Marianne und ich (7)

Keine Ahnung, ob es heute noch so ist, aber Marianne und ich wurden nicht nur dadurch immer mehr zu einem Paar, dass wir uns besser kennenlernten und einen gemeinsamen Haushalt führten, sondern dadurch, dass wir so etwas wie eine gemeinsame Kultur entwickelten. Also gemeinsame Abneigungen und Vorlieben entdeckten oder auch entwickelten, wenn der jeweils andere zu einem Thema keine Meinung hatte. Das wird Robby nicht verstehen, wie wichtig es ist, in einer Beziehung über einen gemeinsamen Vorrat an solchen Positionen zu haben. Nein, die Insassen der Beziehung müssen nicht zu allem dieselbe Meinung haben oder sich ständig einig sein. Aber es muss eine Art Wertesystem, einen Kodex geben, den beide ernstnehmen, einen gemeinsamen Glauben an etwas.

Wir hatten uns aufeinander zu bewegt. Ich aus meiner tendenziell spießigen Ecke in Richtung ihrer Hippie-Freiheit. Und sie von der völligen Beliebig- und Zwanglosigkeit zu klaren Haltungen. Man kann es am besten an den jeweiligen Vorlieben in Sachen Musik ablesen. Marianne hatte vorher nicht den geringsten Bezug zum Jazz. Ich dagegen war mit jeder Form Jazz großgeworden. Andererseits war mir die klassische Musik völlig fremd, während sie ja durch ihren Onkel, einen Kirchenorganisten von klein auf an Bach, Händel und die anderen Klassiker gewöhnt war. Das alles ergänzte sich so weit, dass wir einen gemeinsamen Geschmack aufbauten, der um die Begriffe „authentisch“ und „kräftig“ kreiste.

Dort hinein passten dann auch gemeinsame Entdeckungen: Tom Waits, Ian Dury, Police und was sonst noch so an Musik herauskam, die man nicht dem Mainstream zuordnen konnte. Die weit entfernen Pole in allen kulturellen Dingen sorgten aber auch für eine ungeheure Breite an Ergebnissen schöpferischen Tuns, für die wir uns begeistern konnte. Über viele Jahre gehörten Sätze wie „Hast du das schon gehört, gesehen, gelesen…“ zu unserem Repertoire. Und dann machte sie mich oder ich sie auf einen Maler, eine Autorin, einen Schauspieler oder eine Sängerin aufmerksam.
In einem alten Pappkoffer begleiteten uns deshalb beinahe dreihundert Musikkassetten. Wir hörten Soul in Italien, Singer-Songwriter in Österreich, Kraftwerk in Jugoslawien, Bach quer durch die Türkei, Reggae im Libanon und den Blues überall. Außerdem gab es nur wenige Meilen auf der Reise, die wir nicht mehr oder weniger bekifft hinter uns brachten. Jede Nacht vögelten wir zweimal bevor wir einschliefen.

Ich ahne, was er vorhat. Ständig will Robby wissen, ob und wie wir es oral oder anal getrieben haben, welche Spielchen wir gespielt haben, welches die extremste, wie er es nennt, Perversion war, die wir je angerichtet haben. Aber ich werden den Teufel tun, diesem Soziopathen mein Leben als Wichsvorlage zu präsentieren. Zumal ich mich gerade an unser Geschlechtsleben nur sehr verschwommen erinnere. Es war nicht der Kern unsere Beziehung, unserer Liebe. Es gehörte dazu und erfüllte verschiedene Aufgaben: wärmen, verbinden, entspannen, trösten, anregen, genießen. Und manchmal war es nur Routine täglich mindestens einmal Sex miteinander zu haben – auch und gerade auf unserer Reise. Sicher, wir liebten uns so oft es ging unter freiem Himmel, gern am Meer oder an Flüssen, Bächen und Seen. Nie gingen wir dabei bewusst das Risiko ein, erwischt zu werden. Auch weil wir wussten, dass uns in den meisten Ländern, die wir durchquerten, Knast eintragen würde.

Es ging um etwas anderes. Etwas, das Robby nie verstehen würde. Nämlich ein gemeinsames Ziel zu haben und es zu erreichen. Dass es sich in unserem Fall um einen Ort handelte, entsprach dem Zeitgeist. Tausende Menschen in unserem Alter reisten in den Siebzigerjahren durch die Welt auf der Suche nach einem Platz, der ihnen das Paradies sein sollte. Und weil es davon nur eine begrenzte Anzahl gibt, wurden solche Ziele als Geheimtipps gehandelt und verloren ihre Unschuld. Bis zur Grenze zwischen der Türkei und Syrien, ein paar Kilometer südlich von Antakya, begegneten wir ständig irgendwelchen VW-Bussen oder anderen Autos, die man zum Schlafen umgebaut hatte. Wir lernten unterwegs vor allem Pärchen kennen, aus Skandinavien vor allem, Großbritannien und den Niederlanden. Der Austausch mit ihnen war nicht sehr interessant. Jeder erzählte von seiner Reise, und die Geschichten ähnelten sich sehr.

Quer durch den Libanon trafen wir dann auf keinen einzigen Wagen mit europäischem Kennzeichen. Wo wir aber Station machten, um Proviant einzukaufen oder zu tanken, wurden wir mit großer Herzlichkeit und Gastfreundschaft behandelt. Wir gewöhnten uns allerdings schnell ab, den freundlichen Menschen unser Ziel zu verraten. In beiden Fällen, in denen wir das taten, verflog die gute Laune der Leute und schlug in Hass und Bedrohung um. Natürlich hatten wir uns keinerlei Gedanken darüber gemacht, ob und wie wir mit dem Transit nach Israel kommen könnten. Es stellte sich heraus, dass das im Jahre 1980 völlig unmöglich war. Schließlich gelang es uns, den Wagen in Tarablus zu einem ordentlichen Preis zu verkaufen. Wir investierten den Erlös in eine komplizierte Flugroute, die uns über Beirut nach Istanbul und von dort nach Amman führte.

Wir hatten nur noch unsere großen Rucksäcke, selbst die Schlafsäcke und die Musikkassetten hatten wir im Wohnbus zurückgelassen. Ein Schleuser, der fließend und fast akzentfrei Deutsch sprach, brachte uns für fünfzig amerikanische Dollar bei Hazeva über die Grenze. Wir waren im gelobten Land. Illegal, weil ohne Visa, mit leichtem Gepäck und insgesamt rund eintausendfünfhundert Dollar in der Kasse.

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