Der große Bahnhof
Im Traum steht Klett vor einem großen Bahnhof. Die Fassade so breit wie zwei Fußballfelder und turmhoch. Aus Backstein gemauert, ohne Vorsprünge und mit nur sechs oder sieben kleinen Fenstern. Der einzige Ein- und Ausgang ist mit einer Haustür in normaler Größe verschlossen. Klett muss seinen Zug erreichen, aber als er versucht, in die Bahnhofshalle zu kommen, strömen endlos Menschen aus dem schmalen Ausgang. Erst nach vielen Minuten werden es weniger, und er kann sich ins Innere drängeln. Dort ist es jetzt menschenleer. [Lesezeit ca. 2 min] „Der große Bahnhof“ weiterlesen
Die Anzüge meines Vaters
Manchmal denke ich darüber nach, was aus meinem Vater geworden wäre, hätte es den Zweiten Weltkrieg nicht gegeben. Als er 1947 nach mehr als fünf Jahren Kriegsgefangenschaft in den USA und in England nach Deutschland zurückkehrte, lag seine Zukunft vor ihm wie ein weites, leeres Feld. Was für die Nation eine Stunde Null nach der totalen Zerstörung war, muss ihm vorgekommen sein wie eine Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten. Denn sein Klassenhintergrund spielte keine Rolle mehr. Er konnte alles werden, und so verstand er sich als Aufsteiger, als einer, der seine Vergangenheit als Arbeiterkind hinter sich lassen und zum Bürger der Mittelschicht werden konnte. [Lesezeit ca. 7 min] „Die Anzüge meines Vaters“ weiterlesen
Frühe Lektüre
Das ist das Buch „Jenseits von Eden“ von John Steinbeck, eine Auflage für einen Buchclub, in dem mein Vater Mitglied war. Es ist einer der ersten Romane, die ich gelesen habe. Das dürfte 1961 oder 1962 gewesen sein; ich war also acht oder neun Jahre alt und hatte keine Angst vor dicken Schinken, denn in diesen Kinderjahren habe ich auch „Früchte des Zorns“ von Steinbeck, „Onkel Toms Hütte“ von Harriett Beecher-Stowe und „Gullivers Reisen“ von Jonathan Swift gelesen. Alles keine ausgesprochenen Kinderbücher. [Lesezeit ca. 2 min] „Frühe Lektüre“ weiterlesen
Vom Schwimmen
Streben wir nicht alle nach dem Meer? Zieht es uns nicht immer an den Strand? In die Brandung springen, unter Wasser schwimmen wie ein Fisch, auftauchen wie ein Delfin, angespült werden wie eine Echse, auf allen Vieren durch den Sand wie ein nasser Hund, dann der aufrechte Gang, Sandburgen bauen, Kanäle graben, Städte planen, Kriege führen. Klett kann nicht schwimmen und meidet das Wasser. [Lesezeit ca. 2 min] „Vom Schwimmen“ weiterlesen
Frühling in Minsk
Wir sehen eine junge Frau mit dunklem Haar und dunklen Augen im Sommerkleid im Kreis von fünf anderen jungen Frauen. Die Dunkelhaarige ist meine Mutter. Auf der Rückseite des Fotos steht nur: Hildburghausen 1941. Sie sieht fröhlich aus auf dem Bild, beinahe übermütig, und alle sechs Frauen scheinen getanzt zu haben. Wenn ich mich recht erinnere, hat meine Mutter erzählt, dass sie ihre Ausbildung zur Telefonistin dort bekommen hat. Nach allem, was ich recherchiert habe, dauerte diese Ausbildung sechs Monate. Danach wurde sie ins besetzte Minsk, der Hauptstadt Weißrutheniens, wie Belarus in der Nazizeit genannt wurde, eingesetzt. Es war für sie eine glückliche Zeit. [Lesezeit ca. 3 min] „Frühling in Minsk“ weiterlesen
Anziehungskräfte
Poss hatte die Arme auf den Beckenrand gelegt und sah sich von unten die Körper der Mitgereisten an, die dort standen oder gingen. Man schwamm nackt. Das hatten Julie und Meike, die Physiotherapeutinnen, so eingeführt ohne viel Aufhebens davon zu machen. Bis auf Uwe taten es ihnen alle nach. Der schlurfte gerade in Adiletten und bekleidet mit einer schlechtsitzenden Turnhose und in einem Deutschland-Trikot vorbei. Pia hatte neben Poss geparkt und ebenfalls die Arme auf den Beckenrand gelegt. [Lesezeit ca. 22 min] „Anziehungskräfte“ weiterlesen
Familienleben und Arbeitskampf
Der Wecker schellt um 5 Uhr 35. Ester erwacht und steht ohne Zögern auf. Sie trägt ein übergroßes T-Shirt mit Hello Kitty auf der Vorderseite. Die Morgenroutine: Duschen, Kaffee und Müsli. Dann rüber ins Werksschwimmbad, zehn Bahnen. Sie wohnt im Verwaltungsgebäude und fährt nur am Wochenende nach Hause. Anziehen und Make-up. Pünktlich um sieben landet der Helikopter auf dem Parkdeck. Meeting mit dem Vorstand um acht. Als Betriebsratsvorsitzende nimmt Ester Castaño-Kröner regelmäßig an diesen Sitzungen teil. Gerade jetzt in der Krise ist das wichtig. Das Management hat die Schließung von drei Fabriken und die Entlassung von mehr als 5000 Mitarbeitenden angekündigt. [Lesezeit ca. 17 min] „Familienleben und Arbeitskampf“ weiterlesen
Wird gestorben sein
In einer nasskalten Novembernacht erwachte Bronn gegen fünf Uhr und fand sich auf dem Rücken liegend vor. Er erschrak, denn üblicherweise schlief er bäuchlings auf der rechten Körperseite. Den rechten Arm unter dem Kopfkissen hindurch ausgestreckt, die linke Hand an seiner rechten Wange. Irgendwo hatte er vor vielen Jahren gelesen, dass eine spontane Änderung der Schlafhaltung auf den nahenden Tod hinweist. [Lesezeit ca. 2 min] „Wird gestorben sein“ weiterlesen
Vom Fliegen
Im Traum fliege ich wie ein Drachen durch Straßenschluchten. Ich ziehe ein Seil mit eingeknoteten schwarzen Schleifen hinter mir her. Zwischen fünf- oder sechsgeschossigen Häusern mit kleinen Fenstern und ockerfarbenen Fassaden. Manche haben Dachterrassen. [Lesezeit ca. 2 min] „Vom Fliegen“ weiterlesen
Vom Pferd
Die Kastanien der Allee haben sich dezent und leise von ihren Blättern getrennt. Klett steht frühmorgens mit der Kaffeetasse auf dem Balkon. Ein alter Mann fegt das Laub vor dem Haus gegenüber zusammen. Genau bis zur Grenze zum jeweiligen Nachbarhaus. Er hofft auf ein bisschen Bodennebel am Rhein beim Hundegang. Aber er hat beim Frühstück getrödelt, und als sie auf den Wiesen am Fluss ankommen, hat die Herbstsonne für klare Verhältnisse gesorgt. Klett sieht drei Reiter in einiger Entfernung unterm Deich entgegenkommen. [Lesezeit ca. 5 min] „Vom Pferd“ weiterlesen
Hunde und Hände
Das Beste am Menschen sind seine Hände, denkt der Hund. Damit kann er die unglaublichsten Sachen machen: Türen aufschließen, Dosen öffnen, schwere Taschen mit Futter schleppen, Autofahren, Bälle werfen. Und vor allem und kraulen und streicheln. [Lesezeit ca. < 1 min] „Hunde und Hände“ weiterlesen
Der Schuttig
Auf Kunst hatte Hauptkommissar Greiper überhaupt keine Lust. Mangels Tötungsdelikten hatte ihn die Vorgesetzte an die Kollegen von der Wirtschaftskriminalität ausgeliehen. Und die hatten ihn auf eine Kunstmesse nach Basel geschickt. Immerhin eine Stadt, die er mochte, nachdem er vor vielen Jahren dort einmal den Morgestraich miterlebt hatte. [Lesezeit ca. 8 min] „Der Schuttig“ weiterlesen
Von einem meiner Tode
Ob ich tot bin? Keine Ahnung. Kann auch nicht sicher sagen, ob ich gestorben bin. Mein Zustand: nicht bewusstlos, aber ohnmächtig. Ich bin im selben Maß bei Bewusstsein, wie ich es im wachen Zustand bin. Vielleicht handelt es sich um ein Wachkoma. Wobei die Personen, die aus einer solchen Lage zurückgekehrt sind, keine Erinnerung an diese Zeit haben. Natürlich kann ich nicht beurteilen, wie ich momentan auf andere Menschen wirke, also ob die mich als wach wahrnehmen. Denn meine Sinnesorgane sind lahmgelegt. [Lesezeit ca. 2 min] „Von einem meiner Tode“ weiterlesen
Mahlzeit
Tante Meta und Onkel Martin waren geizig. Das sagten alle. Aber Onkel und Tanten kann man sich nicht aussuchen. Vor allem, wenn sie immer dabei sind. Und Tante Meta und Onkel Martin waren immer dabei. Wenn wir Oma besuchen fuhren, quetschten wir Kinder uns ins Auto. Onkel Martin saß vorne neben Vati, und einer von uns musste bei ihm auf dem Schoß sitzen. Das war sehr unangenehm. [Lesezeit ca. 3 min] „Mahlzeit“ weiterlesen