Der Furz des Lebens

Wir sehen Onkel Gerd wie er lässig und leicht zurückgelehnt in einem windschiefen Campingstuhl in der Sonne sitzt. Er trägt ein beinahe weißes Unterhemd und eine verwaschene, dunkelgrüne Turnhose, von der er sagt, die sei ein Teil seiner Wehrmachtsausrüstung. Rund um den Tisch stehen und sitzen seine Brüder mit ihren Frauen, sein bester Freund und Bekannte, die ihn sonntags im Schrebergarten besuchen. Kinder spielen zu seinen Füßen. Er hat eine Zigarette in der Hand und grinst in die Kamera. [Lesezeit ca. 9 min]

Hier habt ihr fünf Mark, sagte Onkel Gerhard, fahrt mal eben Sahne holen. Mein Bruder und ich holten die klapprigen Räder aus dem Schuppen hinter der Gartenlaube und rasten los durch die Schreibergartenkolonie hin zur Eisdiele Rialto. Immer gab er uns viel mehr Geld mit als wir brauchen würden, denn für vier Mark bekamen wir eine große Pappschüssel, die Luigi oder Gino aus der chromglänzenden Maschine befüllte. Da blieben noch genug übrig, dass wir uns Hörnchen mit fünf Kugeln leisten konnten. Mein Bruder gehörte zur Fruchteisriege und nahm meistens Zitrone, Ananas, Himbeer und zweimal Erdbeer, während ich mich wie immer für Schoko, Mokka und Nuss entschied. Derweil saß die Familie vor den Kuchentellern und wartete. Wo wart ihr denn, brüllte der Onkel uns mit einem Grinsen an, mussten die Itaker die Sahne erst noch schlagen?

Natürlich war er unser Lieblingsonkel, ein großer, schwerer Mann mit dichtem Haar, das er alle vierzehn Tage samstags beim Frisörmeister Hunke zum Mekki schneiden ließ, um anschließend zum Frühschoppen im Schwan zu gehen, der sich bis zum Abendessen hinzog. Tante Mechthild hasste es, wenn ihr Mann sturzbetrunken nach Hause kam und über der Mahlzeit, die sie wie immer mit viel Liebe zubereitet hatte, einschlief. Aber am liebsten war er im Garten. Dann schnallte er die Prothese ab, stellte sie in die Ecke, humpelte an seinen altmodischen Unterarmkrücken herum und ließ sich gern bedienen. Im Sommer waren wir beinahe jeden Sonntag dort. Da trafen sich dann die drei Brüder mit ihren Frauen und allen Kindern, dazu Herr und Frau Kneissel, die wir auch als Onkel und Tante betrachteten, sowie Wilhelm, sein Kriegskamerad, dessen Nachnamen wir nie erfuhren.

Onkel Gerd war ein Freund der groben Witze und gab immer wieder dieselben Scherze zum Besten. Komm mal her, sagte er, und streckte einem der Kinder den ausgestreckten Zeigefinger entgegen. Los, zieh mal hieß es dann, und wenn man das tat, ließ er einen fahren und lachte. Sein Lachen war laut und dröhnend, aber den anderen Erwachsenen war er in solchen Momenten peinlich, sodass nur wir Kinder in das Gelächter einstimmten. Unser Vater, der zwei Jahre ältere Bruder, sah ihn dann oft strafend an und sagte: Mensch, Gerd, muss das sein? Du verdirbst mir noch den Nachwuchs. Mittags gab es immer Frikadellen oder Bratwurst oder Koteletts, die Tante Hilde auf dem Campingkocher briet, während unsere Mutter oder Tante Friede mitgebrachten Kartoffelsalat dazu servierten. War die Familie vollzählig, reichte der Platz am wackligen Tisch auf der Veranda nicht für alle. Man hatte also den Teller auf den Knien, hielt ihn mit einer Hand und aß vornübergebeugt. Ihr seht aus als ob ihr die Klopse anbetet, kommentierte der Onkel manchmal.

Irgendwann zogen sich die Frauen zurück auf den Rasen hinter der Laube, machten es sich auf Decken bequem, tranken Likörchen und tratschen. Dann begann in aller Regel die Skatrunde der Männer. Und damit wurde es für uns noch besser als bei der Sahne. Holt mal Bier, Jungs! rief Onkel Gerd. Er sammelte das Geld von den anderen ein und schickte uns los zum Biber, der nächstgelegenen Eckkneipe. Und bringt mir zwei Eckstein mit, brüllte er als wir schon fast gestartet waren. Er rauchte gut und gerne zwei Packungen dieser filterlosen Zigarettenmarke am Tag. Natürlich auch während der Dienstzeit. Man hatte ihm als Kriegsversehrtem eine Gnadenstelle in der Stadtverwaltung verschafft; über das, was er genau tat, sprach er nie. Aber eine Anekdote gab er immer wieder gern zum Besten. Immer wenn ich merke, dass ich gleich furzen muss, biete ich meinen Kollegen Zigaretten an. Dann paffen wir ordentlich die Bude voll und lassen fahren, was fahren will. Der Gestank von Blähungen und Qualm zieht dann beim nächsten Lüften zusammen ab.

Die Gaststätte hatte wie die meisten einen Bierschalter im Eingang, eine Art kleine, verglaste Drehtür, durch die einem die Bierflaschen zugeschoben wurden, wenn man zuvor Geld abgegeben hatte. Damit die Bedienung überhaupt kam, musste man klingeln. Dann näherten sich der lange Biber oder Elli, die freundliche Kellnerin, verdunkelten die Bierklappe, beugten sich herunter und fragten durch den Schlitz: Und? Man trank bei uns im Sommer Export, also orderten wir zwölf Flaschen dieser Sorte und für uns vier Sinalco, zwei davon stürzten wir noch an Ort und Stelle herunter. Dann verteilten wir die Flaschen mit den Bügelverschlüssen auf vier Einkaufsnetze, von denen jeder je eines an die Enden des Lenkers hängte. Weil in jedem Fall Geld übrig war und keiner der Männer uns danach fragen würden, machten wir noch Station beim Laden von Frau Müsch, der natürlich am Sonntag geschlossen hatte. Aber: Es gab einen Süßigkeiten- und einen Kaugummiautomaten. Wir teilten das Honorar auf und warfen nach und nach alle passenden Münzen ein.

Im Winter traf sich dieselbe Familienbande alle vierzehn Tage am Samstag zum Fernsehen bei Onkel Gerhard und Tante Mechthild. Und zwar an den Samstagen, an denen der Onkel nicht zum Frisör ging. Die beiden wohnten in jenen Jahren direkt gegenüber der Martinskirche, und wenn dort die Glocken läuteten, war eine Unterhaltung minutenlang nicht möglich. Im Erdgeschoss hatte ein Kürschner sein Geschäft, die Werkstatt lag im Hinterhof, und das Treppenhaus roch immer nach rohem Fleisch und den Mitteln, die der Meister zum Beizen brauchte. Von außen war das dreieinhalbstöckige Haus mit dunkelbraunen, glänzenden Klinkern verkleidet, innen war alles in irgendeinem Braunton lackiert oder gestrichen. Die Wohnung von Gerd und Hilde bestand aus einem Allzweckraum, einem Schlafzimmer und dahinter einem winzigen Badezimmer mit Toilette. Der Onkel und die Tante hatten sich im Lazarett kennengelernt, wo man Gerd den rechten Unterschenkel abgenommen hatte. Sie war Köchin und leitete die Kantine.

Und diese Tante war eine wirklich begnadete Köchin mit dem Ehrgeiz, ihren Gästen immer wieder Spezialitäten zum Imbiss zu überraschen. Tatsächlich richtete sich an jedem dieser Samstage ein vielfältiges Büffet an; dass eine der Schwägerinnen oder Nachbarinnen etwas beisteuerte, hatte sie sich schon vor langer Zeit verbeten. Also saßen pünktlich zur Tagesschau die Erwachsenen auf dem Sofa oder auf Stühlen, die sie vom Esstisch herangezogen hatten, während Onkel Gerd auf seinem Sessel thronte. Neben sich das Rauchtischchen mit dem gewaltigen Kristallaschenbecher und einem Zigarrenbesteck. Lief der Fernseher, er war der einzige in der Verwandtschaft, der einen besaß, rauchte er Kette; oft zündete er sich eine neue Kippe an, während die vorangegangene im Aschenbecher noch nicht verglüht war. Wir Kinder lagerten auf Kissen oder einfach so auf dem Fußboden, möglichst dicht an der Mattscheibe. Währenddessen rührte Tante Hilde die letzten Mayonnaisen an, schnitt noch dieses oder jenes und arbeitete an den Salaten.

Dann rief sie: Das Büffet ist eröffnet! Fast immer zeitgleich mit dem Gong der Tagesschau, und Gerd stöhnte: Muss das denn ausgerechnet jetzt sein? Müssen sich ja nicht alle gleich drauf stürzen, schmollte die Tante. Aber da hatten wir Kinder uns schon über die kleinen panierten Schnitzel, den Geflügelsalat, die Würstchen im Schlafrock oder was sie sonst noch gezaubert hatte, hergemacht. Das Verhältnis des Ehepaars ist schwer zu entschlüsseln. Meist scheucht er seine Frau mit kläffenden Befehlen umher oder beleidigt sie vor den anderen. Tante Mechthild sieht immer ein wenig beleidigt aus und redet so gut wie gar nicht mit ihm. Sie haben keine Kinder, und Onkel Gerd hat bei Familienfeiern am Tisch ein paar Mal in verächtlichem Ton gesagt: Die kann ja keine kriegen. Aber mein Vater hat einmal zu meiner Mutter gesagt, es liege an Gerds Kriegsverletzung, dem fehle da etwas. Dann fängt die Samstagabendunterhaltung an, und wir alle müssen ruhig sein, weil der Onkel ernst und konzentriert das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgt.

Als ich noch klein war, konnte ich einfach nicht wegsehen, wenn der Stumpf aus seiner Turnhose rausschaute. Aber erst mit fünf oder sechs traute ich mich zu fragen, ob ich anfassen dürfte. Klar, lachte Onkel Gerd, kratz mich mal, juckt wieder wie verrückt. Ich konnte die Narben fühlen, die sternförmig aufeinander zu laufenden Nähte, mit denen die Haut nach der Amputation zusammengenäht worden waren. Lass das sein, schimpfte mein Vater, und sagte noch: Mensch, Gerd, muss das sein. Hermann, der acht Jahre jüngere Bruder, war ein völlig anderer Typ als Gerd und mein Vater: lang aufgeschossenen, an die zwei Meter groß, sehr dünn und mit einem länglichen Gesicht. Seine Brüder hatten dagegen Quadratschädel, so nannte meine Mutter das. Und während die beiden Älteren volles, dichtes Haar hatten, konnte man bei Hermann schon den Ansatz einer Glatze sehen, und die Geheimratsecken waren tief eingeschnitten. Dieser Onkel war sehr schweigsam und unzugänglich. Er redete kein Wort mit uns Kindern. Oft schien es, als nehme er uns gar nicht wahr. Na, neckte ihn Gerd nicht selten, immer noch keine Frau? Du doch nicht vom anderen Ufer sein? Dann stand Hermann wortlos auf und ging.

Nur bei einer Gelegenheit, da erlebten wir Hermann ganz anders. Das Fernsehen zeigte eine Live-Übertragung, es war das Endspiel um den Europapokal zwischen Real Madrid und Eintracht Frankfurt. Onkel Gerd hatte eingeladen und ausdrücklich angeordnet, dass sich die Frauen bitte woanders treffen sollten, die Männer wollten unter sich sein. Er hatte die Vorhänge zugezogen, damit das Fernsehbild gut zu sehen wäre. Die Brüder und Herr Kneissel, der noch vor dem Anpfiff angab, er habe es nicht so mit dem Fußball, er sei ja gebildet und bevorzuge Schach, saßen kaum einen Meter entfernt vom Apparat, mein Bruder und ich und Rainer, der Sohn der Kneissels, lagen auf dem Teppich davor, sodass wir nach oben gucken mussten, um das Spiel verfolgen zu können. Ich bin für Frankfurt, sagte Gerd, während unser Vater meinte, er möge Fußball so sehr, dass er sich vor allem eine schöne Partie wünsche und der Bessere gewinnen möge. Völlig unerwartet fuhr Hermann aus der Haut und brüllte: Scheiße, das ist doch Scheiße! Natürlich muss Real gewinnen! Das ist der Club des Caudillo, der stand immer auf unserer Seite! Die anderen sahen betreten zu Boden und starrten schweigend vor sich hin.

Natürlich mussten der Rainer, mein Bruder und ich alle halbe Stunde runter zum Hähnchen frisches Bier holen. Auch diese Kneipe an der nächsten Straßenecke hatte einen Bierschalter, man musste aber nicht klingeln, sondern klopfte einfach mit einer Münze an das Glas, dann kam nach einer Weile jemand und stellte ungefragt vier Flaschen Helles hin. Wir waren mittlerweile auf den Geschmack gekommen und bestellten Cola, nur Rainer nicht, dem die Eltern das verboten hatten, der nahm eine Limo. In der Halbzeit schickte uns Onkel Hermann Schnaps holen. Weil der Wirt uns einfach so keinen verkaufen würde, nahm er den Skatblock vom Rauchtisch und schrieb mit Bleistift auf die Rückseite: Manfred, gib den Jungs eine Flasche Doppelkorn. Madrid gewann 7:2, und Onkel Hermann hatte die Mannschaft in Weiß die ganze Zeit über lautstark angefeuert und jubelte nach dem Schlusspfiff als habe er persönlich mitgespielt. An der Diskussion über Politik, bei der mein Vater das Wort führte, beteiligte er sich nicht. Es ging um Adenauer und um die Bundeswehr. Der Krieg hatte meinen Vater zu einem linken Pazifisten gemacht, der sich furchtbar darüber aufregen konnte, dass die Nazis in Deutschland wieder so viel zu sagen hätten. Onkel Gerd hing es dagegen vor allem um die Höhe seiner Besoldung und der Rente.

Dann kam der Tag der Konfirmation meines Bruders, und unser Vater hatte den Saal im Hähnchen angemietet. Manfred, der Wirt, hatte die Tische zum U stellen und weiß eindecken lassen. Alles war sehr feierlich, die Gäste hatten sich würdevoll angezogen und selbst Onkel Gerhard kam im dunkelblauen Anzug und trug eine gepunktete Krawatte zum weißen Oberhemd. Die Einsegnung fand gleich gegenüber in der Martinskirche statt, sodass wir vermutlich die erste Konfirmationsgesellschaft waren, die mit den Feierlichkeiten beginnen konnte. Tante Hilde hatte es sich nehmen lassen, das Festtagsmahl höchstpersönlich in der Küche der Gastwirtschaft zu kochen, unterstützt von den beiden Helfern, die auch sonst dort arbeiteten, sowie meiner Mutter und Frau Kneissel. Es gab eine Rinderkraftbrühe mit Markklößchen und Eierstich, dreierlei Braten, also Rind, Schwein und Zunge, mit einer braunen Soße, verschiedenen Gemüsen und Kartoffelkroketten sowie Bayerisch Creme mit Himbeeren zum Nachtisch.

Kurz bevor dieser Nachtisch serviert wurde, meldete sich Onkel Gerd zu Wort. Ihr wisst, ich bin kein Mann der langen Rede. Außerdem sind mir Konfirmationen, Kommunionen, Trauungen und der ganze kirchliche Quatsch scheißegal. Ich sah, dass Pastor Wüllenweber, der bei uns zu Gast war, weil er es da nicht so weit zurück ins Pfarrhaus hatte, zusammenzuckte. Bernd, er sah meinen Bruder an, du bist ab heute ein Kerl, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Ich will euch aber etwas anderes erzählen. Genau jetzt in diesem Moment, spüre ich etwas in meinen Eingeweiden, im Darm, um genau zu sein. Gestern habe ich vier Teller von der wunderbaren Erbsensuppe meiner Gattin verzehrt, und wie wir alle wissen, fördern Hülsenfrüchte gewisse Verdauungsvorgänge. Vermutlich hat das Essen inzwischen meinen Magen verlassen und ist auf dem Weg zum Ausgang. Bei dieser Gelegenheit bildet es Gase. Mein Vater blickte seinen Bruder ungläubig an, während Onkel Hermann, das kannten wir von ihm überhaupt nicht, breit grinste. Wie gesagt: Exakt in diesem Moment entsteht gerade eine gewaltige Gasblase, ich spüre wie sie wächst und wie sie drückt und drängt. Jetzt nähert sie sich dem Auspuff, ja. Und dann… Mit diesen Worten entfuhr unserem lieben Onkel Gerhard, dem Bruder unseres Vaters, dem Mann mit dem halben Bein, der uns Kinder oft verwöhnte und immer Witze riss, ein dermaßen gewaltiger Furz, dass er über mindestens zehn Sekunden jedes andere Geräusch im Raum übertönte.

In das eingetretene Schweigen hinein fügte Gerd an: Und das, liebe Anwesende, war vermutlich der Furz meines Lebens, den ich hiermit meinem Neffen Bernd widme und zu seiner heutigen Konfirmation schenke. Man konnte den rasselnden Atem des asthmakranken Herrn Lindner von nebenan hören und das leise Klingeln des Colliers von Frau Miermann. Es war meine Mutter, die mit einem schrillen, langgezogenen Igitt! die Stille brach. Alle redeten durcheinander, mein Vater schimpfte, Onkel Hermann lachte schallend, Tante Hilde weinte hörbar, der Pastor schlug mit dem Messer an sein Glas, als wolle er eine Rede halten, irgendwer sprang auf und riss Geschirr zu Boden. Das Chaos brach aus. Ich sah die ganze Zeit über immer nur auf Onkel Gerd, der sich das Geschehen mit einem feinen Lächeln ansah, dabei seine Krawatte lockerte und den obersten Hemdenknopf öffnete. Langsam legte sich der Sturm, einige Gäste waren geflüchtet, und eigentlich blieb nach diesem Vorfall nur die Gruppe übrig, die sich sonst sonntags im Garten von Gerhard und Mechthild traf. Nur Pastor Wüllenweber, der war geblieben und hoffte auf eine doppelte Portion von der Bayrisch Creme.

Eine Antwort auf „Der Furz des Lebens“

  1. Guten Tag,
    Vielen Dank für diese Geschichte – es waren schon seit Jahren echte Perlen dabei – sowohl zum Lachen als auch zum Weinen, aber diesmal wars so was von toll! Vielen Dank!!

    Gruss
    Jens

Schreibe einen Kommentar