Unterwegs mit dem Örtzel

Damals als wir noch in der Nähe des F.-Parks wohnten, gab es in der Nachbarschaft einen kleinen, dicken Mann, der Tag für Tag auf den Straßen unterwegs war. Weil er mit lauter Stimme jeden ansprach, der ihm begegnete, konnte man ihn schon von Weitem hören. Zumal er mit hoher Kinderstimme redete und mit einer regionalen Färbung, die ich nie so ganz zuordnen konnte. Offensichtlich wusste der Kerl, den Alteingesessene den Örtzel nannten, viel über die Leute in seiner Gegend, denn er stellte bei den Begegnungen ziemlich spezifische Fragen nach ihrem Tun und Treiben. Dabei blieb er immer einigermaßen ernst, ich habe ihn in all den Jahren nie lachen hören oder grinsen sehen. Selbst Lächeln gehörte wohl nicht zu seiner Mimik. [Lesezeit ca. 4 min]

Der Örtzel wohnte auf derselben Straße wie wir, nur ein paar Häuser entfernt in einem relativ neuen Mietshaus. Eine Nachbarin meinte, dort wohne doch sowieso nur das, was sie Gesocks nannte. Tatsächlich brachte die Stadtverwaltung dort vor allem arme, kinderreiche Familien, gestrandete Flüchtlinge und auch chronisch Kranke unter, die sich noch halbwegs selbst helfen konnten. Anfangs war mir nicht klar, ob und an welcher Krankheit der Örtzel litt. Ständig war er in Bewegung. Man sah ihn frühmorgens, mittags und bis spät in die Nacht hinein mit kleinen Schritten seiner kurzen Beine im Viertel umher schweifen. Meistens trug er eine Stofftasche, oft auch mehrere gefüllte Plastiktüten.

Irgendwann im Sommer vermissten wir ihn. Mindestens zwei Wochen lang trafen wir den Örtzel nicht, und er fehlte uns. Dann tauchte er wieder auf und nahm seine Runden wieder auf. Allerdings musste er nun mit Hilfe einer Krücke gehen. Wir vermuteten, dass er sich einer Operation hatte unterziehen müssen, irgendetwas Orthopädisches. Und dann begann er sichtbar zu altern. Seine blonden Haare wurden in wenigen Monaten weißgrau, der ehemals prägnante Schädel nahm Kugelform an, die winzigen, hellen Augen verschwanden nun fast in ihren Höhlen, und man sah, dass ihm das Gehen schwerfiel. Nur seine Stimme, die veränderte sich nicht und hat sich bis heute nicht verändert.

Trotz seiner Einschränkung war er ständig unterwegs, musste aber zwischendurch Pausen einlegen. Und weil ihn alle Nachbarn ins Herz geschlossen hatten, fand sich in jedem Laden, in den Werkstätten der Handwerker und auch bei Menschen, die im Erdgeschoss wohnten, immer ein Stuhl, auf dem sich der Örtzel ausruhen konnte. Bot man ihm einen Kaffee an, ein anderes Getränk oder etwas zum Essen, lehnte er höflich aber bestimmt ab und bediente sich lieber an den Vorräten, die er in seiner Stofftasche mit sich trug. Vermutlich hatten ihm die Ärzte geraten, zwei Krücken zu benutzen, aber er beschränkte sich darauf, nur eine an seiner linken Seite zu führen, wobei er sie ohnehin nur nutzte, um sich ab und an im Stehen darauf abzustützen.

Auch seine Kleidung hatte sich über die Jahre nicht verändert. Immer trug er eine dunkle Jeans und darüber einen blauen Parka, dessen Reißverschluss er sommers wie winters immer geschlossen hielt. Bei Kälte wickelte er einen Wollschal um seinen kurzen Hals und setzte eine Baseball-Mütze auf, war es draußen mild, verzichtete er darauf. Ich könnte schwören, dass er zwar immer dasselbe Modell Sportschuhe trug, aber wohl in regelmäßigen Abständen ein neues anschaffte, denn abgetragen wirkten die blauen Dinger nie.

Wieder verschwand er für Wochen. Dann sah ich wieder auf unserer stillen Straße mit den großen Kastanienbäumen, die gerade in voller Blüte standen. Er saß im Rollstuhl, trieb den aber nicht auf übliche Weise mit den Händen an, sondern indem er sich mit den Füßen im schnellen Rhythmus am Boden abstieß. Wie immer rief er mir fragend zu, wo denn die Hunde seien? Wie immer antwortete ich, dass ich sie zuhause zurückgelassen hatte. Auf solche Antworten reagierte der Örtzel gewöhnlich nicht, sondern setzte seinen Weg fort. Eigentlich wäre ein gutes Ziel für böse Streiche und Hänseleien gedankenloser Kinder und Jugendliche gewesen, aber die Schüler der beiden Schulen im Viertel begegneten ihm mit großem Rezept, ohne auf seine gekrähten Bemerkungen und Fragen einzugehen.

Im späten Herbst fiel mir auf, dass er nun viel öfter anhielt, etwas aus dem Leinenbeutel, der nun an der Rückenlehne des Rollstuhls befestigt war, nahm und an den Mund führte. Ja, weißt du denn nicht, raunte mir eines Tages die junge Frau vom Fitnessstudio zu, dass der Örtzel das Saufen angefangen hat? Natürlich verbreitete sich dieses Gerücht schnell unter den Nachbarn, und wir alle begannen uns Sorgen zu machen. Tatsächlich geriet er nun mit seinem Rollstuhl beinahe jede Woche in eine gefährliche Situation, besonders, wenn er ohne nach links und rechts zu schauen die stark befahrene Durchgangsstraße überquerte. Ich kann nicht sagen, ob er unterwegs wirklich Schnaps trank, sichtbar betrunken habe ich ihn nie erlebt. Und ansonsten hatte sich sein Verhalten nicht geändert.

Über die Monate wurde aus dem normalen Faltrollstuhl ein massiveres Modell und schließlich einer mit Elektromotor. Wenn der Örtzel leicht erhöht in seinem E-Rollstuhl thront, erkennt man erst, wie sehr sich sein Körper über die Jahre verformt hat. Konnte er seine zweite Fahrhilfe noch eigenständig verlassen um einen der bereitgestellten Stühle für seine Pausen zu wechseln, bleibt er inzwischen darin sitzen. Und auch wenn er jetzt keine Verschnaufpausen mehr braucht, fährt er in alter Treue seine Stationen rund um den V.-Platz an. Wirklich unterhalten konnte man sich mit ihm nie, auch weil man nie ganz sicher sein konnte, ob er einem überhaupt zugehört hatte. Von sich selbst erzählte er nie etwas, seine Sätze richteten sich grundsätzlich nur direkt an sein Gegenüber, und allgemeine Themen griff er ebenfalls nie auf.

Nun wohnen wir schon seit über vier Jahren nicht mehr in der Stadt und bekommen nicht mit, ob es den Örtzel noch gibt und wie es ihm geht. Manchmal rechne ich nach, wie alt er wohl war als wir dorthin zogen, um herauszufinden, wie alt er inzwischen sein mag, aber komme zu keinem Ergebnis. Natürlich ist der kleine, dicke Mann im Elektrorollstuhl nicht der einzige Nachbar, den wir vermissen, aber wenn ich es recht bedenke, war er es, waren es seine Runden, die den Geist des Viertels rund um den Park und Platz ausmachten. Wird Zeit, mal wieder hinzufahren und nachzusehen, was der Örtzel macht.

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