Keiner von uns glaubte damals, dass Walter schwul sein könnte. Wir nahmen nur die besondere Beziehung zum gemeinsamen Klassenkamerad Dieter wahr. In jenen Jahren kannten wir keine Schwulen. Wir wussten nur so ungefähr, was Wörter wie schwul und homosexuell bedeuteten. Mein Vater sagte über einen Kollegen, der sei vom anderen Ufer, und grinste leicht verschämt. Onkel Eberhard sprach von warmen Brüdern, die mit der flachen Hand bügeln könnte. Mein großer Bruder erklärte mir seinerzeit, es handele sich um Männer, die nur auf Männer scharf seien – für mich vollkommen unvorstellbar. Wie könnte man sich nicht in diesen wunderbaren Wesen mit Rundungen und Mündern und Augen verknallen, zum Beispiel in Gisela, Monika, Christel oder Yvonne? Aber insgesamt war Schwulsein kein Thema für uns.
Dieter saß ganz hinten links an einem Einzeltisch, war sehr still und zurückhaltend. Ehrlich gesagt: Ich könnte sein Äußeres heute nach gut vierzig Jahren nicht genau beschreiben, und auf den Fotos unserer Klasse in der Oberstufenzeit kommt er nicht vor. Was ich noch weiß: Er war völlig humorlos, lachte nie über unsere pubertären Witze und schien Phänomene wie Schadenfreude nicht zu verstehen. Vermutlich war er mittelgroß, weder dick, noch dünn, eher mit halblangen dunkelblonden Haare und trug unauffällige Kleidung in gedeckten Farben. Ja, genau, er sah damals aus wie der geborene Beamte.
Walter war das exakte Gegenteil: laut, schrill, exaltiert, witzig, immer modisch gekleidet, ein Trendsetter und Anführer. Er stieß mitten im Schuljahr zu uns, und es hieß, seine Eltern seien prominente Filmschauspieler. Ich erinnere mich noch genau an seinen ersten Auftritt. Wir hatten Englisch bei Herrn Ohrnstedt, dem größten Langweiler unter den Lehrern, immer hin einer, der nett zu uns war und nie auch nur eine Ohrfeige verteilte. Der Direx persönlich brachte Walter in die Klasse und sagt: Das ist euer neuer Klassenkamerad. Er hat die letzten Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt und wird bis zum Abitur, so er es denn erlangt, an unserer Schule bleiben. Seid nett zu Walter. Da stand ein Typ in violetter Samthose mit gut vierzig Zentimetern Schlag, dazu ein knappes, grellbuntes Batik-T-Shirt, jede Menge Armreifen und Kettchen und eine Sonnenbrille mit blauen Gläser wie John Lennon sie manchmal trug. Und seine Frisur! Mehr als schulterlanges, hellblondes Haar, das über der Stirn eine stramme Tolle bildete sowie die Andeutung eines Schnurrbarts.
Vermutlich waren vom ersten Moment an alle verliebt in Walter, der sich selbst P.H. nannte und dies englisch aussprach: Pi-Ätsch. Ich war es, der ihn gleich in der ersten Pause darauf ansprach, weil ich wissen wollte, wofür die Buchstaben standen. P für Peter, sagte er, und H für Handke. Peter Handke, schon mal gehört? Ich nickte. Nein, Quatsch, mein zweiter Vorname ist Pius, wie der vorletzte Papst, und das H steht für meinen Nachnamen. Ah, ja, sagte ich lahm. Und die bist dann R.W.F., lachte er, Rainer Werner Fassbinder. Und von diesem Moment an hießen wir an der Schule nur noch Handke und Fassbinder. Lange dachte ich, er würde nur mir seine Geheimnisse verraten. Zum Beispiel, dass er unter falschem Nachnamen an der Schule gemeldet sei, weil seine Eltern derart prominent seien, dass niemand, schon gar nicht die Presse wissen sollte, der Sohn der großen X und des noch größeren Y lebe in der Stadt.
Aber schon zum Frühjahr hin sah man ihn in den Pausen und vor allem außerhalb der Schule fast nur noch zusammen mit Dieter. Gestatten, stellte er den vor, mein Famulus. Dass dieses schöne, alte Wort so viel wie Diener oder Knecht bedeutete, wusste kaum einer von uns. Ich hatte es nachgeschlagen und wusste Bescheid. Wir Klassenkameraden, die noch keine Ehrenrunde gedreht hatten, war damals sechzehn oder gerade siebzehn, Handke war mindestens ein Jahr älter als der ehemalige Klassenälteste, der grobe Herwig, der eher als Metzgerlehrling getaugt hätte denn als Gymnasiast. Natürlich hatte Herwig auch Walter eine Tracht Prügel angedroht, aber der verwickelte ihn in eine Diskussion, die unseren Oberschläger derart verwirrte, dass er von seinem Vorhaben abließ.
Walter lebte allein in einer herrlichen Terrassenwohnung am Park, betreut von einer Haushälterin, die das Appartement sauber hielt und für ihn kochte und die Wäsche wusch. Dorthin eingeladen zu werden, war ein Privileg, dass er sparsam verteilte. Nur Dieter und ich verbrachten regelmäßig die Nachmittage und Abende in seiner immer sturmfreien Bude. Wobei aber meistens drei, vier oder fünf Mädchen in unserem Alter anwesend waren. Die kannte unser Superstar aus dem Suzy’s, dem verrücktesten und angesagtesten Club der Stadt, in den man tatsächlich erst mit achtzehn eingelassen wurde. Man trank Cola und rauchte ununterbrochen, und Walter hatte alle angesagten Platten. Man lungerte auf den hochmodernen Möbeln oder dem schneeweißen Teppich herum, unterhielt sich oder hörte einfach nur Musik. Manchmal nahm unser Gastgeber ein Mädchen an der Hand und führte sie in sein Schlafzimmer.
Je öfter ich solche Tage, besonders an Wochenende, wenn Frau Schäfer nicht für Walter sorgte, miterlebte, desto klarer wurde mir, weshalb er Dieter seinen Famulus nannte. Denn er ließ sich von ihm bedienen. Immer freundlich und charmant äußerte er seine Wünsche, und Dieter erfüllte sie ihm. Haben wir noch von diesem wunderbaren Apfelkuchen, mein bester Famulus? Und schon rauschte Dieter in die Küche und kam mit dem Gewünschten zurück. Heute weiß ich, dass es auch zu seinen Aufgaben zählte, für Walter die Hausaufgaben zu übernehmen, und dass er ihn irgendwie durchs Abi gebracht hat. Damals wunderte ich mich nur, dass Dieter nie ging, bevor die anderen Gäste die Wohnung verlassen hatten. Natürlich kam ich nicht auf den Gedanken, er könne bei Walter übernachten, und wenn doch, dass dabei irgendetwas passieren könnte.
Natürlich kiffte Walter, und mehrere Trips hatte er im Sommer 1967 drüben in Kalifornien auch eingeworfen. Haltet euch von der Nadel fern, predigte er uns, während ein praller Joint herumging. Schriftsteller wolle er werden, sagte er oft, so wie Peter Handke. Er habe sich jetzt eine elektrische Schreibmaschine angeschafft und bereite sich auf seinen ersten Roman vor. Angesichts seiner Fähigkeiten im Deutschunterricht mochte ich an diesen Berufswunsch nicht recht glauben. Aber dass er sich mal eben eine IBM Kugelkopf kaufen konnte, das machte mich neidisch. Tatsächlich verfügte Walter über ein beinahe unbegrenztes Taschengeld und hatte sogar eine Diners-Club-Kreditkarte, die er benutzte, wenn er seinen engsten Freundeskreis in ein Restaurant zum Essen einlud.
Wer aber so nah an ihm dran war wie ich, der erlebte auch seine schlechten Momente. Er sagte dann, er habe den Blues, er könne kein Licht mehr vertragen. Er wollte dann nichts essen und trinken und ließ Dieter nur noch ganz bestimmte Platten auflegen. Mädchen hatte an solchen Tagen nichts im Appartement zu suchen, und er bestand darauf, dass der Fernseher ununterbrochen, aber ohne Ton zu laufen habe. Manchmal ließ er sich dann bei zugezogenen Vorhängen im Halbdunkeln von seinem Diener die Schultern massieren oder bat ihn, ein Bad einlaufen zu lassen, in dem er dann stundenlang lag und laut aus dem Stück Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats vorlas. War es ganz besonders schlimm, flüsterte Dieter mir zu: Geh jetzt besser, ich kümmere mich um ihn.
Die Terrassenwohnung war nach der Abi-Feier ziemlich renovierungsbedürftig. Es werden in der Spitze wohl um die zweihundert Leute gewesen sein, die tranken und lachten und rauchten und tanzten in den Räumen mit der exquisiten Möblierung. Ort und Anlass hatten sich in den angesagten Örtlichkeiten der Stadt herumgesprochen und auch, wer Gastgeber war. Die Haustür stand offen, die Wohnungstür auch, und jeder konnte kommen und gehen wie und wann er wollte. Der Nachschub mit Bier, Wein, Haschisch und Marihuana lief reibungslos, und unser Walter stand ununterbrochen im Mittelpunkt. Später erzählte man sich in der Szene, in dieser Nacht seien zwei Dutzende Beziehungen auseinandergegangen und gut zwanzig neue Pärchen seien entstanden. Ja, angeblich sollen sogar drei Babys gezeugt worden sein. Es gab keine Todesopfer zu beklagen, aber gegen zwei Uhr rief jemand den Krankenwagen, weil es drei Frauen aufgrund von Drogen ziemlich schlecht ging. Die Nachbarn beschwerten sich nicht über den Lärm, sie feierten ja alle mit.
Es war die Nacht, in der Gisela und ich zusammenkamen, als unsere Liebe begann, die – wie ihr wisst – bis heute andauernd, jetzt wo wir die Silberhochzeit schon lange hinter uns haben und die beiden Söhne auch schon verheiratet sind und Kinder haben. Und weil wir, befeuert durch die verschiedenen Substanzen, ganz verrückt aufeinander waren und ich wusste, wo der Schlüssel zum Gästezimmer versteckt war, bekamen wir nicht mit, wie sich die Katastrophe anbahnte. Später erfuhren wir, dass Walter nach und nach immer hysterischer geworden sei, kaum noch stillstehen oder schweigen konnte, dass er ständig in Bewegung war und ununterbrochen redete, dass er tanzte, ohne jeden Bezug zur Musik, dass er plötzlich anfing, sich die Kleider vom Leib zu reißen, dass er nackt auf die Terrasse stürzte und Anstalten machte, auf die Brüstung zu steigen und dass es Dieter gelang, ihn einzufangen, ihn in sein Zimmer zu bringen und wieder zu beruhigen.
Unsere Klasse zerstreute sich in alle Winde, aber Walter, Dieter und ich blieben in der Stadt. Etwa einmal im Monat liefen wir uns über den Weg, und die beiden schienen unzertrennlich geworden zu sein. Und dass, obwohl Dieter eine eigene Wohnung weit draußen am Rand der Nachbarstadt gefunden hatte und eine Ausbildung als Masseur begonnen hatte. Außerdem hatte er den Führerschein gemacht und sich einen alten Käfer angeschafft. P.H., der ehemalige Handke, lebte weiter in der Luxuswohnung und tat nichts. Meistens lief er in sehr femininer Kleidung herum und hatte die Augen geschminkt. Dann wieder ganz in schwarzem Leder mit einer dunklen Fliegerbrille. Manchmal, berichtete Dieter, breche Walter zusammen und bliebe mehrere Tage im Bett. Dann besuche er ihn täglich und sorge dafür, dass er wenigstens etwas isst. Weil sein Freund sich außerstande sah, eine Führerscheinprüfung zu absolvieren, wurde Dieter sein Chauffeur. Und weil Walter den VW hasste, schaffte er einen Triumph TR6 an und überließ ihn Dieter unter der Bedingung, ihn jederzeit zu fahren, wann und wohin er wolle.
Wir alle wissen nicht genau, was sich in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli abgespielt hat. Vermutlich bin ich der einzige, dem Dieter davon erzählt hat kurz bevor er die Stadt verließ und für immer nach Kanada ging. Wie immer blieb Walters Freund und Helfer dabei recht einsilbig. P.H., wie er ihn konsequent nannte, habe gegen halb zwei bei ihm angerufen und mit ruhiger Stimme gesagt, er sitze in der Badewanne, es ginge ihm nicht gut, er habe einen laufenden Föhn in der Hand, den er gleich ins Wasser werfen würde; so würde er sterben, und er – Dieter – könne nichts dagegen tun. Dann habe er gelacht und aufgelegt. Dieter sei sofort ins Auto gestiegen und losgerast. Auf dem Zubringer sei er ins Schleudern geraten, und das Kabrio sei gegen einen Laternenmast geknallt. Ihm sei nichts passiert, also sei er aus dem Wrack geklettert und losgerannt, die ganze Strecke bis zum Park. Er habe aufgeschlossen, es ei dunkel gewesen in der Wohnung. Er habe eine Kerze gefunden und angezündet und sei ins Bad gegangen. Da habe Walter in einem roten Pailettenkleid mit einem Lächeln in der Wanne gelegen. Er habe gar nicht erst einen Krankenwagen gerufen, sondern gleich die Polizei.