Gleise

„Steh endlich auf!“ Neven liegt im Schotterbett auf dem Bauch, ein Ohr an der Schiene. „Hier fährt seit Jahren kein Zug mehr,“ sagt Eva. Im verwaisten Hafen bläst eine Sirene zur Mittagspause. Keine Arbeiter, die ihr folgen könnten. „Sie kommen, sie kommen,“ murmelt Neven. Sie kann es nicht hören, weiß aber, dass er diesen Satz immer zweimal nacheinander sagt. Der lange, dünne Kerl im dunkelblauen Overall. Eine Wolke zieht an der Sonne vorbei und wirft einen Schattenkegel auf das Paar. Sie liebt ihn sehr. Er scheint sie auch sehr zu lieben, aber genau weiß sie es nicht, weil er darüber nie mit ihr spricht. Überhaupt redet er eigentlich nur von der Vergangenheit und dass alles in der Zukunft wiederkehren wird. Manche sagen, Neven sei geistig nicht gesund. Eva weiß es besser.

Wenn sie zusammen im Bett liegen und sich lieben, dann ist es wie bei jedem anderen Paar. Danach findet er ein paar Minuten Frieden. Bis er aufsteht und auf die Veranda hinaustritt, um sich im Holzbottich zu reinigen. Meistens bringt sie ihm eine Zigarette und ein Bier oder ein Glas Wein und setzt sich auf die Bank an der Hauswand. „Warum müssen wir hier wohnen,“ fragt sie manchmal. Dann wirft er den Kopf in den Nacken und stößt einen merkwürdigen Laut aus: „Weil wir hier schon immer wohnen und hier immer wohnen werden!“ Es spricht einiges dafür, denn das Holzhaus ist geräumig und ganz gut in Schuss. Dafür haben sie beide mit den eigenen Händen gesorgt. Weil es niemandem gehört, zahlen sie keine Miete. Gas, Wasser und Strom beziehen sie illegal aus einer aufgelassenen Lagerhalle ein paar Meter hinter ihrem Gartenzaun.

Zweimal in der Woche radelt Neven die achtzehn Kilometer in die Stadt, um bei einem Job, von dem er nie berichtet, ein bisschen Geld zu verdienen. Am zweiten Tag bringt er dann Sachen mit, die es nur im Zentrum gibt. Ansonsten leben sie weitgehend von den Erträgen ihres Gartens und von den Hühnern. Eva fertigt Perlenarmbänder an, die aussehen, als stammten sie von irgendwelchen Indianern, und verkauft sie im Sommer auf dem Trödelmarkt am anderen Flussufer. Sie haben einen schlanken Aluminiumkahn gefunden und einen Außenbordmotor. Neven kann so etwas reparieren. Damit halten sie den Kontakt zur anderen Seite.

Er hockt nun mit angezogenen Beinen am Rand der Gleise und weint, das Gesicht ganz in den Händen vergraben. Gleich wird er aufstehen, sie bei der Hand nehmen, und dann wandern sie die Schienen entlang bis ans Ende des letzten Piers, da wo das halbversunkene Tankschiff liegt und die Wellen träge an die Kaimauer schlagen. Sie werden sich nebeneinander an die Kante setzen und die Beine baumeln lassen. Ein paar übereifrige Möwen werden vorbeischauen, und im Wasser werden Luftblasen aufsteigen aus den Wracks. Neven wird sich beruhigen und lächeln. Die Wolken werden schnell an ihnen vorbeifliegen. Und dann wird er sagen: „Vielleicht besser, dass sie nicht kommen.“

Schreibe einen Kommentar