In den ersten Jahren wurde die verkehrspolitische Arbeit der hiesigen Grünen durch Einbruchsdiebstahl finanziert. Ich sah Hans-Jürgen zum ersten Mal bei einer Versammlung, wo er aus dem Hintergrund des Saals mit lauter Stimme gegen die K-Gruppen-Kader anbrüllte, die dabei waren, die Partei feindlich zu übernehmen. Dann traf ich ihn auf der einen oder anderen Demo und auf verschiedenen Sitzungen. Ob ich an Verkehrspolitik interessiert sei, fragte er mich eines Tages. Ich bejahte, und er sagte, dann komm doch mal vorbei. In jenen Tagen hatte Hans-Jürgen einen Laden auf der Eintrachtstraße gemietet. Das war damals eine der finstersten Ecken der Stadt, gelegen an der Kölner Straße, die hier zwischen der Industriebrache hinter dem Bahnhof und einer Reihe schäbiger Häuser entlang führte. Die Eintrachtstraße selbst endete im Nirgendwo einer wild bewachsenen Fläche, auf der sich nachts die Junkies und Dealer trafen. Gegenüber vom Laden gab es die einzige afrikanische Disco der Stadt.
Der Verkaufsraum war zugestellt mit Zeichentischen und -schränken, deckenhohen Regalen und einer Reihe verschiedenartiger Stühle. Es gab eine Leinwand am Stativ, einen Overheadprojektor und mehrere Flipcharts. Auf den Tischen lagen Orginalkarten und Blaupausen sowie handgezeichnete Skizzen. Hier betrieb Hans-Jürgen seinen Verkehrsclub, dessen Mitglieder sich vor allem aus mehr oder weniger fanatischen Eisenbahn-Freaks rekrutierten. Der Hausherr selbst lebte in einem der Hinterzimmer. Dort lag eine Matratze am Boden, daneben standen ein Kleiderständer und eine altmodische Kommode, darauf ein Zweiplatten-Kocher. Ein weiterer Raum war für Waschmaschine und Kühlschrank vorgesehen, gewaschen hat er sich am Becken in der winzigen Toilette.
Der Verkehrsladen
Es gab mehrere Lagerräume, die aber immer verschlossen waren. Und einen Schuppen im Hof, in dem Hans-Jürgen seine Fahrräder aufbewahrte. Er besaß sieben oder acht Stück, allesamt scheinbar altmodische, angeranzte Teile. Später erfuhr ich, dass sich die Räder technisch auf dem neusten Stand befanden und perfekt gewartet wurden. Stolz berichtete er von seinen unzerstörbaren Reifen, die mit zwei Mänteln und ausgeschäumten Schläuchen bestückt waren. Ein anderes Fahrrad war mit einem Korb am Lenker ausgestattet, in dem er seinen Dackel transportierte. Anfangs hatte er sogar zwei Köter, beide waren ihm zugefallen – den Teckel hatte er auf der Straße aufgegriffen, der Langhaardackel hatte einer alten Damen im selben Haus gehört, die gestorben war. Wenige Monate nachdem ich zum ersten Mal beim Verkehrsclub zu Besuch war, kam der kurzhaarige Hund unters Auto.
Für Hans-Jürgen waren schienengebundene Verkehrsmittel die einzige Alternative zum Fahrrad. Er hielt das Auto für einen Fehler der Evolution und war am Thema Indvidualverkehr schlichtweg nicht interessiert. Das Ziel seiner Arbeit war eindeutig die fortwährende Optimierung des öffentlichen Personenverkehrs. Im Kreise seiner Jünger entwickelte er detaillierte Konzepte auf höchstem Niveau, die er dann der Bundesbahn oder der Rheinbahn vorlegte. Während ihn die örtliche Verkehrsgesellschaft weitestgehend ignorierte, hatte er gute Kontakte zur hiesigen Direktion der Bahn, die ihn nicht selten einlud, sich seine Vorschläge anhörte und in gut fünf, sechs Fällen sogar realisierte.
Im Untergrund
Und dass obwohl die Bahnbeamten wissen konnten oder ahnen mussten, dass Hans-Jürgen kein professioneller Verkehrsexpete war. Mir schien, als lebe er ein Doppelleben und eines davon im Untergrund. Das tat er im Wortsinn auch. Eines Tages sagte er: Hast du morgen Nacht Zeit? Will dir was zeigen. Wir trafen uns an der Ellerstraße. Er führte mich durch die Unterführung und um die Ecke. In die Mauer des Bahndamms, unweit des Hauptbahnhofs, war – und ist heute noch – eine Stahltür eingelassen. Er hatte den passenden Schlüssel. Übergab mir eine der beiden mitgebrachten Stablampen. Schloss die Tür hinter uns. Wir standen auf einem Podest, von dem aus Stufen abwärts führten. Beim Absteigen zählte ich mit; es waren hundertzwanzig Schritte bis zu einem zweiten, quadratischen Plateau, von dem aus ein Gang abzweigte. Ich leuchtete hinein, konnte aber das Ende nicht sehen.
Wir sind jetzt auf der vierten Sohle, sagte Hans-Jürgen und ging voraus. Wieder zählte ich. Mehr als dreihundert Schritte gingen wir. Dann eine Stahltür, die nicht verschlossen war. Dahinter ein breiter Gang, gut ausgeleuchtet mit Dutzenden verdrahteter Kellerleuchten. Das ist der Hauptbahnhof, sagte er, viertes Untergeschoss. Links und rechts gingen numerierte Türen ab. Alles Lager, erläuterte er. Wir gelangten in ein Treppenhaus, wie der Gang aus nacktem Beton. Eine Etage höher gab es wieder einen beleuchteten Gang. Moment, sagte ich, hier war ich schonmal. Glaube ich nicht, gab er zurück, vielleicht warst du im UG, da wo die Aufenthaltsräume sind. Da hatte er Recht. Viele Jahre vorher hatten sich mein Bruder und ich ein paar Mal mit Schulfreunden getroffen. Der Vater von dem einen war Bahner, und so hatte dieser Kumpel Zugang zu den Sozialräumen unter dem Hauptbahnhof, wo es auch einen Tischtennisraum gab. Ja, sagte er, das war so bis sie den neuen Bahnhof gebaut haben. Jetzt gibt es keine Verbindung mehr zwischen dem modernisierten Untergeschoss und diesen Etagen; keine Ahnung, warum hier noch Strom liegt…
Es blieb nicht bei diesem einen Ausflug in die Unterwelt der Stadt. Einmal nahm er mich mit in das Stück ungenutzten U-Bahn-Tunnel unter der Stresemannstraße. In den frühen Sechzigern hatte man begonnen, eine so genannten Unterpflasterbahn zu konzipieren und etwa zweihundert Meter Röhre als Prototyp angelegt. Betreten konnte man die Anlage aus dem Keller des alten Postgebäudes – auch dafür hatte Hans-Jürgen Schlüssel. Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob er mich anlog, wenn er erzählte, dass die ganze Innenstadt von unteridrischen Gängen durchzogen sei, die vor allem geheime Bunker miteinander verbanden. Dass nach 1933 beim Anlegen der Lufstschutzräume die Keller nebeneinanderliegender Häuser systematisch über Durchbrüche verbunden wurden, war mir bekannt, und einen Gang unterhalb des Fürstenplatzes in Richtung Bahndamm entdeckte ich viele Jahre später selbst.
Sein Lebensunterhalt
Wir freundeten uns immer mehr an. Mich faszinierte sein auf eine Sache fokussiertes Leben außerhalb der Gesellschaft, er hatte in mir anscheinend jemanden gefunden, der ihn ernstnahm und nicht so verschroben war wie die Bahn-Freaks aus seinem Laden. Bisweilen besuchte ich ihn spontan, aber erst nach ein paar Monaten fiel mir auf, dass er Gespräche gegen zehn, elf Uhr abends immer abbrach und vorgab, er sei müde. Irgendwann fragte ich ihn, wie er denn das Büro finanzierte. Erst murmelte er ausweichend etwas von Spenden und geerbtem Geld. Dann sah er mich sehr ernst an und sagte: Was meinst du, was ich nachts mache? Ich zuckte die Achseln. Ich geh einbrechen, sagte Hans-Jürgen. Fahr mit den Rad in Villenviertel und dahin, wo neue Einfamilienhäuser stehen. Da kundschafte ich lohnende Ziele aus, und wenn die Bedingungen günstig sind, geh ich da rein und hole, was sich versilbern lässt.
Ich kann nicht sagen, dass mich dieses Geständnis sehr schockiert hätte. Es passte zum Gesamtbild dieses Kerls, der nach eigenem Bekunden Metzger gelernt hatte. Gegen den Willen seiner Mutter, einer Schulrektorin, die sich in der Nazizeit den Gegebenheiten angepasst hatte und immer im Amt geblieben war. In den letzten Monaten des Krieges hatte man ihn, er wird sieben oder acht Jahre gewesen sein, aus seiner Heimatstadt Wilhelmshaven evakuiert. Wie Tausende andere Kinder, die aus den Zielen der Bomber aufs Land in Sicherheit gebracht wurden.
Er sei immer schon widerständig gewesen, sagte Hans-Jürgen von sich. Also haute er ab aus dem Kinderheim in Thüringen, in das es ihn verschlagen hatte. Die Monate zwischen dem März 1945 und dem Januar 1946 verbrachte er fast durchgehend in den Zügen, die durch das zerstörte Deutschland fuhren. Schon damals, so erzählte er, habe er gestohlen, um nicht zu verhungern. Dann sei er nach Wilhelmshaven zurückgekehrt. Aber seine Mutter sei furchtbar böse auf ihn gewesen und habe ihn praktisch verstoßen. Er habe dann, gedeckt durch seinen Bruder, den er immer den Streber nannte, heimlich auf dem Dachboden gewohnt. Als er eine Lehrstelle als Schlachter in Hamburg gefunden hatte, brach die Mutter jeden Kontakt ab. Erst in den Jahren als ich mit ihm bekannt war, fanden sich Mutter und Sohn wieder.
Laufende Geschäfte
Wie er in den fünfziger, sechziger und den frühen siebziger Jahren gelebt hattem weiß ich nicht genau. Dass er ein paar Jahre sehr bürgerlich existiert habe mit Frau und Kindern und normaler Arbeit, davon hatte er kurz berichtet. Aber allem Anschein nach war er zum Zeitpunkt unserer Begegnung schon gut ein Dutzend Jahre als Einbrecher unterwegs.
Natürlich besaß er Waffen. Ja, Schußwaffen waren neben der Bahn und den Fahrrädern seine dritte Leidenschaft. Bei ihm habe ich zum ersten Mal im Leben einen Revolver in der Hand gehabt. Aber obwohl er mich mehrmals einlud, mit ihm irgendwo in den Wäldern schießen zu gehen, habe ich dabei nie mitgemacht. Auf seinen Einbruchstouren war er allerdings aus Prinzip unbewaffnet. Nicht jedoch, wenn er zum Herrmann ging, seinem Hehler.
Zwei oder drei Mal durfte ich ihn begleiten. Der Zwischenhändler für gestohlene Ware residierte in einem altmodisch eingerichteten Büro in einem Werkstatthof an der Adersstraße. Sein Nachbar war ein fröhlicher Autoschlosser, der während der Arbeit sang und manchmal ganz für sich allein laut lachte. Herrmann war zu jener Zeit sicher schon weit über siebzig, ein fetter Mann, der mit seinem quietschenden Bürosessel verwachsen schien und seine Besucher aus einem maskenhaft starren Gesicht musterte. Das, erklärte Hans-Jürgen, habe mit den Schlaganfällen zu tun, die der Hehler überlebt hatte, zwölf Stücke sollen es gewesen sein.
Natürlich wurden dort keine Gegenstände übergeben. Stattdessen beschrieb Hans-Jürgen die Beute. Von besonders wertvollen Schmuckstücken fertigte er Polaroids an, die er dem Herrmann vorlegte. Der legte während des Gesprächs eine Liste an und nannte zum Schluss einen Betrag. Es habe keinen Sinn zu feilschen, erklärte mein Freund mir, der jedes Mal nickte und dann ein Bündel Banknoten entgegennahm. Und wenn du dich mit der Kohle davonmachst, ohne die Sachen zu übergeben, fragte ich ganz naiv. Dann würde ich nicht mehr lange leben, gab Hans-Jürgen kurz zurück.
Auch das Verfahren der Übergabe erlebte ich ein paar Mal mit. Einmal kam mitten während einer Verkehrsclub-Sitzung eine finstere Type rein. Der sagte kein Wort, aber Hans-Jürgen stand sofort auf und ging mit dem Mann nach hinten. Dann kamen sie gemeinsam zurück, und der Bote hatte einen offensichtlich ziemlich schweren Rucksack auf dem Rücken. Ein anderes Mal bat er mich, ihn in den Wald bei Nievenheim zu fahren. Wir parkten am Sportplatz, und er ging voraus, nach drei-, vierhundert Meter bog er ab ins Dickicht. Vorher hatte er mir bedeutet, auf dem Weg zu warten. Was er denn nun gemacht habe, fragte ich. Die Dose mit dem Schmuck vergraben, antwortete er. Übrigens bunkerte er den größten Teil seiner Einnahmen in Schraubgläsern, die er im Wald, aber auch in der Strauchwüste hinterm Haus vergrub.
Am Ende kannte ich vier seiner Geldbunker. Einen öffnete ich auf seine Anweisung als er im Knast saß und sein Anwalt entlohnt werden musste. Als er sich zurückzog, alt und krank von diesem harten Leben, vererbte er mit eines dieser Depots. Er schickte mir per Post einen Zettel mit der genauen Lage, ohne aber den Ort zu nennen, an dem sich der entsprechende Wald befand. Das musste ich selbst herausfinden, was mir auch gelang. Tatsächlich fuhr ich hin und fand die Stelle, beschloss aber, den Schatz erst anzutasten, wenn ich Nachricht von Hans-Jürgens Tod bekäme.
Die Verhaftung
Eines Tages, wir kannten uns nun schon ein paar Jahre, klingelte vormittags das Telefon. Hans-Jürgen hatte eine ausgesprochen militärische Art zu telefonieren; so beendete er jedes Gespräch mit einem „Ende der Durchsage“, und ich war mir nie sicher, ob das nur ein stehender Witz sein sollte. Jedenfalls meldete er sich mit seinem Nachnamen und sagte: Bin im Polizrevier Garath. Kann um zwölf abgeholt werden. Bitte vorher den Hund füttern. Ende der Durchsage. Zu der Zeit hatte ich schon einen Schlüssel für den Laden. Also packte ich meinen dreijährigen Sohn ins Auto, fuhr zur Eintrachtstraße, um dem Dackel sein Fressen zu geben. Der wirkte ausgesprochen verstört und mir schien, dass sein Herrchen wohl schon viel länger als gewöhnlich nicht mehr dagewesen war.
Auf der Wache erfuhr ich dann, dass man ihn erwischt hatte wie er nachts um drei mit seinem olivgrauen Rad durchs Benrather Musikantenviertel gondelte, Rucksack und Packtaschen randvoll mit Schmuck und Silberzeug, dazu fast fünftausend Mark in bar. Man hatte ihn mitgenommen und ein Protokoll angefertigt, das zu unterschreiben er sich weigerte. Wie er auch keine Angaben zur Sache und zur Person machte. Ich bekam ihn nur deshalb frei, weil ich den Beamten seinen Namen und seine Adresse nannte.
Gut ein Jahr später fand die Verhandlung statt, und weil er in den sechziger Jahren schon mehrfach erwischt worden war, wurde die Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt. Im Gegenteil: Die Richterin bezeichnete ihn als Gewohnheitsverbrecher ohne Chance auf Resozialisierung. Nach der Verhandlung standen wir vor dem Gerichtsgebäude und ich weiß noch genau, was er sagte: Wenn die mich in die Klappse stecken wollen oder in Sicherungsverwahrung, dann lauf ich Amok und nehm ne ganze Menge Leute mit, bevor ich mir selbst den Kopf wegschieße.
Aber so kam es nicht. Er fuhr in der JVA Bielefeld ein, und wir unterhielten ein Jahr lang Briefkontakt. Besuche verbat er sich. Jedem Brief lag ein Zettel mit einer Zeichnung bei, deren Sinn ich nicht verstand. Erst nach seiner Entlassung erklärte er mir, dass es sich um Kassiber mit einer symbolischen Verschlüsselung gehandelt habe, die ich eigentlich an seinen Anwalt hätte weitergeben sollen. Aber anscheinend waren die Botschaften nicht so wichtig, dass sie vermisst wurden. Die Miete für den Laden hatte er vor dem Haftantritt noch für ein Jahr im voraus bezahlt. Einer der Verkehrsclub-Jungs hatte nun die Schlüsselgewalt, und die Arbeit dort ging auch in Abwesenheit von Hans-Jürgen ihren Gang.
Langer Abschied
Was genau ihm im Knast zugestoßen war, hat er nie erzählt. Jedenfalls kam er nach vierzehn Monaten als kranker und erschreckend alt gewordener Mann zurück. Man hatte einen schweren Herzfehler gefunden, und als ob die Gefangenschaft die Symptome erst geweckt hätte, benahm Hans-Jürgen sich auch wie ein kranker Mensch. Ich hatte ihn als kräftigen, lebenslustigen Kerl kennengelernt, mehr so der drahtige Typ, aber mit kräftigen Gliedmaßen. Jetzt zitterten seine Arme und Hände leicht und manchmal griff er sich an die Brust und holte tief Luft.
Einbrüche, sagte er, das wäre nun nicht mehr sein Geschäft. Er wolle nach Rumänien oder Nicaragua, um den Genossen – er benutzt tatsächlich dieses Wort – beim Aufbau von Verkehrsinfrastrukturen zu helfen. Und begann, Material zu sammeln. Ich nehme an, dass er systematisch seine Gelddepots auflöste und kaufen ging. Dann gab er auch den Laden auf und mietete ein Lager in der Nähe des Mintropplatzes an, wo er die Sachen in – wie er es nannte – seefesten Transportkisten lagerte. Darin fand sich Werkzeug jeder Art und Größe, Schrauben, Muttern, Ketten, Zahnräder, Ersatzteile für Waggons, aber auch zerlegte Fahrräder.
Er unternahm mehrere Fahrten mit dem Zug in den Osten. Er wolle sich in Bulgarien umsehen, in Rumänien und Ungarn sagte er. Jedes Mal kam er enttäuscht zurück und berichtete, dass die Menschen dort den Fortschritt ja gar nicht wollten, sondern dass da jeder nur an sich dächte. Also Nicaragua, sagte ich eines Tages. Ja, gab er zurück, und begann sich über das Land der Sandinista zu informieren. Zu der Zeit wohnte er in einem ausrangierten Eisenbahnwaggon, der auf dem Güterbahnhofsgelände am Unterbacher See stand. Im Sommer machte er einen einigermaßen fitten Eindruck. Aber im Herbst ging es bergab mit ihm. Als er Mitte November des Jahres 1987 eine Erkältung bekam, machte ich mir ernsthafte Sorgen. Inzwischen hatte er begonnen, weitere Kisten bei uns im Keller zu lagern. Meist fuhr er im Lieferwagen eines Kumpels vor, der dann die Sachen hinuntertrug. Er selbst war körperlich nicht mehr in der Lage, schwer zu tragen.
Dann verschwand er ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Etwas anderes hatte ich von ihm auch nicht erwartet. Mir war klar, dass ich Hans-Jürgen nie wiedersehen würde und dass er sich vermutlich nicht melden würde von seinem neuen Aufenthaltsort aus, wenn er überhaupt noch am Leben war. Umso größer war mein Erstaunen, als er fünfeinhalb Jahre später plötzlich anrief. Melde mich zurück, flüsterte er, bin beim Bruder, dem Streber. Habe jetzt ein eigenes Zimmer. Operationen gut überstanden. Nicht kaputt zu kriegen. Hans-Jürgen, sagte ich, wo bist du denn, verdammt. Ich hab noch deine Kisten im Keller. Kannst du verschenken, antwortete er. Wo wohnt denn dein Bruder? Wie heißt der? Kann man dich erreichen? Soll ich dich besuchen? Seine Reaktion kam nach einer Weile: Nicht nötig. Alles gut hier. Ende der Durchsage. Und hatte aufgelegt.
Das ließ mir keine Ruhe, und ich begann, nach seinem Bruder zu forschen, der wohl Willi hieß. Aber nach einem Willi, Wilhelm oder irgendeinem Vornamen zum weit verbreiteten Nachnamen Maurer in ganz Deutschland zu suchen, war in den Zeiten vor dem Internet ein aussichtsloses Unterfangen. Ich schrieb Hans-Jürgen ab und nach einigen Jahren hatte ich ihn fast vergessen. Bis dann 2007 ein Brief mit Trauerrand im Kasten lag, darin die Todesanzeige. Und ein handgeschriebener Zettel, den sein Bruder unterschrieben hatte. Darauf stand: Gibt es noch Hinterlassenschaften meines Bruders? Ich habe darauf nicht geantwortet. Aber sein Erbe auch da gelassen, wo er es vergraben hat.