Wandelbar

Weit nach Mitternacht verließ Kaltenburg den Gasthof, um den Hang zu besteigen, der sich westwärts erhob. Hinterm Haus überquerte er den Bergbach. Die Neumondnacht war sternenklar und windstill. Er trug eine Stirnlampe, die beunruhigende Schatten im Rhythmus seiner Schritte warf. Im Unterholz hörte er das Raunen und Wispern verschiedener Tiere. Zunächst wand sich der Pfad durch Buschland, dann durch ein lichtes Gehölz mit niedrigen Bäumen. Unter den hohen Tannen und Fichten begann ein schnurgerader Weg aufwärts zum Kamm. [Lesezeit ca. 2 min]

Kaltenburg erreichte die Lichtung auf der Anhöhe und setzte sich ins feuchte Gras. Vögel, die nicht schlafen konnten, sangen ihre Lieder. Er schaltete die Lampe aus und legte sich auf den Rücken. Nachdem er eine Viertelstunde in den schwarzen Himmel geblickt hatte, erkannte er immer mehr Sterne und bemerkte, dass sie nicht nur unterschiedlich groß waren, sondern verschiedenfarbig. In der Mitte seines Gesichtsfeldes strahlte ein weißer Punkt, der langsam anschwoll und sich näherte.

Nach kurzer Zeit verwandelte sich das Licht in eine helle, weiße Kugel mit unscharfen Konturen. Bald schwebte sie, kaum eine Armlänge entfernt, über seinem Gesicht. Und sprach ihn an: Was kann ich für dich tun? Dabei pulsierte der Ball in bläulichen Tönen. Kaltenburg setzte sich auf und griff nach dem Wesen, das sich ihm entzog. Wieder sagte die Kugel: Was kann ich für dich tun? Und er erkannte die Stimme als die seines Großvaters.

Ich will meine Frau zurück, antwortete er. Das weiße Licht entfernte sich einige Meter und flog in Richtung der Baumwipfel, die rund um die Lichtung aufragten. Deshalb bist du hierher gekommen? Kannst du mir meine Frau zurückgeben? Die Kugel umkreiste ihn mit großer Geschwindigkeit. Nein, das kann ich nicht. Wie wär es mit einer neuen Frau? Kaltenburg zog die Knie an, stützte die Ellenbogen darauf ab und legte das Gesicht in die Handflächen. Dann wischte er die Tränen weg und erhob sich.

Der glühende Ball war verschwunden, und jenseits des Tales erhob sich die Morgendämmerung. Er würde sich schlafen legen. Die Träume würden zurückkehren. Er würde erwachen und sich an jede Einzelheit erinnern. Wie sie die Arme ausbreitet und sich um die eigene Achse dreht. Ihre Füße in den ausgetretenen Espadrilles. Sand an der Rückseite ihrer Schenkel. Der Leberfleck hinter ihrem rechten Ohr. Ihr Lachen auf dem Beifahrersitz. Wie sie auf dem Felsvorsprung sitzt und schweigt. Ihr Blick über den Rand des Rotweinglases hinweg. Das Morgenlicht auf ihrem Körper. Ihre Umarmung während sie hinter ihm steht und flüstert. Ihr Gesicht unter dem Kopfverband mit der Kanüle im Mundwinkel. Wie sie flach auf dem Rücken unbeweglich unter dem Laken liegt. Die Kälte ihrer Hand als er sie zum letzten Mal berührt.

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