dass sein Gewicht und damit sein Umfang sich ständig innerhalb recht weit gefasster Grenzen änderte, ließ uns nach ein paar Jahren kalt. Mir hatte er einmal ganz beiläufig erzählt, dass der eigene Körper sein liebstes Spielzeugt sei. “Weißt du”, sagte er, “es gibt doch keine größere Freiheit als die des Körpers. Ich kann damit tun und lassen, was ich will. In den meisten Fällen bewege ich mich dabei ja sogar im Rahmen der Gesetze. Deswegen verstehe ich auch nicht, welches Recht sich der Staat herausnimmt, mich am Konsum von Drogen zu hindern.” Dabei nahm er einen ordentlichen Mundvoll Kräuterrauch aus der Wasserpfeife, die zwischen uns auf den Holzdielen der Terrasse stand. “Natürlich”, fuhr Thibaud fort, “ist reines Epigonentum bei körperverändernden Maßnahmen albern – man betrachte nur diese Tätowierungen junger Frauen oberhalb ihres verlängerten Rückens…” – ” Du meinst ein Arschgeweih”, warf ich ein. Thibaud schüttelte sich vor Lachen, denn den Ausdruck hatte er zuvor nicht gehört. [Lesezeit ca. 2 min] „Tätowierungen“ weiterlesen

Aphorismen

Eine Zeitlang traktierte Thibaud uns mit selbsterdachten Sinnsprüchen. Zu den erträglichsten zählte noch dieser Aphorismus: “Das Leben ist wie eine Straße voller Schlaglöcher: kaum hat man eines ausgebessert und hofft, nun störungsfrei fahren zu können, tut sich das nächste auf.” Wir ließen ihn gewähren, auch wenn wir uns über seine neue Leidenschaft insgeheim lustig machten. [Lesezeit ca. < 1 min] „Aphorismen“ weiterlesen

Nackt in Dünen

Vor einigen Jahren verbrachten wir alle zwei Wochen in einem Sommerhaus an der dänischen Nordseeküste. Thibaud war wenige Wochen zuvor von Edith verlassen worden und hatte, um die Nächte nicht allein im Bett verbringen zu müssen, eine Studentin eingeladen, die seit Anfang des Semsters seine Seminare besuchte und ihn offensichtlich verehrte. Gulla, so ihr Name, war zu der Zeit vielleicht einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt, ein zierliches Mädchen mit tiefschwarzen Haaren und von unbestimmt asiatischer Herkunft. [Lesezeit ca. 3 min] „Nackt in Dünen“ weiterlesen

Reisebericht

Thibaud sah schlecht aus, müde und abgespannt – wie nach seiner letzten Reise auch. Er hatte den engsten Kreis zu unserem Lieblingsmexikaner eingeladen und läutete den Abend mit einem doppelten Mescal ein. “Ihr erwartet sicher meinen Bericht von der Reise”, begann er, “aber ich muss euch enttäuschen. In jedem Flugzeug, in jeder fremden Stadt, an Traumstränden und im Gebirge, an jedem Ort habe ich nur darüber meditieren können, was es ist, das mich reisen macht.” Er nahm noch einen Mescal, der Kellner kam und nahm die Bestellungen auf. Wir mussten lange auf die Fortsetzung seiner Erklärung warten. [Lesezeit ca. 2 min] „Reisebericht“ weiterlesen

Lüge & Verrat

Thibaud war mir immer als extremer Mensch erschienen. Jemand, der extreme Gedanken dachte, und auch vor extremen Taten nicht zurück schreckte. Wir alle bewunderten ihn, fürchteten ihn aber auch, denn er hatte oft genug bewiesen, dass sein schrankenloses Denken und Tun uns zu unbedachten Aktionen herausfordern konnten. Aber letztlich kehrten wir alle wieder in unsere ruhigen und gefahhrlosen Existenzen zurück. Trotz allem war Thibaud kein Guru, kein Missionar, kein Held und auch kein Führer. Edmund hatte einmal angemerkt, dass Thibaud ein Solitär wäre, ein Einzelstück ohne jede Bindung an Konventionen und an Menschen. Zilly hatte dieser Ansicht zu Recht widersprochen mit der Begründung, selbst ein so großer und einsamer Geist wie Thibaud brauche ein Publikum und Menschen, denen er vertrauen kann. [Lesezeit ca. 2 min] „Lüge & Verrat“ weiterlesen

Skinheads tot

Auch dieses Mal hatte Thibaud sich nicht bei uns abgemeldet, er verschwand einfach und tauchte nach fast sieben Monaten wieder auf: braungebrannt und mit kurzgeschorenen Haaren. Wir hatten keine Verbindung gesehen zwischen seiner Abwesenheit und dem Mord an den zwei jungen Männern in Rudolstadt. Deshalb kam sein Geständnis umso überraschender. Wir trafen uns mit ihm im Stadtpark am See. Er trug eine Sonnenbrille und wirkte nervös. Er sei noch am gleichen Abend mit dem Auto in die Schweiz gefahren und mit der letzten Maschine von Zürich nach Casablanca geflogen. Dort habe er einen Wagen gemietet um nach Goulimime zu kommen, wo sein Freund Tarek lebt. Am nächsten Tag habe er sich die Haare schneiden lassen und dann eine Dschellabah gekauft. Sein Glück sei es gewesen, dass niemand den Vorfall beobachtet habe, der seine Flucht ausgelöst hatte. [Lesezeit ca. 2 min] „Skinheads tot“ weiterlesen

Lügengeschichten

“Es ist so ein Sache mit der Realität,” begann Thibaud an jenem Abend das Gespräch als wir alle in seinem Sommerhaus in der Nähe von Zoutelande zu Besuch waren, den ganzen Tag am Strand verbracht und im Restaurant unter den Dünen auf der Holzterrasse ungezählte Flaschen Heineken getrunken hatten. Eigentlich waren wir alle betrunken von Bier und Sonne, müde vom blendenden Licht und so weit weg vom Ärger und Stress daheim, dass wir nur noch rumalberten und dumme Witze rissen. Und nun Thibaud mit ernster Stimme. “Erinnert sich noch jemand an die Geschichte über den Besitzer der Fischbratbude am Duinweg, die ich heute vormittag erzählte?” Ich hatte eine diffuse Ahnung, dass er uns mittags nach großen Portionen gebratener Scholle und holländischer Fritten, die Familiengeschichte der Betreiber präsentiert hatte. Dabei spielte der schwachsinnige Sohn eine Rolle, der Widerstand des Großvaters gegen die Nazis und ein jüdischer Küchenhelfer, den man in seinem Versteck vergessen hatte. Es war eine gute Geschichte. [Lesezeit ca. 2 min] „Lügengeschichten“ weiterlesen

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